Eine Hirnschädigung kann das Leben eines Menschen von einem Moment auf den anderen
verändern. Die neue Lebenssituation zu akzeptieren, erfordert Mut, Kraft und Zuversicht.
Matthias Arnold und Gerhard Pfeiffer[*] befinden sich in einer stationären neurologischen Reha. Herr Arnold, 34, erlitt
während einer Autofahrt eine intrazerebrale Blutung. Im Anschluss an die Akutversorgung
wurde eine dreimonatige Reha veordnet, da eine Hemiplegie der rechten Körperseite
geblieben ist. Bei Herrn Pfeiffer, 74, hatte ein ischämischer Hirninfarkt eine rechtsseitige
Hemiparese zur Folge. Er kann nicht mehr sprechen, nur noch Laute von sich geben.
Nach einem mehrwöchigen Aufenthalt im Akutkrankenhaus schloss sich eine Frühreha in
einer neurologischen Fachklinik an.
Coping beschreibt einen individuellen Problemlöseprozess.
Eine große Aufgabe
Beide Patienten stehen vor der Aufgabe, ihre veränderte Lebenssituation anzunehmen.
Sie haben Probleme, ihre Krankheit zu bewältigen, was den Rehaprozess negativ beeinflusst.
Herr Arnold etwa reagiert gegenüber dem Therapeuten trotzig, ablehnend und depressiv.
Zudem verleugnet er, dass er beeinträchtigt ist. Herr Pfeiffer dagegen verhält sich
angstgesteuert und vermeidet herausfordernde Situationen.
In dieser Situation ist ein funktionelles Training kaum wirksam, da der Transfer in
den Alltag nicht gelingt. Mangelnde Erfahrung mit dem neuen Handicap und die Kliniksituation
fernab des Alltags verleiten manche Patienten dazu zu glauben, dass sie nach der Reha
zu Hause zurechtkommen. Deshalb ist es wichtig, lebenspraktische Therapieziele zu
formulieren [1]. Passen Therapeuten die Behandlung an den Alltag an und lassen sie
außerhalb der Klinik im alltäglichen Leben stattfinden, unterstützen sie Patienten
dabei, die Krankheit zu verarbeiten und die Symptome problematischer Krankheitsbewältigung
zu reduzieren [4].
Coping als Problemlöseprozess
Coping als Problemlöseprozess
Der Begriff Coping steht für die Krankheitsverarbeitung und beschreibt nach Lazarus
und Babinsky einen individuellen Problemlöseprozess [2]. Dieser Prozess bezieht sich
auf die subjektiv wahrgenommene Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Situation und
dem Einschätzen der eigenen Bewältigungsfertigkeiten. Entscheidend für das Coping-Verhalten
ist, wie der Patient diese Kluft bewertet [3]. Nimmt er die Diskrepanz eher herausfordernd
wahr, wird er sich aktiv verhalten. Dazu gehören kämpferische und informationssuchende
Krankheitsverarbeitungsstile, die man als problembezogenes Coping bezeichnet (TAB.
1) [3].
Wenn Emotionen das Ruder übernehmen
Wenn Emotionen das Ruder übernehmen
Nimmt der Patient hingegen die Kluft zwischen Anforderungen und eigenen Möglichkeiten
als eher bedrohlich wahr, zeigt er ängstlich-vermeidendes oder passiv-abwartendes
Verhalten – wie Herr Pfeiffer. Es kann auch zu verdrängendem Verhalten kommen. Diese
Formen bezeichnet man als emotionsregulierendes Coping (TAB. 1). In die subjektive
Bewertung fließen lerngeschichtliche Erfahrungen ein, zum Beispiel wie bisherige Krisen
bewältigt wurden. Auch gesellschaftliche Einstellungen und Normen, etwa gegenüber
Menschen mit Behinderung, Frührentnern oder psychisch Erkrankten, beeinflussen die
Bewertung.
