physiopraxis 2017; 15(01): 26-30
DOI: 10.1055/s-0042-123334
Therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Coping in der Therapie – Krankheit bewältigen

Bettina M. Bursik

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Publication Date:
07 January 2017 (online)

 

Einigen Patienten fällt es schwer, ihre Erkrankung oder Behinderung zu akzeptieren. In der neurologischen Reha ist es daher sinnvoll, die Therapie an den Alltag des Patienten anzupassen, um die Krankheitsbewältigung zu fördern. Für den Therapeuten gilt es, dank des Hintergrundwissens professionell zu bleiben.


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Bettina M. Bursik

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Bettina M. Bursik ist Ergotherapeutin und arbeitet in der Redaktion von ergopraxis. Sie hat sich intensiv mit der Krankheitsbewältigung nach einer Hirnschädigung auseinandergesetzt und auf Grundlage des Buches „AOT – Alltagsorientierte Therapie bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung“ von Renate Götze und Benita Höfer diesen Artikel erstellt.

Eine Hirnschädigung kann das Leben eines Menschen von einem Moment auf den anderen verändern. Die neue Lebenssituation zu akzeptieren, erfordert Mut, Kraft und Zuversicht. Matthias Arnold und Gerhard Pfeiffer[*] befinden sich in einer stationären neurologischen Reha. Herr Arnold, 34, erlitt während einer Autofahrt eine intrazerebrale Blutung. Im Anschluss an die Akutversorgung wurde eine dreimonatige Reha veordnet, da eine Hemiplegie der rechten Körperseite geblieben ist. Bei Herrn Pfeiffer, 74, hatte ein ischämischer Hirninfarkt eine rechtsseitige Hemiparese zur Folge. Er kann nicht mehr sprechen, nur noch Laute von sich geben. Nach einem mehrwöchigen Aufenthalt im Akutkrankenhaus schloss sich eine Frühreha in einer neurologischen Fachklinik an.

Coping beschreibt einen individuellen Problemlöseprozess.

Eine große Aufgabe

Beide Patienten stehen vor der Aufgabe, ihre veränderte Lebenssituation anzunehmen. Sie haben Probleme, ihre Krankheit zu bewältigen, was den Rehaprozess negativ beeinflusst. Herr Arnold etwa reagiert gegenüber dem Therapeuten trotzig, ablehnend und depressiv. Zudem verleugnet er, dass er beeinträchtigt ist. Herr Pfeiffer dagegen verhält sich angstgesteuert und vermeidet herausfordernde Situationen.

In dieser Situation ist ein funktionelles Training kaum wirksam, da der Transfer in den Alltag nicht gelingt. Mangelnde Erfahrung mit dem neuen Handicap und die Kliniksituation fernab des Alltags verleiten manche Patienten dazu zu glauben, dass sie nach der Reha zu Hause zurechtkommen. Deshalb ist es wichtig, lebenspraktische Therapieziele zu formulieren [1]. Passen Therapeuten die Behandlung an den Alltag an und lassen sie außerhalb der Klinik im alltäglichen Leben stattfinden, unterstützen sie Patienten dabei, die Krankheit zu verarbeiten und die Symptome problematischer Krankheitsbewältigung zu reduzieren [4].


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Coping als Problemlöseprozess

Der Begriff Coping steht für die Krankheitsverarbeitung und beschreibt nach Lazarus und Babinsky einen individuellen Problemlöseprozess [2]. Dieser Prozess bezieht sich auf die subjektiv wahrgenommene Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Situation und dem Einschätzen der eigenen Bewältigungsfertigkeiten. Entscheidend für das Coping-Verhalten ist, wie der Patient diese Kluft bewertet [3]. Nimmt er die Diskrepanz eher herausfordernd wahr, wird er sich aktiv verhalten. Dazu gehören kämpferische und informationssuchende Krankheitsverarbeitungsstile, die man als problembezogenes Coping bezeichnet (TAB. 1) [3].


