physiopraxis 2017; 15(04): 52-53
DOI: 10.1055/s-0043-101661
Therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Functional Reach Test – Reicht nur fürs Nach-vorne-Reichen

Stefan Schädler

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Publikationsdatum:
21. April 2017 (online)

 

Im Alltag kommt es immer wieder vor, dass wir im Stehen die Arme nach vorne strecken, um etwas zu greifen oder abzustellen. Patienten im höheren Alter kann es dabei passieren, dass sie das Gleichgewicht verlieren oder gar stürzen. Wie groß ihre Unsicherheit ist, können Therapeuten mit dem Functional Reach Test herausfinden – für mehr eignet er sich allerdings nicht. Für die Bestimmung des Sturzrisikos gibt es wesentlich bessere Assessments.


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Assessments, die das Gleichgewicht testen, gibt es sehr viele. Der Einbein- und Tandemstand sind statische Tests, für andere bedarf es technischer Messgeräte. Die US-amerikanische Forscherin Pamela W. Duncan wollte einen dynamischen Gleichgewichtstest entwickeln, der in der Praxis einfach anwendbar ist und ein kontinuierliches Score-System verwendet [1]. 1990 veröffentlichte sie den Functional Reach Test, der in Zentimetern misst, wie weit ein Patient in sicherem Stand mit ausgestrecktem rechten Arm nach vorne reichen kann. Ein einfacher Test, der nur fünf Minuten dauert und für den der Therapeut als Messgerät lediglich ein Maßband benötigt.

Nach vorne reichen ist nicht nach vorne lehnen

Mittlerweile existieren viele verschiedene Testanleitungen für den Functional Reach Test. Im Original haben es Pamela W. Duncan und Kollegen folgendermaßen beschrieben [1]: „Der Patient wird gebeten, eine normale, entspannte Stehposition einzunehmen. Weder Schuhe noch Socken werden getragen, und die Arme/Hände hängen auf der Seite. Der Patient wird aufgefordert, im rechten Winkel mit der Schulter zum Messgerät zu stehen. Das Messgerät wird auf der Höhe des Akromions angebracht. Zur Standardisierung kann die Fußposition auf dem Boden auf einem Blatt Papier aufgezeichnet oder die Distanz zwischen den Fersen gemessen werden. Der Patient hebt den rechten Arm horizontal an (etwa 90°). Er wird aufgefordert, bequem so weit wie möglich nach vorne zu reichen, ohne einen Schritt zu machen oder das Gleichgewicht zu verlieren. Er wird bei der Durchführung der Aufgabe nicht korrigiert. Man führt zwei Probeversuche und drei Testversuche durch. Von den drei Testresultaten wird der Durchschnitt berechnet.“

Für die Messung bringt der Therapeut in der Regel ein Maßband auf Schulterhöhe des Patienten an der Wand an. Einfacher ist es, wenn er es auf der Rückseite eines fahrbaren Therapiespiegels befestigt und diesen seitlich vom Patienten platziert. Sobald der Patient seinen gestreckten Arm angehoben hat, verschiebt der Therapeut den Spiegel mit dem Maßband, bis die 0-cm-Marke bei der Spitze des gestreckten Mittelfingers liegt. Hat sich der Patient maximal nach vorne geneigt, kann der Therapeut ablesen, wie weit die Spitze des Mittelfingers auf dem Maßband reicht.

Während des gesamten Tests darf der Patient die Wand oder das Maßband nicht berühren. Patienten, die eine Parese oder ein Problem im rechten Arm oder Schultergelenk (zum Beispiel eine eingeschränkte Beweglichkeit) haben, können ihren linken Arm einsetzen. Für Personen, die nicht stehen können, gibt es den modifizierten Functional Reach Test im Sitzen [2]. Bei diesem reichen die Patienten ihren rechten Arm nach vorne, nach links und nach rechts.

Für Patienten, die nicht stehen können, gibt es den modifizierten Functional Reach Test im Sitzen.

Der Functional Reach Test stimmt gut mit den Messungen überein, die beim Verlagern des Körperschwerpunktes auf einer Kraftmessplatte gemacht werden [1]. Bei der Anleitung des Tests ist es nicht egal, wie der Therapeut diese formuliert. Sagt er, der Patient solle sich so weit wie möglich nach vorne lehnen (umgekehrtes Pendel), statt so weit wie möglich nach vorne zu reichen, ist das Ergebnis ein anderes [3]. Dies bestätigen auch Sean Clark und Kollegen [4], die verschiedene Strategien des Rumpfes und der Beine untersucht haben, die beim Functional Reach Test zum Einsatz kommen können. Obwohl die beiden Instruktionen sehr ähnlich sind, sind die posturalen Strategien unterschiedlich. Daher ist es wichtig, sich bei der Testanleitung an die Originalformulierung zu halten: „… bequem so weit wie möglich nach vorne reichen, ohne einen Schritt zu machen oder das Gleichgewicht zu verlieren.“

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Beim Functional Reach Test hebt der Patient seinen rechten Arm horizontal an. Der Therapeut misst, wie weit sein Mittelfinger reicht (A). Dann soll der Patient aus dem Stand so weit wie möglich nach vorne reichen, ohne einen Schritt zu machen oder das Gleichgewicht zu verlieren (B).
Abb.: durbandesign.com

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Gute Zuverlässigkeit bei den meisten Patientengruppen