Coping diagnostizieren
Da sich das Coping-Verhalten individuell zusammensetzt, lässt es sich nur schwer diagnostisch
erfassen. Das Hauptproblem dabei ist, dass Krankheitsverarbeitung ein zeitlicher Prozess
ist und sich verändert bzw. erst entwickelt.
Therapeuten können jedoch die Krankheitsverarbeitung eines Patienten zu einem bestimmten
Zeitpunkt erheben und untersuchen, ob die vorliegenden Coping-Stile Ausdruck einer
gelungenen oder einer problematischen Krankheitsverarbeitung sind. Dafür eignen sich
beispielsweise der Freiburger Fragebogen zur Krankheitsverarbeitung (FKV) [3] oder
die Trierer Skalen zur Krankheitsbewältigung (TSK) [5].
Problematisches Coping und seine Symptome
Problematisches Coping und seine Symptome
Sobald der Therapeut bei einem Patienten Schwierigkeiten in der psychosozialen Anpassung
wie einen sozialen Rückzug beobachtet oder starke Emotionen den Rehaprozess behindern,
kann er auf eine problematische Krankheitsverarbeitung schließen.
Starke Gefühle oder fehlende adäquate Emotionen deuten auf eine emotionsregulierende
Krankheitsverarbeitung hin. Man kann sie vereinfacht in vier Kategorien einteilen,
die als Symptome problematischer Krankheitsverarbeitung gelten: Ängste, Depressionen,
Trotz und Ablehnung sowie Verleugnung (TAB. 2, S. 28). Durch sie wird der Patient
immer passiver, zieht sich zurück und vermeidet zunehmend Aktivitäten außer Haus.
Er traut sich nichts Neues mehr zu und vernachlässigt den Kontakt zu Familie und Freunden.
Reines Funktionstraining hebt das Problem nicht auf, denn meist arbeitet der Patient
während des Klinikaufenthaltes mit, weigert sich aber, das Gelernte in seinen Alltag
zu übernehmen.
Bei manchen führt jedes Konfrontieren mit Leistungsgrenzen zu einem Stimmungseinbruch,
zu Trotzreaktionen oder zu sofortigem Resignieren. Das gefährdet den Lernfortschritt
schon während des Klinikaufenthaltes [4]. Das Vermeidungsverhalten führt dazu, dass
ihr Alltag von immer weniger Aktivitäten bestimmt ist, die Erfolgserlebnisse bringen
oder Freude bereiten können. Das verstärkt die depressive, ängstliche Haltung – eine
Abwärtsspirale setzt sich in Gang.
Mit Verständnis, Aufklärung und Annahme kann die Therapeutin ihren Patienten erreichen.
Abb.: Photographee.eu/fotolia.com (nachgestellte Situation)
TAB. 1 Einteilung der zwei Coping-Stile nach Muthny (1989)
Beispiele für problembezogenes Coping
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Beispiele für emotionsregulierendes Coping
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Problemanalyse
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aktives problemorientiertes Coping
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Informationssuche
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Ablenkung und Selbstaufwertung
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Relativierung durch Vergleich
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Compliance-Strategien
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Arztvertrauen
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Selbstermutigung
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depressive Verarbeitung
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Religiosität und Sinnsuche
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Misstrauen und Pessimismus
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kognitive Vermeidung
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Dissimulation
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Gefühlskontrolle und sozialer Rückzug
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regressive Tendenz
-
Bagatellisierung
-
Wunschdenken
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[Aus: Götze R, Höfer B. AOT – Alltagsorientierte Therapie bei Patienten mit erworbener
Hirnschädigung. Stuttgart: Thieme; 1999]
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Therapie am Alltag orientieren
Therapie am Alltag orientieren
Passt der Therapeut die Behandlung an den Alltag des Patienten an, hilft er ihm, die
Erkrankung zu verarbeiten. Je nach persönlichem Schwerpunkt trainiert er mit ihm zum
Beispiel das Spazierengehen, das Einkaufen oder das Weiterführen von Hobbys. So kann
er den Kreislauf aus Vermeidung und Rückzug durchbrechen. Erfolgserlebnisse nimmt
der Patient in solchen Situationen intensiver wahr, da sie an seine Alltagserfahrungen
anknüpfen. Er lernt, dass sich seine Befürchtungen und Katastrophenfantasien nicht
bestätigen, beispielsweise beim Spazierengehen zu stürzen. Stattdessen lernt er, alltägliche
Aufgaben zu bewältigen.