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Wenn Emotionen das Ruder übernehmen

Nimmt der Patient hingegen die Kluft zwischen Anforderungen und eigenen Möglichkeiten als eher bedrohlich wahr, zeigt er ängstlich-vermeidendes oder passiv-abwartendes Verhalten – wie Herr Pfeiffer. Es kann auch zu verdrängendem Verhalten kommen. Diese Formen bezeichnet man als emotionsregulierendes Coping (TAB. 1). In die subjektive Bewertung fließen lerngeschichtliche Erfahrungen ein, zum Beispiel wie bisherige Krisen bewältigt wurden. Auch gesellschaftliche Einstellungen und Normen, etwa gegenüber Menschen mit Behinderung, Frührentnern oder psychisch Erkrankten, beeinflussen die Bewertung.


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Coping diagnostizieren

Da sich das Coping-Verhalten individuell zusammensetzt, lässt es sich nur schwer diagnostisch erfassen. Das Hauptproblem dabei ist, dass Krankheitsverarbeitung ein zeitlicher Prozess ist und sich verändert bzw. erst entwickelt.

Therapeuten können jedoch die Krankheitsverarbeitung eines Patienten zu einem bestimmten Zeitpunkt erheben und untersuchen, ob die vorliegenden Coping-Stile Ausdruck einer gelungenen oder einer problematischen Krankheitsverarbeitung sind. Dafür eignen sich beispielsweise der Freiburger Fragebogen zur Krankheitsverarbeitung (FKV) [3] oder die Trierer Skalen zur Krankheitsbewältigung (TSK) [5].


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Problematisches Coping und seine Symptome

Sobald der Therapeut bei einem Patienten Schwierigkeiten in der psychosozialen Anpassung wie einen sozialen Rückzug beobachtet oder starke Emotionen den Rehaprozess behindern, kann er auf eine problematische Krankheitsverarbeitung schließen.

Starke Gefühle oder fehlende adäquate Emotionen deuten auf eine emotionsregulierende Krankheitsverarbeitung hin. Man kann sie vereinfacht in vier Kategorien einteilen, die als Symptome problematischer Krankheitsverarbeitung gelten: Ängste, Depressionen, Trotz und Ablehnung sowie Verleugnung (TAB. 2, S. 28). Durch sie wird der Patient immer passiver, zieht sich zurück und vermeidet zunehmend Aktivitäten außer Haus. Er traut sich nichts Neues mehr zu und vernachlässigt den Kontakt zu Familie und Freunden. Reines Funktionstraining hebt das Problem nicht auf, denn meist arbeitet der Patient während des Klinikaufenthaltes mit, weigert sich aber, das Gelernte in seinen Alltag zu übernehmen.

Bei manchen führt jedes Konfrontieren mit Leistungsgrenzen zu einem Stimmungseinbruch, zu Trotzreaktionen oder zu sofortigem Resignieren. Das gefährdet den Lernfortschritt schon während des Klinikaufenthaltes [4]. Das Vermeidungsverhalten führt dazu, dass ihr Alltag von immer weniger Aktivitäten bestimmt ist, die Erfolgserlebnisse bringen oder Freude bereiten können. Das verstärkt die depressive, ängstliche Haltung – eine Abwärtsspirale setzt sich in Gang.

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Mit Verständnis, Aufklärung und Annahme kann die Therapeutin ihren Patienten erreichen.
Abb.: Photographee.eu/fotolia.com (nachgestellte Situation)

TAB. 1 Einteilung der zwei Coping-Stile nach Muthny (1989)

Beispiele für problembezogenes Coping

Beispiele für emotionsregulierendes Coping

  • Problemanalyse

  • aktives problemorientiertes Coping

  • Informationssuche

  • Ablenkung und Selbstaufwertung

  • Relativierung durch Vergleich

  • Compliance-Strategien

  • Arztvertrauen

  • Selbstermutigung

  • depressive Verarbeitung

  • Religiosität und Sinnsuche

  • Misstrauen und Pessimismus

  • kognitive Vermeidung

  • Dissimulation

  • Gefühlskontrolle und sozialer Rückzug

  • regressive Tendenz

  • Bagatellisierung

  • Wunschdenken

[Aus: Götze R, Höfer B. AOT – Alltagsorientierte Therapie bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung. Stuttgart: Thieme; 1999]


