Gesundheitswesen 2017; 79(S 01): S2-S3
DOI: 10.1055/s-0042-123346
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nationale Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung

National Recommendations for Physical Activity and Physical Activity Promotion
Klaus Pfeifer
1   Lehrstuhl Bewegung und Gesundheit, Institut für Sportwissenschaft und Sport, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen
,
Alfred Rütten
2   Lehrstuhl Public Health und Bewegung, Institut für Sportwissenschaft und Sport, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Klaus Pfeifer
Lehrstuhl Bewegung und Gesundheit
Institut für Sportwissenschaft und Sport
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Gebbertstraße 123b, 91058 Erlangen

Publication History

Publication Date:
11 April 2017 (online)

 

    Liebe Leserinnen und Leser,

    es ist heute mit hohem Evidenzgrad nachgewiesen, dass ein Mindestmaß an regelmäßiger körperlicher Aktivität ein erheblicher Schutzfaktor gegen das Auftreten nicht ansteckender chronischer Erkrankungen und gegen frühzeitiges Versterben ist. Bewegungsmangel ist als eigenständiger Risikofaktor für das Auftreten dieser Krankheiten anerkannt, mit einer vergleichbaren Bedeutung wie Rauchen oder Übergewicht. Demzufolge gewinnt die Entwicklung neuer Strategien zur bevölkerungsbezogenen sowie individuellen Bewegungsförderung erheblich an Bedeutung. Zwei kürzlich erschienene Sonderhefte in der Zeitschrift „The Lancet“ zum Thema Gesundheitswirkungen von Bewegung, Bewegungsmangel und Bewegungsförderung beschreiben die Hintergründe und stehen beispielhaft für diesen wissenschaftlich begründeten Bedeutungsgewinn [1,2].


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    Hervorzuheben ist insbesondere die große „Breitbandwirkung“ von ausreichender Bewegung in Bezug auf eine Vielzahl chronischer Erkrankung („exercise as polypill”, [3]). In Bezug auf den potentiell großen individuellen, kollektiven und ökonomischen Nutzen einer körperlich aktiven Lebensweise werden Maßnahmen der Bewegungsförderung als „best buy” der Gesundheitsförderung empfohlen [4]. Die Begriffe „Bewegung“ und, hier synonym verwendet, „körperliche Aktivität“ umfassen dabei das gesamte Spektrum von Alltagsbewegung, z. B. Fahrradfahren und Zufußgehen als bewegungsaktiver Transport, bis zu sportlichen Aktivitäten, sofern diese der Gesundheit nutzen und gesundheitliche Gefährdungen vermeiden [5].

    Ein wichtiger Baustein für die Initiierung und Umsetzung von Maßnahmen der bewegungsbezogenen Gesundheitsförderung ist die Formulierung von zielgerichteten und wissenschaftlich begründeten Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung. 2016 wurden erstmals „Nationale Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung“ für Deutschland veröffentlicht (www.bewegungsempfehlungen.de). Die Erstellung dieser Empfehlungen wurde 2014 in einer intersektoral besetzten Arbeitsgruppe zur Bewegungsförderung im Alltag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) initiiert und durch die Projektförderung des BMG ermöglicht. Wichtige Rahmenbedingungen dafür ergaben sich zudem aus politischen Forderungen der WHO [6], der Europäischen Kommission [7], des Europäischen Rats [8] sowie letztlich national aus einem gemeinsamen Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) und der Sportministerkonferenz (SMK [9]).

    Im internationalen Vergleich war die Erstellung nationaler Empfehlungen für Deutschland überfällig. Nach ersten, noch auf den Sport im engeren Sinne bezogenen Empfehlungen im Jahr 1978 [10] folgten 1995 in den USA Empfehlungen, in denen die gesundheitsförderliche Bewegung im Alltag berücksichtigt wurde [11]. In der Folge der 2010 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichten „Global Recommendations on Physical Activity for Health“ [12] erschienen nationale Bewegungsempfehlungen weiterer Länder, wie Großbritannien [13], Österreich [14], Schweiz [15] Australien [16] und Kanada [17].

    Für die Entwicklung der „Nationalen Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung“ für Deutschland wurden folgende Prämissen festgelegt:

    • Eine Anpassung bzw. Aktualisierung der international vorliegenden, vornehmlich auf das individuelle Verhalten gerichteten, Bewegungsempfehlungen wurde als notwendig, aber im Hinblick auf die Herausforderung einer breitflächigen Disseminierung und Implementierung von Strategien und konkreten Maßnahmen der Bewegungsförderung als nicht ausreichend erachtet. Daher sollten zusätzlich Empfehlungen für Bewegungsförderung entwickelt werden, in denen jeweils die Lebenswelten der relevanten Zielgruppen (Kindern und Jugendliche, Erwachsene, ältere Erwachsene, Menschen mit Vorerkrankungen) sowie Interventionswege zur Erreichung der gesamten Bevölkerung zu berücksichtigen waren.

    • Die in den international vorliegenden Empfehlungen für Bewegung vorhandene Zielgruppendifferenzierung (Kindern und Jugendliche, Erwachsene, ältere Erwachsenen) sollte erweitert werden um die Zielgruppe von Menschen mit chronischen Erkrankungen bzw. mit Vorerkrankungen.

