physiopraxis 2017; 15(05): 34-38
DOI: 10.1055/s-0043-101773
Therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Das Zehn-Säulen-Programm in der Atemtherapie – Für einen langen Atem

Helen Saemann

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Publikationsdatum:
19. Mai 2017 (online)

 

Um einem Patienten zu vermitteln, dass Atemtherapie mehr als nur atmen ist, hat die Physiotherapeutin Helen Saemann das Zehn-Säulen-Programm entwickelt. Es gibt der Therapie Struktur und verdeutlicht allen, die an der Therapie beteiligt sind, dass mehrere Pfeiler nötig sind, um das Ziel des Patienten zu erreichen.


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Helen Saemann

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Helen Saemann ist Physiotherapeutin (Schwerpunkt Atemtherapie und Urogenitale Rehabilitation) und Nikotinberaterin am Kantonsspital Baselland in Liestal. Sie arbeitet zudem als Dozentin für Atemtherapie an der Berner Fachhochschule, Standorte Basel und Bern. Seit 27 Jahren ist sie CF-Lehrtherapeutin des Mukoviszidose e. V. Bonn sowie Autorin und Mitherausgeberin mehrerer Publikationen über die physiotherapeutische Behandlung bei Cystischer Fibrose (CF).

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Das Zehn-Säulen-Programm in der Atemtherapie von Helen Saemann
Abb.: S. Schaaf

Den bestmöglichen pulmonalen Zustand erreichen und erhalten – dies sind die übergeordneten Behandlungsziele in der Atemtherapie, welche die medikamentöse Behandlung ergänzt. Prinzipiell möchte man mit Physiotherapie das Leben von Patienten mit chronischen Atemwegserkrankungen bei guter Lebensqualität verlängern. Da es hierfür eines umfassenden atemphysiotherapeutischen Therapiekonzeptes bedarf, habe ich das Zehn-Säulen-Programm entwickelt. Danach arbeiten wir im Kantonsspital Baselland, Standort Liestal, in der stationären Atemtherapie und in der ambulanten pulmonalen Rehabilitation nun seit zwölf Jahren. Es umfasst Befund und Informationen, Atemtechniken, Entspannungstechniken, Atemnotmanagement, Sekretmobilisation, Diffusion/Perfusion, Brustkorbmobilisation, Dehnung und Koordination, Kraft- und Ausdauertraining sowie Selbstmanagement.

Das Programm hat sich im Therapiealltag bewährt, und wir wenden es bei verschiedenen Erkrankungen an, zum Beispiel chronischer Bronchitis, Asthma bronchiale, Lungenentzündungen, COPD, Lungenfibrosen sowie nach aufwendigen Lungenoperationen.

Wir stellen jedem Patienten das gesamte Programm vor, gewichten dann aber die zehn Säulen entsprechend dem jeweiligen Krankheitsbild, um sie zu einem individuellen Therapie- und Trainingsprogramm zusammenzustellen. Denn je nach Diagnose, Schweregrad der Erkrankung und aktuellem Befund stehen andere Schwerpunkte im Vordergrund. Bei einem Patienten mit Mukoviszidose spielt beispielsweise Säule V eine wichtigere Rolle als bei einem Patienten mit Asthma bronchiale.

Je nach Diagnose, Befund und Schweregrad der Erkrankung gewichten wir die zehn Säulen unterschiedlich.

Mit dem Zehn-Säulen-Programm können wir dem Patienten sein Programm schnell und prägnant erläutern. Uns Therapeuten hilft es, den Überblick zu behalten. Neben der Atmung geht das Modell auch auf die Haltung ein, die Form des Brustkorbs, die körperliche Belastbarkeit und die Entspannungsfähigkeit. Die durch die Erkrankung erhöhte Atemarbeit wirkt sich negativ auf das muskuloskeletale System aus, was lang anhaltende Schmerzen nach sich ziehen kann. Sie kommen zur Atemnot und Dekonditionierung hinzu, schränken die Lebensqualität des Patienten weiter ein und können zu Niedergeschlagenheit bis hin zu einer Depression führen.

I Befund und Informationen

Hauptschwerpunkt in „Befund und Informationen“ ist die genaue Befundanalyse (Clinical Reasoning). Zudem gehört zu dieser Säule auch, dass wir den Patienten verständlich über das Krankheitsbild aufklären und den Sinn des Therapieprogrammes vermitteln. Ebenso informieren wir ihn in Kürze darüber, dass ein Rauchstopp oder eine Reduktion des Tabakkonsums bei Lungenerkrankungen die Fitness erheblich steigern kann. Anschließend verweisen wir ihn an geeignete Beratungsstellen.

Zusammen mit dem Patienten definieren wir sein persönliches Alltagsziel, zum Beispiel die kleine Steigung auf dem Waldspaziergang wieder ohne Atemnot und Angstzustände bewältigen zu können. Dies kann sich der Patient im Säulendach notieren (S. 38), um zu verdeutlichen, dass sein Ziel von mehreren Säulen getragen wird.