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Therapie am Alltag orientieren

Passt der Therapeut die Behandlung an den Alltag des Patienten an, hilft er ihm, die Erkrankung zu verarbeiten. Je nach persönlichem Schwerpunkt trainiert er mit ihm zum Beispiel das Spazierengehen, das Einkaufen oder das Weiterführen von Hobbys. So kann er den Kreislauf aus Vermeidung und Rückzug durchbrechen. Erfolgserlebnisse nimmt der Patient in solchen Situationen intensiver wahr, da sie an seine Alltagserfahrungen anknüpfen. Er lernt, dass sich seine Befürchtungen und Katastrophenfantasien nicht bestätigen, beispielsweise beim Spazierengehen zu stürzen. Stattdessen lernt er, alltägliche Aufgaben zu bewältigen.


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Typische Schwierigkeiten

Auch wenn Therapeuten so versuchen, die Krankheitsverarbeitung zu unterstützen, können bei depressiven, ängstlichen oder auch trotzig-ablehnenden Patienten typische Schwierigkeiten in der Therapie auftreten:

  • Sie lehnen Vorschläge des Therapeuten ab.

  • Sie reden den eigenen Erfolg schlecht und trauen sich nichts zu.

  • Sie machen aus einem kleinen Missgeschick eine Katastrophe.

  • Sie geben bei einem Hindernis sofort auf.

  • Sie verweigern ein am Vortag festgelegtes Ziel.

  • Sie sind zu stark auf den Therapeuten fixiert.

Ein Grundstein der Behandlung ist es deshalb, eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung zu schaffen. Wenn eine Vertrauensebene besteht, kann der Therapeut versuchen, den Patienten trotz Skepsis etwa für eine Gruppentherapie zu gewinnen und in diese ein- bis zweimal reinzuschnuppern und zuzusehen. Der Therapeut versichert dem ängstlichen Patienten, dass er die Therapie jederzeit abbrechen darf und dass er nichts tun muss, was er sich partout nicht zutraut [4]. Lehnt der Patient die Teilnahme trotzdem ab, lohnt es sich, zu einem späteren Zeitpunkt einen zweiten Versuch zu wagen. Bis dahin kann der Therapeut Maßnahmen einfließen lassen, um die Beziehung zu verbessern [4]. Dazu gehört, dass er dem Patienten verständlich die Ursache der Hirnschädigung und die Auswirkungen auf seinen Alltag erklärt und ihn explizit nach seinem Befinden fragt. Fühlt er sich aufgeklärt, emotional akzeptiert und verstanden, lässt er sich eher auf Veränderungsprozesse ein.

Bei Ängsten und Depressionen erleben Patienten die emotionale Beeinträchtigung bewusst mit. Trotzig-ablehnende Patienten hingegen spüren den ursprünglichen Afekt (z. B. Trauer, Wut) nicht bewusst. Sie nehmen ihre Behinderung als emotional nicht zu bewältigende Gefahr für die eigene Identität wahr. Deshalb ist es wichtig, das physiotherapeutische Handeln stets mit dem behandelnden Psychotherapeuten abzustimmen, um sich auf eine Vorgehensvariante festzulegen (z. B. stützend, konfrontierend, paradox) [4].


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Umgang mit Ängsten

Herr Pfeiffer hat bislang alle Handlungen vermieden, vor denen er Angst hat. Deshalb hatte er bisher keine Erfolge im funktionellen Training. Die Angst zu versagen ist für den 74-Jährigen zu groß. Deshalb hat sich der Physiotherapeut in Absprache mit dem Psychotherapeuten dazu entschieden, Herrn Pfeiffer in der Therapie mit seiner Angst zu konfrontieren. Wichtig ist, dass der Therapeut in dieser Situation sehr behutsam vorgeht, denn der Patient durchläuft hier ein Angstkonfrontationstraining: Im besten Falle überschreitet er seine vorerst subjektiv wahrgenommenen Grenzen.

