Fortschr Neurol Psychiatr 2017; 85(03): 136
DOI: 10.1055/s-0043-101561
Erwiderung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Antwort auf den Leserbrief von Herrn Prof. Müller zum CME-Artikel „Delir“

Stefan Isenmann
,
Arne Hübscher
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Publication Date:
20 March 2017 (online)

Wir danken Herrn Müller für seine wertvollen Anmerkungen zum Delir-Begriff und zur Genese und Differenzierung verschiedener Begrifflichkeiten. Wir können die Wahrnehmung nachvollziehen, dass in unserer Darstellung die operationale Definition des Begriffs „Delir“ im Vordergrund steht und weitere Zuordnungen nicht (mehr) vorgenommen werden, dies zugunsten eines von der Phänomenologie her operationalisierten Delir-Begriffs.

Tatsächlich hat der Begriff des Delirs in den vergangenen Jahren einen gewissen Bedeutungswandel erfahren, der die historische Entwicklung einzelner Aspekte und verschiedene daraus resultierende Begrifflichkeiten kaum mehr berücksichtigt. Zunehmend verlassen werden die früheren (oft deskriptiven) Differenzierungen und Nuancen, sowohl hinsichtlich Ätiologie(n) als auch hinsichtlich Ausprägungsformen. An Bedeutung gewinnen operationalisierende Vorgehensweisen hinsichtlich der (Früh-)Erkennung von Deliren. Damit verbunden ist eine zunehmende Sensibilisierung, insbesondere die Einsicht, dass Maßnahmen zur Delir-Vermeidung wie auch -Früherkennung und selbstverständlich auch (kausale wie symptomatische) -Therapien an Bedeutung gewinnen und auch zunehmend im klinischen Alltag umgesetzt werden.

Herr Müller legt nachvollziehbar dar, wie die Evolution der genannten Begriffe seinerzeit das Verständnis der Zustände reflektierte und so auch einen tieferen Zugang zu diesen Psychosyndromen ermöglichte.

Erkennbar ist es demgegenüber Ziel unseres Fortbildungsartikels, einen praktischen, alltagsrelevanten Zugang zum Delir zu eröffnen, mit den Zielen, Delire möglichst früh zu erkennen, ursächlich zuzuordnen, rasch und zielführend zu behandeln – und sie im Idealfall sogar zu verhindern. Dafür hat sich in der Tat ein umfassenderer Zugang als pragmatisch herausgestellt, der Kernsymptome operationalisiert und – zunächst weitgehend unabhängig von Ätiologie und Ausprägung im Einzelfall – zielführende Vorgehensweisen vorschlägt. Insofern teilen wir die gängige Ansicht, die sich auch in den internationalen Klassifikationssystemen und Delir-Scores widerspiegelt, dass möglichst einfach und bei Risikopatienten regelmäßig strukturiert anzuwendende Instrumente Delire bzw. sog. sub-/präsymptomatische Delire sensitiv und frühzeitig erkennen helfen sollen. Während in den meisten Fällen keineswegs belegt ist, ob bzw. inwieweit die angesprochenen symptomatischen Therapien die Langzeitprognose insgesamt günstig beeinflussen, darf zumindest ein Effekt hinsichtlich der Ausprägung und Dauer dieses Zustands erhofft werden – und die dann frühzeitig eingeleitete kausale Therapie der Ursachen kann möglicherweise Schlimmeres verhindern.

Dieser pragmatische Ansatz ist keineswegs nur immer schnellerer, verweildaueroptimierter Medizin im DRG-Zeitalter geschuldet; vielmehr soll er helfen, zum Wohl der Patienten weitere Morbidität zu verhindern oder zumindest zu lindern. Insofern fügt sich diese gewandelte Betrachtungs- und Vorgehensweise in das notfall-, akut- und intensivmedizinische Vorgehen auch bei vielen anderen Erkrankungen ein: Den „natürlichen“ Verlauf von Schlaganfall, Enzephalitiden, Multipler Sklerose, aber auch Myokardinfarkt, Pneumonien u. v. a. m. kennen wir heute vorwiegend aus Lehrbüchern und von Fällen, in denen Patienten (zu) spät vorgestellt oder Diagnosen nicht rechtzeitig gestellt bzw. Therapien verspätet eingeleitet wurden. Den „Normalfall“ stellen demgegenüber heute rechtzeitig vorgestellte, rasch behandelte Patienten dar, bei denen die (zu erwartende oder im Grundsatz bekannte) Symptomatik im Sinne eines „natürlichen Verlaufs“ sich eben erst gar nicht mehr ausbilden soll.

In diesem Sinn hoffen wir verstanden zu werden, wenn wir für Früherkennung, Ursachensuche, kausale und symptomatische Therapie und Prävention werben, um dieses multifaktorielle, morbiditäts- und mortalitätssteigernde Syndrom besser zu beherrschen. Wir freuen uns, wenn diese Diskussion eine weitere Befassung mit der Thematik zur Folge hat – auch mit der historischen Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit und deren Differenzierungen, ohne die zugegebenermaßen unsere heutige Herangehensweise kaum vorstellbar wäre.

S. Isenmann, A. Hübscher