Psychiatr Prax 2017; 44(03): 126-127
DOI: 10.1055/s-0043-101605
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Übernahme der sektorübergreifenden Versorgung durch private Leistungsanbieter – Kontra

Takeover of Cross-Sectoral Care by Private Providers? – Contra
Gerhard Längle
Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie, Südwürttembergische Zentren für Psychiatrie
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Gerhard Längle
Leitender Ärztlicher Direktor, Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie, Südwürttembergische Zentren für Psychiatrie
Pfarrer-Leube-Straße 29
88427 Bad Schussenried

Publication History

Publication Date:
11 April 2017 (online)

 

Zunächst scheint eine Begriffsklärung notwendig: „Sektorübergreifende Versorgung“ wird zum einen in der akuten Krankenversorgung im SGB-V-Bereich verwendet und dabei auf die Sektoren ambulante, teilstationäre und stationäre Behandlung bezogen. Zum anderen beschreibt der Begriff weitergehend den Sektor der psychiatrischen Behandlung plus die Sektoren Eingliederungshilfe, Rehabilitation, Pflege, Arbeitsunterstützung usw.

Im SGB-V-Bereich gibt es bereits vielfältige Erfahrungen mit privaten Anbietern. Nahezu alle privaten Klinikbetreiber halten stationäre, teilstationäre und ambulante (PIA) Angebote vor, manche betreiben ein MVZ und sind damit Teil der ambulanten Regelversorgung. Sie unterscheiden sich diesbezüglich nicht von kommunalen, öffentlich-rechtlichen oder Trägern aus der freien Wohlfahrtspflege. Ergänzt werden diese klinischen Angebote durch die ambulanten Behandlungsangebote der ebenfalls privatwirtschaftlich tätigen niedergelassenen Psychiater und Psychotherapeuten.

Die Qualität der sektorübergreifenden Arbeit im SGB-V-Bereich und in der SGB-übergreifenden Zusammenarbeit hängt von den rechtlichen Rahmenbedingungen ab, die im Wesentlichen auf Bundesebene gesetzt werden. Ebenso haben länderspezifische Modifikationen und Gestaltungsversuche durch die Kommunen und die Beteiligten vor Ort Einfluss auf die Qualität. Die genannten Rahmenbedingungen sind für private wie öffentliche/gemeinnützige Träger in gleicher Weise gültig. Ein Qualitätsunterschied zwischen den verschiedenen Trägern bezüglich der sektorübergreifenden Versorgung ist aus den rechtlichen Rahmenbedingungen deshalb nicht grundsätzlich abzuleiten.

Der Unterschied macht sich an der Zielsetzung der beteiligten Unternehmen fest: Öffentlich-rechtliche und frei-gemeinnützige Organisationen wurden gegründet, um Menschen in Not, in diesem Fall psychisch kranke Menschen, zu unterstützen, zu behandeln, zu versorgen. Die hierdurch erwirtschafteten Gelder werden i. d. R. unmittelbar wieder für diese Zielsetzung investiert. Dies ist bei privaten Anbietern grundsätzlich anders. Sie müssen aus der Vergütung ihrer Leistungen Gelder an die Investoren, Besitzer oder privaten Eigner abzweigen und deren Interessen befriedigen. Dafür wurden sie primär gegründet, von wenigen Ausnahmen philanthropischer Eigner einmal abgesehen. Daraus resultiert eine andere Gesamtinteressenlage. Privatunternehmen sind i. d. R. genauso lange an ihrer Tätigkeit interessiert, wie sich mit ihrem Engagement Geld verdienen lässt. Wenn keine angemessene Rendite zu erwarten ist, ziehen sich die Investoren zurück, das „Produkt“ wird eingestellt. Oder man verlegt sich auf neue, verwandte Produkte, die Gewinn versprechen. So wie einzelne Unternehmen der pharmazeutischen Industrie nun das Gesundheitsmanagement entdecken, weil der Markt für Psychopharmaka alleine derzeit wenig lukrativ erscheint [1].

Nicht im Interesse marktorientierter Unternehmen liegt auch die zunächst nicht unmittelbar „unternehmensnützige“ Beteiligung an Vernetzungsstrukturen, ohne die aber eine gute psychiatrische Versorgung nicht auskommt.

Wo gemeinnützige Träger selbstverständlicher Teil von Gemeindepsychiatrischen Verbünden, Suchthilfenetzwerken usw. sind, ist dies bei privatwirtschaftlich betriebenen Unternehmen häufig fraglich. Bekannt ist dieses Problem aus der Beteiligung der niedergelassenen Fachärzte, die in vielen Regionen kaum gelingt. Es ist kaum möglich, verbindliche Vereinbarungen mit den Niedergelassenen einer Versorgungsregion zu treffen, da diese als Einzelunternehmer unabhängig sind und jeweils nur für sich selbst reden und entscheiden können. Dadurch wird sogar der für die Kassenärzte theoretisch verpflichtende Sicherstellungsauftrag in manchen Versorgungsbereichen nicht mehr realisiert (z. B. die Substitutionsbehandlung Drogenabhängiger oder Regelpsychotherapie).