TAB. 2 Die vier Symptome problematischer Krankheitsverarbeitung mit Beispielen

Ängste

  • Scham und Angst, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, sich zu blamieren oder angestarrt zu werden

  • intensive Selbstbeobachtung körperlicher Symptome

  • diffuse Angst zu stürzen oder umgerannt zu werden, bewusstlos umzufallen oder keine Luft zu bekommen

  • Angst vor epileptischen Anfällen in der Öffentlichkeit

Depressionen

  • depressive Verstimmungen

  • Interessenlosigkeit, Antriebsmangel

  • sozialer Rückzug

  • Aktivitätslosigkeit

Trotz und Ablehnung

  • trotzige Ablehnung von therapeutischen Vorschlägen, Passivität

  • Gekränktsein durch die Erkrankung oder Behinderung

Verleugnung

  • Verleugnen von Behinderung oder von Folgen der Behinderung im Alltag

[Aus: Götze R, Höfer B. AOT – Alltagsorientierte Therapie bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung. Stuttgart: Thieme; 1999]


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Angsthierarchie abarbeiten

Bewährt hat sich ein stufenweises Vorgehen, bei dem der Therapeut eine Angsthierarchie erstellt – von der bedrohlichsten bis zu der am wenigsten beängstigenden Situation [4]. Die Behandlung beginnt mit der am wenigsten angstauslösenden Situation. Wenn Herr Pfeiffer diese gemeistert hat, kann der Therapeut mit ihm zur nächsten Situation übergehen. Bei einer motorischen Störung beispielsweise sind die Situationen umso bedrohlicher, je gefährlicher ein potenzieller Sturz wäre. So fällt es Herrn Pfeiffer leichter, auf eine nach oben fahrende Rolltreppe zu steigen als auf eine nach unten fahrende. Seine Angst wird stärker, je näher der Zeitpunkt der Konfrontation rückt. Der Therapeut berücksichtigt dies und bestärkt ihn darin, den Versuch jetzt zu wagen. Wenn Herr Pfeiffer die Situation gut gemeistert hat, ermutigt er ihn, dieselbe Situation noch einmal auszuprobieren.

Idealerweise wiederholen sie den Vorgang so oft, bis der Patient angstfrei in das Handlungsumfeld hineingeht. Dann kann der Therapeut den Schwierigkeitsgrad stufenweise steigern, indem er schrittweise auf Distanz geht. Die schwierigste Stufe für Herrn Pfeiffer wäre es, die Aktivität allein zu unternehmen und sich anschließend wieder mit seinem Therapeuten zu treffen. Bei einer Angstbewältigung ist es sehr wichtig, die letzte Stufe zu erreichen, weil sie sicherstellt, dass sich der Patient die Aktivität auch ohne Begleitung zutraut.

Oft ist es schwierig, eine Angsthierarchie aus den Äußerungen des Patienten abzuleiten. Durch Vermeidungsverhalten fehlt es vielen an Erfahrung. Und so ist es für einige schwierig zu benennen, was ihnen weniger und was besonders viel Angst macht. Da Auslöser für Ängste bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung meist die Einschränkungen aufgrund motorischer, visueller, sprachlicher und kognitiver Störungen sind, hat die Angst einen objektiven Hintergrund. So können Therapeuten bereits aus den beeinträchtigten Funktionen in Verbindung mit alltäglichen Anforderungen auf eine Angsthierarchie schließen [4]. Wenn sie mit ihrem Patienten die Aktivitäten im Anschluss auswerten, achten sie darauf, dass er differenziert wahrnimmt, was er alleine geschaft hat. Denn ängstliche Patienten neigen dazu, ihre eigene Leistung zu unterschätzen [4].


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Umgang mit Depressionen

Der 34-jährige Herr Arnold ist depressiv und hat unberechenbare Stimmungseinbrüche. Er neigt zu Antriebs- und Interessenlosigkeit. Ziel der Therapie ist es, ein Minimum an Eigenaktivität aufzubauen. Der Therapeut sucht nach möglichen Aktivitäten und Zielen und macht Vorschläge. Trotz mangelnden Antriebs lässt sich Herr Arnold darauf ein, innerhalb des Vorschlags eine Teilaufgabe zu übernehmen, um sie eigenverantwortlich umzusetzen. Der Umfang der Aufgabe ist hierbei nicht entscheidend – auch wenn sie nicht den objektiven Fähigkeiten des Patienten entspricht. Wichtiger ist, dass der Patient auch in gedrückter Stimmung seine Teilaufgabe schafft. Der Therapeut beachtet die Vorschläge seines Patienten und bezieht sie mit ein [4].

