physiopraxis 2017; 15(05): 48-49
DOI: 10.1055/s-0043-101778
Therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Modified Spinal Function Sort (M-SFS) – Selbstwirksam?

Svenja Janssen
,
Maurizio Trippolini

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Publication History

Publication Date:
19 May 2017 (online)

 

Wie es um die Selbstwirksamkeit von Patienten mit muskuloskeletalen Beschwerden steht, lässt sich mit dem Spinal Function Sort (SFS) herausfinden, einem bebilderten Fragenkatalog. Nun liegt eine modifizierte Version mit aktualisierten Abbildungen und weniger Fragen vor. Die kürzlich eingereichte Studie, welche die Gütekriterien des Assessments untersucht hat, scheint vielversprechend zu sein.


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Svenja Janssen

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Svenja Janssen ist Physiotherapeutin, MSc, und arbeitet in der arbeitsorientierten Rehabilitation in der Rehaklinik Bellikon (Schweiz).

Maurizio Trippolini

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Maurizio Trippolini, PhD, ist Physiotherapeut und Rehaforscher. Er arbeitet zurzeit in Boston, USA. Physiotherapeuten, Studierende und Forscher, die den M-SFS bei ihrer Arbeit einsetzen möchten, können sich an ihn wenden: maurizio@trippolini.ch.

Oft schätzen Patienten ihr Leistungsniveau niedriger ein als der Therapeut, sodass es schwerfällt, sie zur Selbstständigkeit zu ermutigen und zu befähigen [1]. In diesem Zusammenhang fällt oft der Begriff Selbstwirksamkeit („self-efficacy“). Der Psychologe Albert Bandura beschrieb ihn wie folgt [2]: „people’s beliefs about their capabilities to produce designated levels of performance that exercise influence over events that affect their lives“. Bei der Selbstwirksamkeit schätzen Menschen somit ein, ob ihre Kompetenzen ausreichen, um die alltäglichen Aufgaben und Anforderungen zu bewältigen. Eine verbesserte Einschätzung der Selbstwirksamkeit im Rahmen einer physiotherapeutischen Behandlung gilt als zentraler Indikator für eine erfolgreiche Rehabilitation bei Patienten mit chronischen muskuloskeletalen Schmerzen [3].

Im Vergleich zum SFS fragt die modifizierte Version M-SFS auch statische Haltungen ab.

Beurteilt ein Patient seine Kompetenzen, fließen immer auch psychosoziale Faktoren ein. Dies spielt vor allem bei der Rückkehr zum Arbeitsplatz eine Rolle [4]. Es ist deshalb sinnvoll, dass der Therapeut diese Faktoren erfasst und in der Behandlung berücksichtigt.

Untersucht alltagsrelevante Funktionen von Wirbelsäule und Extremitäten

Um bei Personen mit muskuloskeletalen Beschwerden die Selbstwirksamkeit zu erfassen, entwickelte der Rehabilitationspsychologe Leonard Matheson in den 1980er Jahren den Spinal Function Sort (SFS), ein Fragebogen mit 50 Bildern, bei denen die Patienten einschätzen, wie gut sie eine Aktivität durchführen können [5]. Der SFS, im deutschsprachigen Raum besser unter dem Namen „PACT“ (Performance Assessment and Capacity Testing) bekannt, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und an Patienten mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund validiert [6–8]. Der SFS ist hilfreich bei der (arbeitsorientierten) Rehabilitation, der Evaluation der Funktionellen Leistungsfähigkeit und der Berufsberatung [9]. Eine Studie konnte beispielsweise zeigen, dass es sich bei Patienten mit chronischen Rückenbeschwerden anhand des Fragebogens gut vorhersagen lässt, ob sie wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren [6]. Allerdings bestand der Bedarf, das Assessment hinsichtlich Ausführlichkeit, Fragen und Bilder weiterzuentwickeln [6–8]. Daher hat ein schweizerisches Forscherteam 2015 eine modifizierte Version des SFS, den Modified Spinal Function Sort (M-SFS), publiziert [10]. Sie haben alle Bilder den aktuellen Alltagsanforderungen in Beruf und Freizeit entsprechend neu zeichnen lassen und den Umfang auf 20 Fragen reduziert. Daher erfordert der M-SFS deutlich weniger Zeit als der SFS, in der Regel braucht man rund fünf Minuten.

Der M-SFS beschäftigt sich mit alltagsrelevanten Funktionen der Wirbelsäule und der Extremitäten, zum Beispiel das Heben von fünf Kilogramm über Kopfhöhe oder das Ein- und Ausräumen einer Geschirrspülmaschine ([ABB. 1] und [2]). Im Gegensatz zum SFS fragt die modifizierte Version auch statische Haltungen ab, zum Beispiel längere Zeit gehen oder sitzend arbeiten ([ABB. 3]).


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Hilft weiter, wenn Belastungssteigerung schwerfällt

Der M-SFS sollte zum Einsatz kommen, wenn der Therapeut das Gefühl hat, dass er nicht vom gleichen Belastungsniveau ausgeht wie der Patient („ANWENDUNGSBEISPIELE“). Dieser geht dann den bebilderten Fragenkatalog durch und bewertet jede der 20 Alltagsaktivitäten auf einer Ordinalskala von „möglich“ (vier Punkte) bis „unmöglich“ (null Punkte). Das bestmögliche Ergebnis entspricht demnach 80 Punkten. Die Items, bei denen der Patient die wenigsten Punkte vergeben hat, geben dem Therapeuten Hinweise, worauf er sich in der Behandlung konzentrieren sollte. Bestehen große Diskrepanzen zwischen der Einschätzung des Patienten und des Therapeuten, kann eine Yellow Flag (Depressionen, Katastrophisieren) vorliegen, welcher der Therapeut auf den Grund gehen sollte [11]. Am Ende der Therapie lohnt es sich, dass der Patient den M-SFS noch einmal ausfüllt, um den Behandlungserfolg zu überprüfen und bestenfalls sichtbar zu machen.