Ein Vorteil durch private Anbieter in der Krankenversorgung ist für mich nicht erkennbar.

Gutes Unternehmensmanagement beherrschen die öffentlich-rechtlichen und gemeinnützigen Unternehmen auch. Manche mehr, manche weniger, es besteht diesbezüglich kein Unterschied zu den Privaten.

Für die o. g. Sektoren, Eingliederungshilfe, Pflege und Rehabilitation gilt Ähnliches wie für den Geltungsbereich des SGB V. Hier sind ebenfalls private Anbieter unterwegs (ambulante Pflegedienste, private Pflegeheime, private Reha-Kliniken usw.) und leisten am einzelnen Klienten/Patienten oft gute Arbeit. Sie in verpflichtende Versorgungsstrukturen einzubinden, erweist sich jedoch in vielen Regionen als äußerst schwierig, da es häufig kein wirklich gemeinsames Interesse an der Gesamtversorgung gibt.

Im Grunde ist die Frage, ob Privatinvestoren oder öffentliche/gemeinnützige Unternehmen geeigneter sind, die sektorübergreifende Versorgung zu gestalten, aber nicht die zentrale, entscheidende Fragestellung. Diese liegt dahinter: Sollen Gesundheitsversorgung, Wiedereingliederung und Rehabilitation psychisch kranker Menschen als eine Frage der Versorgung im Sinne der staatlichen Daseinsfürsorge betrachtet werden oder als ein Marktgeschehen in einer kapitalistischen Gesellschaft? Betreiben wir eine Gesundheitswirtschaft und bieten unsere Produkte auf einem Gesundheitsmarkt an oder sichern wir eine qualifizierte Gesundheitsversorgung für die schwer psychisch Kranken in unserer Bevölkerung?

Nachdem die Krankenversorgung im somatischen Bereich durch die marktorientierten „DRGs“ zunehmend bedroht ist und die Verhältnisse in den Kliniken immer schlechter werden, gibt es in dieser Debatte einen Hoffnungsschimmer durch das PsychVVG.

Mit der hier erkennbaren Orientierung an Qualität und damit verbundener geregelter Personalausstattung, unter Berücksichtigung regionaler Besonderheiten und der Möglichkeit, strukturelle und qualitative Versorgungsaspekte mit in die Pflegesatzverhandlungen einzubringen, wird ein neuer Weg beschritten. Dies macht Hoffnung auch für die Somatik. Nachdem lange Zeit die Gleichstellung der Psychiatrie mit der Somatik gefordert wurde, dreht sich das Verhältnis nun um: Wir hoffen, dass irgendwann die Finanzierung der somatischen Krankenversorgung der in der Psychiatrie gleichgestellt wird.

Dann könnte es allerdings geschehen, dass – angesichts verbindlicher Personalausstattung – die Möglichkeit, durch Einsparungen bei den Personalkosten die notwendige Rendite zu erwirtschaften, deutlich erschwert wird – und der „Markt“ für die privaten Klinikanbieter weniger attraktiv wird.

Pointiert könnte man sagen: Wo der Markt regiert, wird Gesundheit zum Produktionsziel, die Fürsorge für den kranken Menschen zum Produkt und die Steuerung des Geschehens erfolgt über den zu erzielenden Preis. Eine gute, umfassende, regionale Versorgung auch der aufwendigen, schwer kranken Personen mit komplexem Hilfebedarf, mit denen wir es in den psychiatrischen Kliniken und Ambulanzen, den betreuten Wohnangeboten und den Rehabilitationseinrichtungen häufig zu tun haben, wird dadurch gefährdet. Eine gewisse Sicherheit, dass dies nicht geschieht, bieten öffentliche und frei gemeinnützige Träger. Dies ist ihre Stärke, deshalb sollten sie gestärkt werden.


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Über die Autoren

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Gerhard Längle

  • Literatur

  • 1 Pankratz C, Pajonk F-G. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt – die Konzernisierung der ambulanten Psychiatrie?. Sozialpsychiatrische Informationen 2011; 3: 50-52

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Gerhard Längle
Leitender Ärztlicher Direktor, Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie, Südwürttembergische Zentren für Psychiatrie
Pfarrer-Leube-Straße 29
88427 Bad Schussenried

  • Literatur

  • 1 Pankratz C, Pajonk F-G. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt – die Konzernisierung der ambulanten Psychiatrie?. Sozialpsychiatrische Informationen 2011; 3: 50-52

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