Herr Arnold neigt dazu, kleine Missgeschicke überzubewerten und Erfolge und Fortschritte abzuwerten. Deshalb achtet der Physiotherapeut beim Auswerten von Aktivitäten ganz besonders auf ihre Gesprächsführung. Indem er dem Patienten widerspricht und versucht, einen Erfolg einzureden, riskiert er das Vertrauensverhältnis in der therapeutischen Beziehung. Deshalb lässt er die negativen Bewertungen von Herrn Arnold zunächst unkommentiert und ermutigt ihn durch Fragen dazu, andere Aspekte der Aktivität zu bewerten.

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Hat der Patient Angst, eine Rolltreppe zu benutzen, kann er das in der Alltagstherapie schrittweise abbauen.
Abb.: Creativemarc/fotolia.com (nachgestellte Situation)

In der dritten Behandlung hat Herr Arnold beispielsweise die Aufgabe, in einem kleinen Lebensmittelgeschäft einige Besorgungen zu machen. Im Nachhinein empfindet er das Training als gescheitert, da er beim Einpacken der Ware an der Kasse auf die Hilfe des Verkäufers angewiesen war. Der Therapeut geht in der Nachbesprechung nicht auf seine Schwarzmalerei ein, fragt hingegen, was gut gelaufen ist. Herr Arnold würdigt die Geduld und Hilfsbereitschaft des Verkäufers, der ihm unaufgefordert unter die Arme griff. So hat der Patient einen positiven Aspekt gefunden. Den verstärkt und betont der Physiotherapeut nachträglich. Er führt das Auswertungsgespräch direkt im Anschluss an die Aktivität durch, weil nur dann positive Aspekte für den Patienten wahrnehmbar sind [4].


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Umgang mit Trotz und Ablehnung

Nach den Wochenenden verstärkt sich bei Herrn Arnold häufig die psychische Symptomatik. Alltagspraktische Übungen wie ein Gruppenspaziergang zum nahe gelegenen Ort lehnt er trotzig ab. Er vertritt hartnäckig den Standpunkt, erst wieder ganz gesund werden zu müssen, bevor er vor die Tür geht. Patienten, die jedem Vorschlag trotzig-ablehnend begegnen, können Gefühle wie Wut und Hilflosigkeit bei Therapeuten auslösen – exakt die Gefühle, die die Patienten selbst zu bewältigen versuchen. Die Macht über andere ist oft die einzige Selbstbestätigung, die sie erleben. Das macht es auch so schwer, dieses problematische Verhalten abzulegen.


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Der indirekte Weg

Es gibt kein allgemein gültiges Vorgehen bei Patienten mit trotzig-ablehnender Haltung. Ermutigung, Aufklärung und Informationsgabe durch den Therapeuten verstärken eher den Widerstand des Patienten. Die Praxis hat aber gezeigt, dass ein indirekter Weg zum Ziel führt. Der Patient macht die Aktivität zwar mit, muss ihr jedoch nicht zwangsläufig zustimmen. Interventionsmöglichkeiten, die genau darauf abzielen, sind [4]:

  • Humor: Wenn es dem Therapeuten gelingt, ablehnenden Äußerungen des Patienten mit Humor zu begegnen, zeigt er ihm modellhaft einen Ausweg aus der Hilflosigkeit.

  • Paradoxe Intervention: Der Therapeut übersteigert bzw. übertreibt das Gesagte des Patienten. Das hat einen ähnlichen Effekt wie Humor.

  • Beiläufige Anleitung: Um eine verbale Zustimmung des Patienten zu umgehen, kann der Therapeut in der Vorbesprechung kommentarlos davon ausgehen, dass er mitkommt bzw. mitmacht. Er kann ihn auch beiläufig darum bitten, eine für ihn schwierige Aufgabe zu erledigen, um einem anderen Patienten zu helfen. In der Nachbesprechung gibt er maximal beiläufige Kommentare, was er gut bewältigt hat.