    • Die Entwicklung der Nationalen Empfehlung für Bewegung und Bewegungsförderung sollte inhaltlich und methodisch wissenschaftlich fundiert sein, d. h. die aktuelle Evidenzlage zum Thema berücksichtigen, internationalen methodischen Standards genügen und damit transparent und nachvollziehbar sein.

    Die Autoren der Beiträge des vorliegenden Sonderhefts schlossen sich in einem Projektkonsortium zur Entwicklung der Empfehlungen zusammen und verabredeten zu Beginn ein gemeinsames methodisches Vorgehen. Als Grundlage für die (Weiter-)Entwicklung der Empfehlungen für Bewegung wurden systematische Literaturrecherchen, kriteriengeleitete Qualitätsbewertungen sowie Inhaltsanalysen und -synthesen von international vorhandenen Bewegungsempfehlungen sowie hochwertigen Übersichtsarbeiten festgelegt. Die Grundlage für die Entwicklung der Empfehlungen für Bewegungsförderung bildeten ebenfalls systematische Literaturrecherchen und Evidenzsynthesen auf Basis der international gültigen methodischen Standards.

    Zweck des vorliegenden Sonderhefts ist es, die theoretischen Hintergründe, das methodische Vorgehen und die einzelnen Ergebnisse bei der Entwicklung der Nationalen Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung umfassend zu beschreiben. Entsprechend finden sich in diesem Heft verschiedene Beiträge der an der Entwicklung der Empfehlungen beteiligten Autorengruppen.

    Im ersten Teil zu den Empfehlungen für Bewegung folgen nach der einführenden Darstellung des methodischen Vorgehens (Geidl & Pfeifer) die einzelnen zielgruppenbezogenen Beiträge zu Kindern und Jugendlichen (Graf et al.), Erwachsenen und älteren Erwachsenen (Füzeki et al.) und Menschen mit chronischen Erkrankungen (Pfeifer& Geidl). Zusätzlich erhalten die in den Empfehlungen für Erwachsene zwar integrierten, aber dort nicht explizit ausgeführten Bewegungsempfehlungen für Frauen während und nach der Schwangerschaft einen eigenen Raum (Ferrari & Graf).

    Im zweiten Teil zu den Empfehlungen für Bewegungsförderung beschreiben Rütten et al. zunächst den theoretischen Rahmen und die Evidenzbasis. Darauf folgt eine Übersichtsarbeit zu Interventionen der Bewegungsförderung (Abu-Omar et al.), gefolgt von einer Analyse der Kosteneffektivität entsprechender Maßnahmen (Rütten et al.). Messing & Rütten beschreiben dann Qualitätskriterien für erfolgreiche Bewegungsförderungsmaßnahmen.

    Den Abschluss des Heftes bildet ein Beitrag von Henn et al., in dem das methodische Vorgehen und Ergebnisse bei der Identifikation von Beispielen guter Praxis der Bewegungsförderung dargestellt werden. Dieser Beitrag entspringt einem weiteren Arbeitspaket des Projektkonsortiums und wird unter Federführung von Alexander Woll in umfassenderer Form in naher Zukunft ebenfalls als Buchpublikation vorliegen.

    Die hier zusammengestellten Beiträge bieten einerseits Ansatzpunkte für die Diskussion, die Weiterentwicklung und die Verbreitung der Nationalen Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung. Insbesondere die Dissemination der Empfehlungen wird aktuell in einem Anschlussprojekt bearbeitet. Dabei werden unter Beteiligung von Vertretern der Zielgruppen und Lebenswelten, von Akteuren und Organisationen im Gesundheitswesen sowie der Wissenschaft zielgruppengerechte Medien und Materialien erarbeitet sowie passfähige Verbreitungs- und Implementierungswege identifiziert, Ergebnisse sind im Laufe des Jahres 2017 zu erwarten. Andererseits liefern die vorliegenden Beiträge die Basis für eine weiterführende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema aus Sicht der Gesundheitswissenschaften, der Medizin, der Sportwissenschaft, der Versorgungsforschung u. a. und bieten Ansatzpunkte für die interdisziplinäre Bearbeitung weiterführender Fragestellungen.

    Unser ausdrücklicher Dank gilt an dieser Stelle dem Bundesministerium für Gesundheit für die Projektförderung und dort insbesondere Frau Dr. Ute Winkler für die stetige gute Unterstützung. Wir danken allen Autorinnen und Autoren herzlich für die Bereitschaft zur Mitwirkung und für ihr Engagement. Zudem danken wir Klaus Bös, Sonia Kahlmeier und Willem van Mechelen für das Einbringen ihrer fachwissenschaftlichen Expertise im wissenschaftlichen Beirat. Ein besonderer Dank gilt auch allen Mitgliedern der Arbeitsgruppe Bewegungsförderung im Alltag für die konstruktiven Rückmeldungen und Anregungen im Entwicklungsprozess.


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    Prof. Dr. Klaus Pfeifer

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    Prof. Dr. Dr. h. c. Alfred Rütten

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    Ergänzendes Material


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    Institut für Sportwissenschaft und Sport
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    Gebbertstraße 123b, 91058 Erlangen


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