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Die Validität und Zuverlässigkeit scheinen gut zu sein

Mithilfe der Abbildungen können auch Patienten mit geringen Lese- und Sprachkompetenzen den Fragebogen zuverlässig beantworten [12]. Eine Studie, welche die Validität und Zuverlässigkeit des M-SFS untersucht hat, ist zur Publikation eingereicht [13]. Die Ergebnisse lassen auf gute Gütekriterien schließen. Ob das Assessment eine gute Voraussagekraft in Bezug auf die Rückkehr an den Arbeitsplatz hat, ist aktuell noch unklar. Dafür bedarf es weiterer Studien.

Der M-SFS ist auf Deutsch, Englisch, Italienisch und Französisch erhältlich (AUTOREN). Weitere Übersetzungen sollen folgen.

Svenja Janssen und Maurizio Trippolini

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ABB. 1 5 kg auf Überkopfhöhe heben
Abb.: Copyright Verein IG Ergonomie SAR 2017
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ABB. 2 Geschirrspülmaschine ein- oder ausräumen
Abb.: Copyright Verein IG Ergonomie SAR 2017
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ABB. 3 Langes Sitzen
Abb.: Copyright Verein IG Ergonomie SAR 2017
Anwendungsbeispiele

Patient nach Humerusschaftfraktur

Herr Winter[*] kommt nach einer vollständig verheilten Humerusschaftfraktur wegen Schulterschmerzen auf der betroffenen Seite zur Physiotherapie. Der Patient ist von Beruf Maurer und muss bei seiner Arbeit regelmäßig Gewichte bis 20 Kilogramm heben und tragen. Bei der physiotherapeutischen Untersuchung zeigen sich außer gewissen muskulären Insuffizienzen keine funktionellen Auffälligkeiten im Behandlungsgebiet. Das Ziel der Behandlung wäre daher, die Schulter- und Schultergürtelmuskulatur funktionell zu kräftigen. Da Herr Winter jedoch über andauernde Schmerzen klagt, gibt ihm die Therapeutin den M-SFS zum Ausfüllen. Hierbei zeigt sich, dass der Patient sich nicht in der Lage sieht, zehn Kilogramm zu heben. Fragen, bei denen Hebe-Aktivitäten abgebildet sind, schätzt er als „nicht möglich“ ein. Therapeutin und Patient beschließen, es vor Ort zu testen. Es stellt sich heraus, dass der Patient mit einer veränderten Hebe-Technik Lasten heben kann. So integriert die Therapeutin passende Übungen in den Trainingsplan. Trotz bestehender Beschwerden verbessern sich das M-SFS-Ergebnis und die Werte der funktionellen Tests. Zudem stimmen beide Ergebnisse zunehmend überein, was in diesem Fall für einen Genesungsfortschritt spricht. Der Patient hat erfahren, dass seine Beschwerden teils mit der reduzierten Belastbarkeit zusammenhängen und kein Zeichen für eine erneute Verletzung sind. Seine Selbstwirksamkeit ist erhöht, das Katastrophisieren verringert.

Patientin mit Nackenschmerzen

Frau Gerber[*] arbeitet im Schichtdienst in der Verpackungsindustrie als Qualitätsprüferin. Sie kommt wegen anhaltender Nackenschmerzen in die Physiotherapie. Der Therapeut findet einen Hartspann in der Nacken- und Schultermuskulatur, aber ansonsten keine Auffälligkeiten. Die Patientin gibt an, dass sie im Alltag alles selbstständig heben und tragen kann. In der Anamnese kann die Patientin keine genauen Angaben zu möglichen Auslösern und den funktionellen Einschränkungen machen. Der Physiotherapeut lässt Frau Gerber den M-SFS ausfüllen. Es zeigt sich, dass sie die Fragen mit statischen Alltagsaktivitäten wie „längeres Stehen“ oder „langes Sitzen“ als „stark eingeschränkt“ einschätzt. Mit 49 Punkten liegt die Patientin weit unter dem maximal möglichen Ergebnis von 80 Punkten. Der Therapeut entscheidet, die auffälligen Fragen mit der Patientin zu besprechen und die konkreten Aktivitäten zu testen. Es zeigt sich, dass sie auf einem anders eingestellten Stuhl weit weniger Beschwerden hat und länger sitzen kann. Frau Gerber übernimmt diese Anpassungen in ihrem Berufsalltag und erhält für ihr Heimübungsprogramm statische Übungen. Bei Therapieende erreicht sie 58 Punkte im M-SFS und schätzt sich in drei von fünf Fragen zu statischen Alltagaktivitäten als deutlich weniger eingeschränkt ein.


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*Name von der Redaktion geändert




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ABB. 1 5 kg auf Überkopfhöhe heben
Abb.: Copyright Verein IG Ergonomie SAR 2017
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ABB. 2 Geschirrspülmaschine ein- oder ausräumen
Abb.: Copyright Verein IG Ergonomie SAR 2017
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ABB. 3 Langes Sitzen
Abb.: Copyright Verein IG Ergonomie SAR 2017