  • Modelllernen in der Gruppe: Um den Widerstand des Patienten zu umgehen, lässt der Therapeut ihn in der Gruppe „mitlaufen“. So kann er bei anderen Teilnehmern beobachten, wie sie eine schwierige Situation meistern. Der Therapeut kann aber auch die anderen Gruppenmitglieder dazu anregen, den trotzigen Patienten zu ermutigen, etwas auszuprobieren. Anregungen und Kritik von anderen Gruppenmitgliedern sind meist leichter tolerierbar als vom Therapeuten selbst.

Starke Emotionen können auf eine emotionsregulierende Krankheitsverarbeitung hinweisen.


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Umgang mit Verleugnung

Nach einigen Wochen intensiver Therapie ist aus medizinischer Sicht klar, dass bei Herrn Arnold keine wesentlichen Verbesserungen, vor allem im Bereich der Armund Handfunktionen, zu erwarten sind. Dadurch rücken Themen wie „Leben mit der Behinderung“ immer mehr in den Mittelpunkt. Gespräche zwischen dem Therapeuten und Herrn Arnold fahren sich schnell fest: Er verneint seine Behinderung und macht demonstrativ motorische Übungen für seinen Arm. Der Therapeut fühlt sich häufig hilflos bei dem Versuch, seinem Patienten die Realität widerzuspiegeln. Auf Handlungsebene kann er schließlich einen Kompromiss mit ihm finden, sodass sie im Anschluss an das Funktionstraining noch eine kleine Alltagstätigkeit wie das Jackean- und -ausziehen ausprobieren. Unabhängig von einer krankheitsbedingten Unawareness (Unwissenheit) kann der Grund verleugnenden Verhaltens auch ein anderer sein: Mit der Verleugnung der Behinderung versucht der Patient, die massiv subjektive Bedrohung seiner Identität emotional zu bewältigen [4]. Eine direkte Konfrontation kann wie bei Herrn Arnold die Symptomatik verstärken oder sogar zum psychischen Zusammenbruch führen. Eine Möglichkeit für diese therapeutische Gratwanderung ist die „doppelte Buchführung“: Der Physiotherapeut zweifelt hierbei die Aussagen des Patienten in keiner Weise an. Jedoch regt er ihn dazu an, ein besonderes Verhalten nur für diesen Einzelfall anders auszuprobieren. Er kann den Patienten auch dazu ermutigen, die Aktivität einmal entsprechend seinem Vorschlag durchzuführen, auch wenn es nur für die heutige Leistungsform gilt.

Wichtig für Menschen mit verleugnendem Verhalten ist das Handeln anderer Patienten. So kann der Therapeut in der Nachbesprechung die Gruppenteilnehmer dazu anregen, Handlungen zu kommentieren oder Kritik zu äußern – und sich selbst zurückhalten.


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Einfühlsames Vorgehen

Die Krankheitsverarbeitung ist ein langfristiger Prozess. Deshalb ist es förderlich, die an den Alltag angepasste Therapie über einen langen Zeitraum beizubehalten. Denn trotz typischer Symptome problembezogener Krankheitsbewältigung ist die Wirkung der Aktivitäten in der Situation spürbar [4]. Durch einfühlsames Vorgehen kann der Therapeut den Patienten dabei unterstützen, seine Krankheit zu verarbeiten sowie die Behinderung und die veränderte Lebenssituation anzunehmen. Eine enge Absprache mit dem behandelnden Psychotherapeuten kann dem Therapeuten wichtige Ansätze an die Hand geben, sein eigenes therapeutisches Vorgehen zu steuern.

Bettina M. Bursik


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*Namen von der Redaktion geändert




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Mit Verständnis, Aufklärung und Annahme kann die Therapeutin ihren Patienten erreichen.
Abb.: Photographee.eu/fotolia.com (nachgestellte Situation)
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Hat der Patient Angst, eine Rolltreppe zu benutzen, kann er das in der Alltagstherapie schrittweise abbauen.
Abb.: Creativemarc/fotolia.com (nachgestellte Situation)