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II IV VI Atemtechniken, Atemnotmanagement und Diffusion/Perfusion

Die Säulen Atemtechniken, Atemnotmanagement und Diffusion/Perfusion (Säulen II, IV, VI) leuchten den Patienten ein, daher müssen wir sie für die Maßnahmen meist nicht motivieren. Die Säule Atemtechniken umfasst alle Ein- und Ausatemtechniken, zum Beispiel die Lippenbremse, und hängt eng mit der Säule Sekretmobilisation zusammen.

Die Säule Atemnotmanagement beinhaltet die für den Patienten beste Kombination aus einer atemerleichternden Stellung, zum Beispiel den Kutschersitz, und einer Entspannungstechnik zur allgemeinen Beruhigung sowie einer Tiefenatmung mit einer Stenose für die Ausatmung, beispielsweise die Lippenbremse oder ein Röhrchen. Hat der Patient ein Notfallspray wie Ventolin verordnet bekommen, zeigen wir ihm zusätzlich die Inhalation unter Atemnotbedingungen. Bis er die Wirkung des Sprays erstmals spürt, dauert es etwa fünf bis sieben Minuten. Diese Zeit muss der Patient mit einer Entspannungstechnik und ruhiger Atmung überbrücken können.

Ein gelöster Atemfluss kann sich nur einstellen, wenn sich der Mensch in bestmöglicher „psychophysischer Gelöstheit“ befindet.

Bei der Säule Diffusion/Perfusion spielen unter anderem die Lagerungen und Umlagerungen eine große Rolle. Wie gut der zu behandelnde Lungenabschnitt belüftet und durchblutet wird, hängt von der korrekten Lagerung ab. Eine entspannte Position, abhängig vom Auskultationsbefund, ist in jeder unserer Therapiestunden das erste Behandlungsziel.

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Abb.: S. Schaaf

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III Entspannungstechniken

Die Entspannung kommt in der Praxis aus Zeitdruck und Unkenntnis oft zu kurz. Dabei ist diese Säule für Patienten mit Atemwegserkrankungen zentral. Um komplexe Atemtechniken wie die Autogene Drainage zu erlernen, ist es entscheidend, dass der Patient seine Entspannungsfähigkeit verbessert und die Wahrnehmung schult. Ein gelöster Atemfluss stellt sich nur ein, wenn sich der Mensch in bestmöglicher „psychophysischer Gelöstheit“ befindet, wie es die Atemphysiotherapeutin Hilla Ehrenberg einmal beschrieb [1]. Neben passiven Techniken wie der Atemmeditation zählen zu dieser Säule modifizierte Yoga-Übungen, Übungen aus dem Qi Gong sowie die Reflektorische Atemtherapie (RAT) nach Dr. Schmitt [2].


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V Sekretmobilisation

In dieser Säule gibt es, ebenso wie in Säule II, ständig Änderungen und Anpassungen durch neue Medikamente und Devices (Inhalationssysteme). Der pulmonale Zustand hängt bei vielen Patienten von der richtigen inhalativen Behandlung ab. Wichtig ist, dass wir die Inhalationstechnik und Handhabung des Gerätes korrekt vermitteln, häufig kontrollieren und eventuell anpassen. Ob Feucht- oder Trockeninhalation, Dauer- oder Intervallvernebelung, Spray (mit oder ohne Inhalierhilfe) oder Pulver ist entscheidend, damit die Medikamente bestmöglich wirken können. Bei einem Infekt mit starker Sekretentwicklung oder einer Exazerbation reicht der Einatemfluss beispielsweise oft nicht mehr aus, um ein Pulver effektiv in der Lunge zu deponieren. In diesem Fall halten wir Rücksprache mit dem Arzt und beraten, ob der Patient für eine bestimmte Zeit das Medikament feucht inhalieren oder ein Spray mit Inhalierhilfe verwenden soll. Die Feuchtinhalation ist jedoch zeitlich aufwendiger und die Reinigung der Vernebler umfangreicher als bei der Trockeninhalation [3].

Neben der Inhalation zählen zu Säule V auch spezielle Atemtechniken wie die Autogene Drainage, bei welcher der Patient das Bronchialsekret löst, sammelt und dann abhustet, sowie die aktiven oszillierenden Therapien, beispielsweise mit dem Flutter, RC Cornet oder Acapella choice. Bei der Kombinationstherapie befindet sich der Patient je nach Befund in einer therapeutischen Lage und führt zum Beispiel im Wechsel eine Inhalation und eine oszillierende Therapie durch. Die Inhalation erfolgt mit der einen Hand während der vertieften Einatmung. Diese startet abdominal, und der Therapeut kann sie beispielsweise durch passive Dehnzüge am Brustkorb oder der Patient selbst durch aktive Armbewegung in Flexion verstärken. In der Atempause wird die Dehnstellung aufgelöst. Anschließend atmet der Patient in ein oszillierendes Gerät aus, das er in der anderen Hand hält. Die Kombinationstherapie hilft, schnell und effektiv Sekret zu mobilisieren und die Lungen optimal zu belüften und zu durchbluten.