Typische Schwierigkeiten
Auch wenn Therapeuten so versuchen, die Krankheitsverarbeitung zu unterstützen, können
bei depressiven, ängstlichen oder auch trotzig-ablehnenden Patienten typische Schwierigkeiten
in der Therapie auftreten:
-
Sie lehnen Vorschläge des Therapeuten ab.
-
Sie reden den eigenen Erfolg schlecht und trauen sich nichts zu.
-
Sie machen aus einem kleinen Missgeschick eine Katastrophe.
-
Sie geben bei einem Hindernis sofort auf.
-
Sie verweigern ein am Vortag festgelegtes Ziel.
-
Sie sind zu stark auf den Therapeuten fixiert.
Ein Grundstein der Behandlung ist es deshalb, eine vertrauensvolle therapeutische
Beziehung zu schaffen. Wenn eine Vertrauensebene besteht, kann der Therapeut versuchen,
den Patienten trotz Skepsis etwa für eine Gruppentherapie zu gewinnen und in diese
ein- bis zweimal reinzuschnuppern und zuzusehen. Der Therapeut versichert dem ängstlichen
Patienten, dass er die Therapie jederzeit abbrechen darf und dass er nichts tun muss,
was er sich partout nicht zutraut [4]. Lehnt der Patient die Teilnahme trotzdem ab,
lohnt es sich, zu einem späteren Zeitpunkt einen zweiten Versuch zu wagen. Bis dahin
kann der Therapeut Maßnahmen einfließen lassen, um die Beziehung zu verbessern [4].
Dazu gehört, dass er dem Patienten verständlich die Ursache der Hirnschädigung und
die Auswirkungen auf seinen Alltag erklärt und ihn explizit nach seinem Befinden fragt.
Fühlt er sich aufgeklärt, emotional akzeptiert und verstanden, lässt er sich eher
auf Veränderungsprozesse ein.
Bei Ängsten und Depressionen erleben Patienten die emotionale Beeinträchtigung bewusst
mit. Trotzig-ablehnende Patienten hingegen spüren den ursprünglichen Afekt (z. B.
Trauer, Wut) nicht bewusst. Sie nehmen ihre Behinderung als emotional nicht zu bewältigende
Gefahr für die eigene Identität wahr. Deshalb ist es wichtig, das physiotherapeutische
Handeln stets mit dem behandelnden Psychotherapeuten abzustimmen, um sich auf eine
Vorgehensvariante festzulegen (z. B. stützend, konfrontierend, paradox) [4].
Umgang mit Ängsten
Herr Pfeiffer hat bislang alle Handlungen vermieden, vor denen er Angst hat. Deshalb
hatte er bisher keine Erfolge im funktionellen Training. Die Angst zu versagen ist
für den 74-Jährigen zu groß. Deshalb hat sich der Physiotherapeut in Absprache mit
dem Psychotherapeuten dazu entschieden, Herrn Pfeiffer in der Therapie mit seiner
Angst zu konfrontieren. Wichtig ist, dass der Therapeut in dieser Situation sehr behutsam
vorgeht, denn der Patient durchläuft hier ein Angstkonfrontationstraining: Im besten
Falle überschreitet er seine vorerst subjektiv wahrgenommenen Grenzen.
