Den Verlust eines unschuldigen, gleichsam paradiesischen Nichtwissens beklagen bisweilen
auch romantische Naturutopien. Hier liegt der Verdacht nahe, dass uns in die Vergangenheit
projizierte menschliche Zukunftshoffnungen gegenübertreten. Wir tun gut daran, uns
der Wurzel des Paradiesgartens zu erinnern: nämlich eines durch menschlichen Willen,
menschliches Wissen und menschliche Anstrengung geschaffenen Kulturraumes in Abgrenzung
zur oftmals große Härten mit sich bringenden „natürlichen“ Umwelt. Doch trägt diese
Abgrenzung von Natur und Kultur überhaupt? Ist nicht des Menschen Kultur seine Natur
(Konrad Lorenz)? Sind wir Menschen nicht auf Kultur angewiesen, um nicht als „Mängelwesen“
zu erscheinen (Arnold Gehlen)? Hier ließe sich auch noch Vieles aus der ökonomischen
und soziologischen Literatur ergänzen. Vielleicht kann man in Bezug auf menschliche
Kulturräume in diesem Sinne sogar von einer Natur 2.0 oder „Next Nature“ sprechen
(www.nextnature.net)? So plädiert z. B. das Next-Nature-Netzwerk für eine bewusste Vernetzung von (natürlicher)
Natur und vom Menschen geschaffener Kultur, welche eine Balance zwischen Biologie
und Technologie im Dienst am Menschen hält.
Für die menschliche Gesundheit scheint diese hoffnungsfrohe Deutung in mancher Hinsicht
zuzutreffen: Gesundheit ist nicht so sehr ein natürliche Zustand als vielmehr auch
und ganz wesentlich das Ergebnis menschlicher Anstrengung (Heinrich Schipperges).
Die nur 50:50 Chance für neugeborene Kinder noch am Beginn des 20. Jahrhunderts, das
Erwachsenenalter zu erreichen, spricht eine deutliche Sprache. Wie diese Anstrengungen
aussehen? Sie reichen von den oft religiös inspirierten Barmherzigkeitsidealen, der
politischen Einschränkung von Gewalt und Ausbeutung über die Verbesserung der körperlichen
Ernährung und Hygiene bis zur Entfaltung der geistigen Potentiale der Menschheit.
Diese Entfaltung reicht von der, von vergleichsweise liberalen Ideen unterstützten
Gründung von Universitäten – erstmals wird für das Jahr 737 in Tunis eine islamische
Universitätsgründung beschrieben – bis zu den Bemühungen um Aufklärung und Vernunft,
um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und in der Moderne zu den oft zitierten,
Gesundheit und das Gesundheitswesen betreffenden, Erklärungen von Ottawa (1986), Tallin
(2008) und zuletzt Wien (2016).
Doch ist wirklich der Garten, oder modern übersetzt die Idylle des ländlichen Raums,
der Ziel-Ort menschlicher Sehnsucht und die Quelle gelingenden Daseins? Begreift man
den Paradiesgarten jüdisch-christlicher Prägung (Genesis Kap. 2 und 3) als menschlich
geschaffenen Kulturraum, so überrascht nicht, dass er auf dem weiteren Menschheitsweg
mit der Vision einer himmlischen Stadt (Offenbarung 21) ergänzt wurde. Städte als
kulturelle Verdichtungsräume, als Orte der Begegnung und des Austauschs, der wirtschaftlichen
und menschlichen Entwicklungschancen – „Stadtluft macht frei“, diese Assoziation ist
bis heute gültig. Dass gleichzeitig auch diese Vorstellung von Stadt utopische Züge
hat, zeigen die im 20./21. Jahrhundert weltweit entstehenden Metropolen und Mega-Cities:
zivilisatorische Mischformen von baulichen Wüsten („Grey“ Cities) und hoffnungsvollen
städtischen Oasen mit Grün- und Wasserflächen („Green“ and „Blue“ Cities).
Dass Utopien und Dystopien eng beisammen liegen können, gilt für erhoffte himmlische
Städte offenbar ebenso wie für (verlorene) Paradiesgärten. Vor dem Hintergrund dieser
Doppelgesichtigkeit menschlicher Kulturräume, die im besonderen Maß für die bebaute
städtische Umwelt gilt, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Thematik von
Gesundheit und Urbanisierung zu einer prioritären Herausforderungen erklärt. Eine konkrete Annahme dieser Herausforderung
findet sich im Gesunde-Städte-Netzwerk der WHO, welches im 5-jährigen Rhythmus prioritäre
Themen benennt und strategische Hilfestellungen für gesundheitsorientierte Entwicklungen
gibt. Dieser Ansatz wurde unter der Begrifflichkeit Urban Health/ Stadtgesundheit
neu belebt [1]
[2]. Wie dies für die territoriale Stadtentwicklung im Konkreten aufgegriffen werden
kann, ist u. a. Gegenstand der Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt
(2007). Die positiven Auswirkungen von Grünflächen auf die Gesundheit sind empirisch
belegt [3]. Besondere Bedeutung wird in diesem Zusammenhang einer integrierten Stadtplanung
beigemessen. Ein Beispiel dafür gibt „One New York City: The Plan for a Strong and
Just City“ [4]
[5]. Als Kernthema kristallisiert sich die Verkehrsplanung heraus: Ziel ist eine kompakte
städtische Bauweise, welche einerseits Flächen einspart, andererseits Möglichkeiten
für öffentlichen Raum schafft und zum Dritten eine körperlich aktivierende Verkehrsinfrastruktur
ermöglicht (Öffentlicher Nahverkehr, Fahrradwege usw.). Hinzu kommen Aspekte besserer
sozialer Vernetzung, von mehr Chancengerechtigkeit und in der Summe von mehr Lebensqualität.