Für die Zuverlässigkeit (Test-Retest-Reliabilität) des Functional Reach Tests fanden zwei Studien Anfang der 1990er-Jahre bei älteren, zu Hause lebenden Menschen gute Werte. Der Intraklassen-Koeffizient (ICC) lag bei 0,89 [1] und 0,92 [3]. Optimal ist der Wert 1. Auch bei Patienten mit Morbus Parkinson, die bereits einen Sturz erlitten hatten, fanden zwei Forscherteams eine gute Reliabilität mit einem ICC von 0,84 [5] und 0,93 [6]. Waren diese Patienten zuvor noch nie gestürzt, war die Zuverlässigkeit hingegen schlecht [6]. In den Folgejahren untersuchten verschiedene weitere Studien die Intra- und Intertester-Reliabilität. Sie befanden sie als gut bei älteren gebrechlichen Menschen [7], bei gesunden Personen [8], bei Patienten mit vestibulären Erkrankungen [8] und bei Patienten nach Schlaganfall [9]. Eine weitere Studie verglich die Zuverlässigkeit von 16 verschiedenen Gleichgewichtstests bei Menschen mit Down-Syndrom. Hier schaffte es der Functional Reach Test nicht unter die zehn besten Tests [10].

Für verschiedene Krankheitsbilder wie Morbus Parkinson, Schlaganfall und vestibuläre Erkrankungen liegen Normwerte vor [2, 9, 11–16]. Diese sollten Physiotherapeuten allerdings zurückhaltend verwenden, da die Werte von Studie zu Studie variieren und abhängig vom Alter des Patienten und von der Ausprägung der Erkrankung sind. Für Patienten mit Schwindel scheint sich der Functional Reach Test weniger zu eignen als der Schwindelfragebogen Dizziness Handicap Inventory (DHI, PHYSIOPRAXIS 10/15, S. 35) [11].


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Sensitivität und Spezifität in Bezug auf das Sturzrisiko schlecht

Debra K. Weiner und ihr Team untersuchten bei 217 älteren männlichen Veteranen das Sturzrisiko mittels des Functional Reach Tests [17]. Die Werte für die Odds Ratio, die das Forscherteam herausfanden, sagen aus, um welchen Faktor das Sturzrisiko bei welchem Testergebnis erhöht ist:

  • > 25 cm: 1,00

  • 15–25 cm: 2,00

  • 5–15 cm: 4,02

  • 0 cm: 8,07

Patienten, die über 25 cm schaffen, haben kein erhöhtes Sturzrisiko. Bei einer Reichweite von 15–25 cm ist das Sturzrisiko doppelt so hoch, bei 5–15 cm vierfach und bei 0 cm achtfach erhöht.

Um das Sturzrisiko zu bestimmen, braucht es Grenzwerte. Diese liegen für den Functional Reach Test für ältere, gebrechliche Patienten, Patienten mit Morbus Parkinson sowie Patienten nach Schlaganfall vor [7, 13, 18, 19]. Doch die Werte variieren von Studie zu Studie. Die der Berg Balance Scale (PHYSIOPRAXIS 11-12/07, S. 40) und des Timed-Up-and-Go-Tests (PHYSIOPRAXIS 7-8/16, S. 56) [20, 21] sind besser und daher dem Functional Reach Test vorzuziehen, wenn das Sturzrisiko bestimmt werden soll.


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Für die Verlaufsmessung ungeeignet

Um bei Tests von einer Verbesserung oder Verschlechterung zu sprechen, muss man den minimal klinisch wichtigen Unterschied (Minimally Clinically Important Difference, MCID) kennen. Dieser wurde für den Functional Reach Test bisher nicht untersucht. In diesem Fall kann der Minimal Detectable Change (MDC), der statistisch erkennbare Unterschied, Hinweise geben. Doch dieser ist meist kleiner als der MCID und für den Alltag des Patienten oft nicht bedeutend genug. Für den Functional Reach Test liegen MCD-Werte für Patienten mit Morbus Parkinson vor:

  • Patienten mit Morbus Parkinson ohne bisherige Stürze: 4,32 cm [6]

  • Patienten mit Morbus Parkinson mit Stürzen: 8,07 cm [6]

Verglichen mit anderen Assessments ist der Functional Reach Test wenig empfindlich für Veränderung.

Die Skala des Functional Reach Tests reicht von 0 bis etwa 40 cm. Für diese Skala sind die MDC-Werte relativ hoch. Daher ist der Test als Verlaufsmessung nur beschränkt zu empfehlen. Verglichen mit der Gehgeschwindigkeit gemessen mit den Timed Walking Tests (PHYSIOPRAXIS 6/06, S. 36) und dem Functional Independence Measure (FIM, PHYSIOPRAXIS 3/06, S. 32) ist der Functional Reach Test am wenigsten empfindlich für Veränderung (Responsivität) [17].

Nur wenn das Nach-vorne-Reichen das Hauptproblem oder -ziel eines Patienten ist, ist der Functional Reach Test geeignet. In Bezug auf das Gleichgewicht testet er nur die Sagittalebene, sodass die Berg Balance Scale oder der Mini-BESTest aufgrund der Analysemöglichkeiten dem Functional Reach Test vorzuziehen sind. Um das Sturzrisiko zu bestimmen, eignen sich ebenfalls eher die Berg Balance Scale oder der Timed-Up-and-Go-Test. Zudem muss der Therapeut Risikofaktoren für Stürze erheben.

Stefan Schädler


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Beim Functional Reach Test hebt der Patient seinen rechten Arm horizontal an. Der Therapeut misst, wie weit sein Mittelfinger reicht (A). Dann soll der Patient aus dem Stand so weit wie möglich nach vorne reichen, ohne einen Schritt zu machen oder das Gleichgewicht zu verlieren (B).
Abb.: durbandesign.com