TAB. 2 Die vier Symptome problematischer Krankheitsverarbeitung mit Beispielen
Ängste
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Scham und Angst, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, sich zu blamieren oder angestarrt
zu werden
-
intensive Selbstbeobachtung körperlicher Symptome
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diffuse Angst zu stürzen oder umgerannt zu werden, bewusstlos umzufallen oder keine
Luft zu bekommen
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Angst vor epileptischen Anfällen in der Öffentlichkeit
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Depressionen
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Trotz und Ablehnung
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trotzige Ablehnung von therapeutischen Vorschlägen, Passivität
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Gekränktsein durch die Erkrankung oder Behinderung
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Verleugnung
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[Aus: Götze R, Höfer B. AOT – Alltagsorientierte Therapie bei Patienten mit erworbener
Hirnschädigung. Stuttgart: Thieme; 1999]
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Angsthierarchie abarbeiten
Angsthierarchie abarbeiten
Bewährt hat sich ein stufenweises Vorgehen, bei dem der Therapeut eine Angsthierarchie
erstellt – von der bedrohlichsten bis zu der am wenigsten beängstigenden Situation
[4]. Die Behandlung beginnt mit der am wenigsten angstauslösenden Situation. Wenn
Herr Pfeiffer diese gemeistert hat, kann der Therapeut mit ihm zur nächsten Situation
übergehen. Bei einer motorischen Störung beispielsweise sind die Situationen umso
bedrohlicher, je gefährlicher ein potenzieller Sturz wäre. So fällt es Herrn Pfeiffer
leichter, auf eine nach oben fahrende Rolltreppe zu steigen als auf eine nach unten
fahrende. Seine Angst wird stärker, je näher der Zeitpunkt der Konfrontation rückt.
Der Therapeut berücksichtigt dies und bestärkt ihn darin, den Versuch jetzt zu wagen.
Wenn Herr Pfeiffer die Situation gut gemeistert hat, ermutigt er ihn, dieselbe Situation
noch einmal auszuprobieren.
Idealerweise wiederholen sie den Vorgang so oft, bis der Patient angstfrei in das
Handlungsumfeld hineingeht. Dann kann der Therapeut den Schwierigkeitsgrad stufenweise
steigern, indem er schrittweise auf Distanz geht. Die schwierigste Stufe für Herrn
Pfeiffer wäre es, die Aktivität allein zu unternehmen und sich anschließend wieder
mit seinem Therapeuten zu treffen. Bei einer Angstbewältigung ist es sehr wichtig,
die letzte Stufe zu erreichen, weil sie sicherstellt, dass sich der Patient die Aktivität
auch ohne Begleitung zutraut.
Oft ist es schwierig, eine Angsthierarchie aus den Äußerungen des Patienten abzuleiten.
Durch Vermeidungsverhalten fehlt es vielen an Erfahrung. Und so ist es für einige
schwierig zu benennen, was ihnen weniger und was besonders viel Angst macht. Da Auslöser
für Ängste bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung meist die Einschränkungen aufgrund
motorischer, visueller, sprachlicher und kognitiver Störungen sind, hat die Angst
einen objektiven Hintergrund. So können Therapeuten bereits aus den beeinträchtigten
Funktionen in Verbindung mit alltäglichen Anforderungen auf eine Angsthierarchie schließen
[4]. Wenn sie mit ihrem Patienten die Aktivitäten im Anschluss auswerten, achten sie
darauf, dass er differenziert wahrnimmt, was er alleine geschaft hat. Denn ängstliche
Patienten neigen dazu, ihre eigene Leistung zu unterschätzen [4].
Umgang mit Depressionen
Der 34-jährige Herr Arnold ist depressiv und hat unberechenbare Stimmungseinbrüche.
Er neigt zu Antriebs- und Interessenlosigkeit. Ziel der Therapie ist es, ein Minimum
an Eigenaktivität aufzubauen. Der Therapeut sucht nach möglichen Aktivitäten und Zielen
und macht Vorschläge. Trotz mangelnden Antriebs lässt sich Herr Arnold darauf ein,
innerhalb des Vorschlags eine Teilaufgabe zu übernehmen, um sie eigenverantwortlich
umzusetzen. Der Umfang der Aufgabe ist hierbei nicht entscheidend – auch wenn sie
nicht den objektiven Fähigkeiten des Patienten entspricht. Wichtiger ist, dass der
Patient auch in gedrückter Stimmung seine Teilaufgabe schafft. Der Therapeut beachtet
die Vorschläge seines Patienten und bezieht sie mit ein [4].