Die Verantwortungsübernahme für solche verbesserten Lebensumwelten wird „Jenseits
von Eden“ von uns Menschen selbst als gute „Stewards“ einzufordern sein.
Healthy Cities, Green Cities, Blue Cities, Smart Cities, Neighbourhood Walkability
oder auch Feinstaubgrenzwerte – die zivilisatorischen Anstrengungen sind unübersehbar
und zu begrüßen. Inwieweit hier auch Balancen zwischen dem ländlichen und dem städtischen
Umfeld, gleichsam eine Balance des alten Paradiesgartens mit der himmlischen Stadt,
berücksichtigt werden müssen, ist noch zu erforschen. Bieten nicht Städte auch Chancen
für mehr medizinische Versorgungsqualität durch erhöhte Spezialisierung, für gesundheitsbezogene
Innovation in Strukturen und Abläufen, für (universitäre) Forschung und Lehre? Und
kann möglicherweise die Abgrenzung zwischen ländlichen und städtischen Räumen durch
die virtuelle Vernetzung und Distanzverkürzung über telemedizinischen Anwendungen
teilweise aufgehoben werden? Die Herausforderung des Erhalts der ärztlichen Versorgung
im ländlichen Raum ist eines der dabei zu bearbeitenden Themen. Doch gibt es nicht
auch ganz andere Bedrohungen durch eine zunehmend urbanisierte Menschheit, sei es
in Form von regionaler Umweltverschmutzung, sei es in Form von globalen Belastungen
wie Klimawandel, Ernteausfällen und Armutsmigration? Ist nicht auch der ökologische
Kollaps von ganzen Zivilisationen eine realistische Annahme [6]? Der „One Health“-Ansatz erkennt zunehmend die Interdependenz von menschlicher Gesundheit
mit Aspekten der Ökologie und der Gesundheit der Tiere an (Manhattan Principles, 2004),
bisweilen wird auch schon von einer planetaren Gesundheit gesprochen [7]. Bezogen auf Gesundheit und das medizinische Versorgungssystem wird vor diesem Hintergrund
der Ruf nach einer guten „Stewardship“ laut: Hierunter versteht die WHO ein kluges
Regierungshandeln, welches im Wettstreit stehende Interessen in Hinblick auf bestmögliche
und nachhaltige Gesundheitschancen ausbalanciert. Dabei werden Werte wie Chancengerechtigkeit,
Zugang, Inklusion, Qualität und Patientenrechte berücksichtigt (http://www.who.int/healthsystems/stewardship/en/).
Mit den vielfältigen gesellschaftlichen und humanitären Fragen menschlicher Gesundheit
auch als menschlicher Leistung beschäftigen sich auch die Beiträge in dieser Ausgabe:
mit den Perspektiven der Universitätsmedizin, dem Konsum psychotroper Substanzen während
der Ausbildung, den regionalen Unterschieden der Versichertenpopulation, den Assoziationen
von Krankenversicherung und soziodemografischen Merkmalen, der Optimierung der kommunalen
Gesundheitsversorgung, dem Gate-Keeping-Ansatz im Gesundheitswesen in China, der Teilhabe
als Ziel von Sozialmedizin und Pflege, der Stufendiagnostik nach der Richtlinie des
GBA und mit Kostenansätzen zur monetären Bewertung von Leistungen.
Dass vor Utopien auch gewarnt werden muss, hat uns unter anderem Karl Popper ans Herz
gelegt: „Der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeugt stets die Hölle“
[8]. Die traurige historische Beweisführung wurde von den verschiedenen Zerrbildern
staatlicher Ordnung im 20. Jahrhundert eindrücklich geliefert, als Folgen der Heils-Doktrinen
Hitlers, Stalins, Pol Pots und weiterer totalitärer Herrscher. Ob Paradiesgarten oder
himmlische Stadt oder gar etwas Drittes – vielleicht unser Planet im Ganzen –, der
Schlüssel zum Paradies dürfte in der Annahme der Welt als das, was sie ist, liegen.
Mit ihrer Schönheit und eben auch ihren schmerzlichen Herausforderungen. Daseinsbewältigung
und Daseinsverbesserung verlangen zunächst die Annahme der realen Herausforderungen,
ein oft mühsam geschaffenes Wissen und eine begleitende, oft nicht weniger mühsam
erarbeitete individuelle und kollektive Weisheit. So ist der größte Reichtum unserer
Welt aus dieser Perspektive vor allem unsere menschliche Energie, in städtischen wie
in ländlichen Regionen – und Gesundheit ist einer der wesentlichen Schlüssel zu dieser
Energie [9].