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VII Brustkorbmobilisation

Wie wichtig die Brustkorbmobilisation im Gesamtbehandlungskonzept sein kann, zeigt die Zielsetzung einer alleinstehenden Patientin. Sie wollte ihre Badewanne wieder putzen können, da das Baden ihr bestes Entspannungsritual war. Doch Rückenschmerzen und Bewegungseinschränkungen – weniger die Atemnot – hinderten sie daran, die Badewanne reinigen zu können. Bei ihr ist die Säule Brustkorbmobilisation essenziell. Sie beinhaltet alle üblichen Techniken, um die Beweglichkeit zu verbessern, Schmerzen zu lindern sowie Triggerpunkte und Faszien zu behandeln. Denn auch dies trägt dazu bei, dass die Thoraxbeweglichkeit eingeschränkt ist, die aufrechte Haltung erschwert wird und die Patienten somit kein größeres Atemvolumen erreichen können.


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VIII IX Dehnung und Koordination sowie Kraft- und Ausdauertraining

Koordinationsübungen spielen besonders bei älteren Menschen eine wichtige Rolle, um Stürze zu vermeiden. Denn Brustkorbverletzungen, Rippenbrüche oder -prellungen schränken Patienten mit Atemwegserkrankungen massiv ein. Zudem sind die Weichteile und deren Dehnbarkeit zu berücksichtigen, um möglichst optimale Atembewegungen zu erhalten.

Lachen ist besonders in der Atemtherapie wichtig: Wer lacht, braucht mehr Luft, und das Gehirn läuft auf Hochtouren.

Die Säule Kraft- und Ausdauertraining bildet in der ambulanten pulmonalen Rehabilitation den Schwerpunkt. Um den Teufelskreis zu durchbrechen, dass die Kondition der Patienten immer schlechter wird, ist ein gezieltes Kraft- und Ausdauertraining (2–3 Mal pro Woche) sehr wichtig. Dies haben Studien bei COPD mehrfach belegt [4]. Bei Cystischer Fibrose gilt die kontinuierliche sportliche Betätigung neben der ärztlichen und physiotherapeutischen Behandlung als „Lebensversicherung“ [5].


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X Selbstmanagement

Für Patienten mit chronischen Atemwegserkrankungen ist es entscheidend, dass sie auch außerhalb der Therapie aktiv sind. Hierfür braucht es eine gute therapeutische Führung, Motivation, beispielsweise durch Schulungen und Gruppentraining, sowie Hilfe zur Selbsthilfe. Ein klares, schriftliches Heimprogramm, das wir auf die Patienten abstimmen, unterstützt sie dabei, ihre Ziele zu erreichen.

Zudem beinhaltet die Säule Selbstmanagement, wie sich die Patienten dauerhaft motivieren können. Eigenmotivation ist ein wichtiger Pfeiler, um der Niedergeschlagenheit und eventuell beginnenden krankheitsbedingten Depression früh etwas entgegenzustellen. Doch gegen Selbstmitleid und depressive Verstimmung gibt es kein Patentrezept. Die Patienten sind mit einer chronischen Erkrankung konfrontiert, die sie im Alltag einschränkt und von ihnen fordert, einen neuen Umgang mit sich selbst zu finden. Wer eine geliebte Aktivität aufgeben muss, den Alltag nicht mehr ohne Hilfe gestalten kann, unter Atemnot leidet und zu Langsamkeit gezwungen ist, braucht nicht nur Tipps zur richtigen Inhalation und ein ausgeklügeltes Trainingsprogramm. Er braucht ein Therapieteam (Arzt, Psychologe, Physiotherapeut, Ernährungsberater), das ihn dort abholt, wo er steht, und ihm hilft, seine Ressourcen zu nutzen. Eine freundlich-humorvolle und empathische Grundstimmung von uns Therapeuten ist äußerst hilfreich. Denn das Management einer chronischen Erkrankung oder einer Multimorbidität verlangt den Patienten viel Kraft ab. Wir sollten bewusst die Heilkraft des Humors einfließen lassen [6]. Lachen ist besonders in der Atemtherapie wichtig: Wer lacht, braucht mehr Luft, und das Gehirn läuft auf Hochtouren [6]. Es gibt sogar erste Hinweise, dass das Lachen die Abwehrkräfte stärkt [6].

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Abb.: S. Schaaf

Um Patienten für die Atemphysiotherapie zu gewinnen, braucht es uns Therapeuten, die ihnen mit Empathie, Humor und einem langen Atem als Motivator, Kommunikator und Pädagoge zur Seite stehen und unermüdlich allen Personen im Therapiesetting klar machen, dass das Ziel von mehreren Säulen getragen wird.

Helen Saemann

Dieser Text erschien erstmalig in der Zeitschrift „physioactive“, der Verbandszeitschrift von physioswiss 2016; 6: 7–13.


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Das Zehn-Säulen-Programm in der Atemtherapie von Helen Saemann
Abb.: S. Schaaf
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Abb.: S. Schaaf
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Abb.: S. Schaaf