Herr Arnold neigt dazu, kleine Missgeschicke überzubewerten und Erfolge und Fortschritte
abzuwerten. Deshalb achtet der Physiotherapeut beim Auswerten von Aktivitäten ganz
besonders auf ihre Gesprächsführung. Indem er dem Patienten widerspricht und versucht,
einen Erfolg einzureden, riskiert er das Vertrauensverhältnis in der therapeutischen
Beziehung. Deshalb lässt er die negativen Bewertungen von Herrn Arnold zunächst unkommentiert
und ermutigt ihn durch Fragen dazu, andere Aspekte der Aktivität zu bewerten.
Hat der Patient Angst, eine Rolltreppe zu benutzen, kann er das in der Alltagstherapie
schrittweise abbauen.
Abb.: Creativemarc/fotolia.com (nachgestellte Situation)
In der dritten Behandlung hat Herr Arnold beispielsweise die Aufgabe, in einem kleinen
Lebensmittelgeschäft einige Besorgungen zu machen. Im Nachhinein empfindet er das
Training als gescheitert, da er beim Einpacken der Ware an der Kasse auf die Hilfe
des Verkäufers angewiesen war. Der Therapeut geht in der Nachbesprechung nicht auf
seine Schwarzmalerei ein, fragt hingegen, was gut gelaufen ist. Herr Arnold würdigt
die Geduld und Hilfsbereitschaft des Verkäufers, der ihm unaufgefordert unter die
Arme griff. So hat der Patient einen positiven Aspekt gefunden. Den verstärkt und
betont der Physiotherapeut nachträglich. Er führt das Auswertungsgespräch direkt im
Anschluss an die Aktivität durch, weil nur dann positive Aspekte für den Patienten
wahrnehmbar sind [4].
Umgang mit Trotz und Ablehnung
Umgang mit Trotz und Ablehnung
Nach den Wochenenden verstärkt sich bei Herrn Arnold häufig die psychische Symptomatik.
Alltagspraktische Übungen wie ein Gruppenspaziergang zum nahe gelegenen Ort lehnt
er trotzig ab. Er vertritt hartnäckig den Standpunkt, erst wieder ganz gesund werden
zu müssen, bevor er vor die Tür geht. Patienten, die jedem Vorschlag trotzig-ablehnend
begegnen, können Gefühle wie Wut und Hilflosigkeit bei Therapeuten auslösen – exakt
die Gefühle, die die Patienten selbst zu bewältigen versuchen. Die Macht über andere
ist oft die einzige Selbstbestätigung, die sie erleben. Das macht es auch so schwer,
dieses problematische Verhalten abzulegen.
Der indirekte Weg
Es gibt kein allgemein gültiges Vorgehen bei Patienten mit trotzig-ablehnender Haltung.
Ermutigung, Aufklärung und Informationsgabe durch den Therapeuten verstärken eher
den Widerstand des Patienten. Die Praxis hat aber gezeigt, dass ein indirekter Weg
zum Ziel führt. Der Patient macht die Aktivität zwar mit, muss ihr jedoch nicht zwangsläufig
zustimmen. Interventionsmöglichkeiten, die genau darauf abzielen, sind [4]:
-
Humor: Wenn es dem Therapeuten gelingt, ablehnenden Äußerungen des Patienten mit Humor
zu begegnen, zeigt er ihm modellhaft einen Ausweg aus der Hilflosigkeit.
-
Paradoxe Intervention: Der Therapeut übersteigert bzw. übertreibt das Gesagte des
Patienten. Das hat einen ähnlichen Effekt wie Humor.
-
Beiläufige Anleitung: Um eine verbale Zustimmung des Patienten zu umgehen, kann der
Therapeut in der Vorbesprechung kommentarlos davon ausgehen, dass er mitkommt bzw.
mitmacht. Er kann ihn auch beiläufig darum bitten, eine für ihn schwierige Aufgabe
zu erledigen, um einem anderen Patienten zu helfen. In der Nachbesprechung gibt er
maximal beiläufige Kommentare, was er gut bewältigt hat.
-
Modelllernen in der Gruppe: Um den Widerstand des Patienten zu umgehen, lässt der
Therapeut ihn in der Gruppe „mitlaufen“. So kann er bei anderen Teilnehmern beobachten,
wie sie eine schwierige Situation meistern. Der Therapeut kann aber auch die anderen
Gruppenmitglieder dazu anregen, den trotzigen Patienten zu ermutigen, etwas auszuprobieren.
Anregungen und Kritik von anderen Gruppenmitgliedern sind meist leichter tolerierbar
als vom Therapeuten selbst.
Starke Emotionen können auf eine emotionsregulierende Krankheitsverarbeitung hinweisen.
Umgang mit Verleugnung
Nach einigen Wochen intensiver Therapie ist aus medizinischer Sicht klar, dass bei
Herrn Arnold keine wesentlichen Verbesserungen, vor allem im Bereich der Armund Handfunktionen,
zu erwarten sind. Dadurch rücken Themen wie „Leben mit der Behinderung“ immer mehr
in den Mittelpunkt. Gespräche zwischen dem Therapeuten und Herrn Arnold fahren sich
schnell fest: Er verneint seine Behinderung und macht demonstrativ motorische Übungen
für seinen Arm. Der Therapeut fühlt sich häufig hilflos bei dem Versuch, seinem Patienten
die Realität widerzuspiegeln. Auf Handlungsebene kann er schließlich einen Kompromiss
mit ihm finden, sodass sie im Anschluss an das Funktionstraining noch eine kleine
Alltagstätigkeit wie das Jackean- und -ausziehen ausprobieren. Unabhängig von einer
krankheitsbedingten Unawareness (Unwissenheit) kann der Grund verleugnenden Verhaltens
auch ein anderer sein: Mit der Verleugnung der Behinderung versucht der Patient, die
massiv subjektive Bedrohung seiner Identität emotional zu bewältigen [4]. Eine direkte
Konfrontation kann wie bei Herrn Arnold die Symptomatik verstärken oder sogar zum
psychischen Zusammenbruch führen. Eine Möglichkeit für diese therapeutische Gratwanderung
ist die „doppelte Buchführung“: Der Physiotherapeut zweifelt hierbei die Aussagen
des Patienten in keiner Weise an. Jedoch regt er ihn dazu an, ein besonderes Verhalten
nur für diesen Einzelfall anders auszuprobieren. Er kann den Patienten auch dazu ermutigen,
die Aktivität einmal entsprechend seinem Vorschlag durchzuführen, auch wenn es nur
für die heutige Leistungsform gilt.
Wichtig für Menschen mit verleugnendem Verhalten ist das Handeln anderer Patienten.
So kann der Therapeut in der Nachbesprechung die Gruppenteilnehmer dazu anregen, Handlungen
zu kommentieren oder Kritik zu äußern – und sich selbst zurückhalten.
Einfühlsames Vorgehen
Die Krankheitsverarbeitung ist ein langfristiger Prozess. Deshalb ist es förderlich,
die an den Alltag angepasste Therapie über einen langen Zeitraum beizubehalten. Denn
trotz typischer Symptome problembezogener Krankheitsbewältigung ist die Wirkung der
Aktivitäten in der Situation spürbar [4]. Durch einfühlsames Vorgehen kann der Therapeut
den Patienten dabei unterstützen, seine Krankheit zu verarbeiten sowie die Behinderung
und die veränderte Lebenssituation anzunehmen. Eine enge Absprache mit dem behandelnden
Psychotherapeuten kann dem Therapeuten wichtige Ansätze an die Hand geben, sein eigenes
therapeutisches Vorgehen zu steuern.
Bettina M. Bursik