Neben den integrativen Herausforderungen für die Gesellschaft bedeutet das aktuell
hohe Aufkommen von Flüchtlingen aus den verschiedenen Krisengebieten auch eine Herausforderung
für die medizinische und insbesondere für die psychosoziale Versorgung. In großen
internationalen Studien und Metaanalysen wurde eine hohe Prävalenz von schweren psychischen
Erkrankungen bei Geflüchteten nachgewiesen [1]
[2]
[3]
[4]. So berichtete die bislang umfangreichste Metaanalyse mit Daten über mehr als 80 000
Geflüchtete Prävalenzen von jeweils ca. 30 % für die posttraumatische Belastungsstörung
(PTBS) und für depressive Störungen [3].
Die Größenordnung des Aufkommens psychischer Erkrankungen in der heutigen Population
von Geflüchteten in Deutschland und die daraus resultierenden Therapiebedarfe können
nur geschätzt werden, da es hierfür kaum belastbare repräsentative Daten gibt. Uns
ist lediglich eine Untersuchung an einer Zufallsstichprobe von 125 Asylsuchenden in
einer bayerischen Erstaufnahmeeinrichtung bekannt: Diese ergab Prävalenzen von ca.
25 % für die Gruppe der F4-Diagnosen, darunter 17,6 % für die PTBS und ca. 13 % für
affektive Störungen; darüber hinaus gaben 6 % der Menschen Suizidgedanken an [5].
Daten zu der aktuellen Situation der Versorgung von Flüchtlingen in psychiatrischen
Kliniken fehlen mit Ausnahme eines Berichts aus einem großen Fachkrankenhaus im Rheinland
[6]. Die BDK führte im Zeitraum Februar bis März und Juni/Juli 2016 eine Befragung ihrer
Mitglieder mittels survey monkey durch, mit dem Ziel einen ersten orientierenden Eindruck
über die bundesweite Situation bei der klinisch-psychiatrischen Versorgung von Flüchtlingen
zu erhalten. Die Befragung bezog sich auf das Jahr 2015. Der Gesamtumfang umfasste
5 Fragen zu Eigenschaften der Klinik (Größe, Bundesland, regionales Umfeld, ambulante
Dienste) und 10 Fragen zum Umfang und Setting der nachgefragten und angebotenen Leistungen
für Flüchtlinge, zum Diagnosespektrum, dem Umgang mit der Sprachbarriere und den Erfahrungen
mit der Kostenerstattung. Insgesamt haben 67 von 209 Kliniken geantwortet; dies entspricht
einem Rücklauf von 32 %. Die Ergebnisse wurden während der Frühjahrstagung der BDK
im April 2016 vorgestellt.
Die Kliniken, die sich an der Befragung beteiligten, waren überwiegend mittelgroß
bis groß (Behandlungsplätze: > 200: 46,3 %; 100 – 200: 38,8 %; < 100: 14,9 %). Ein
relativ großer Anteil lag in NRW (32,8 %) und Bayen (17,9 %), die restlichen Kliniken
verteilten sich auf die anderen Bundesländer mit Anteilen von 3 – 6 %. Das regionale
Umfeld der Kliniken zeigte einen leichten Überhang ländlicher Regionen (38,8 %); ansonsten
war die Verteilung zwischen städtischem und großstädtischem Umfeld sowie Ballungsraum
etwa gleichmäßig (jeweils 23,9 %, 22,4 % und 14,9 %). Fast alle Kliniken hatten eine
PIA (98,5 %) und mehr als die Hälfte verfügte über eine Traumaambulanz (56,7 %).
Nur 22,7 % der Kliniken gaben an, dass sie die Behandlung von Flüchtlingen zahlenmäßig
genau erfassen; somit haben mehr als drei Viertel der Kliniken lediglich auf der Basis
von Schätzungen geantwortet. Die Angaben zum Anteil der Flüchtlinge an den Behandlungsfällen
finden sich in [Tab. 1]. In den meisten Fällen haben die Kliniken keine Probleme bei der Kostenerstattung
angegeben (Probleme bei 21,3 % der stationären, 7,1 % der teilstationären und 18,8 %
der ambulanten Fälle).
Tab. 1
Anteil von Flüchtlingen an den Behandlungsfällen im Jahr 2015.
Anteil an Fällen
|
MW ± SD
|
vollstationär, freiwillig
|
1,70 ± 1,26 %
|
vollstationär, geschützt
|
2,27 ± 1,45 %
|
teilstationär
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0,34 ± 0,72 %
|
PIA
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2,16 ± 2,30 %
|
Bei der Frage nach den häufigsten Ursprungsländern oder -regionen der Patienten wurde
die Erstplatzierung überwiegend an Syrien vergeben (56,1 %), gefolgt von den Balkanländern
(25,0 %), Afghanistan (13,7 %) und dem Irak (5,0 %). Die Zweitplatzierung ging in
absteigender Folge an Afghanistan (33,3 %), Nordafrika (29,8 %), die Balkanländer
(27,1 %) und Syrien (10,5 %); die Drittplatzierung an Afghanistan (27,5 %), die Balkanländer
(20,8 %), Syrien (19,3 %) und den Irak (15,3 %); und die Viertplatzierung an den Irak
(27,5 %), Nordafrika (25,5 %), die Balkanländer (12,5 %) und Afghanistan (11,8 %).
Deutlich seltener erhielten der Iran und Pakistan hohe Platzierungen (Erst-, Zweit-,
Dritt- oder Viertplatzierung für Iran: insgesamt 33,3 %; für Pakistan insgesamt 17,6 %).
Bei der Frage nach den wesentlichen Anliegen der Flüchtlinge wurde an erster Stelle
die Behandlung (93,3 %), gefolgt von Diagnostik (50,0 %) und Attesten für Behörden
(43,3 %) angegeben (mehrere Antworten möglich).
Die Angaben zu den häufigsten Diagnosen der Behandlungsfälle finden sich in [Abb. 1].
Abb. 1 Häufigste Diagnosen bei den behandelten Flüchtlingen (F1: Abhängigkeitserkrankungen,
F2: Psychosen, F3: affektive Störungen, F40: phobische Störungen, F41: sonstige Angststörungen,
F43.0: akute Belastungsreaktion, F43.1: posttraumatische Belastungsstörung, F43.2:
Anpassungsstörungen, F6: Persönlichkeitsstörungen).
Bei der Frage nach dem Umgang mit den Sprachbarrieren gaben 95 % an, dass sie sprachkundige
Mitarbeitende hinzuziehen; 91,7 % nutzten Dolmetscher, 30,0 % nutzten Sprach- und
Integrationsmittler (SIM) und 18,3 % nutzten Video- oder Telefondolmetscherdienste
(mehrere Antworten möglich). Die Ausgaben für die Dolmetscher- und SIM-Dienste betrugen
im Mittel 7746 ± 13 640 € mit einer erheblichen Varianz (2-mal > 10 000 €, 1-mal > 15 000 €
und 1-mal > 50 000 €). Dolmetscher bzw. SIMs wurden überwiegend als sehr wichtig (73,0 %)
oder wichtig (20,6 %) für die Arbeit mit den Flüchtlingen erachtet (eher unwichtig:
6,3 %; ganz unwichtig: 0 %).
25,8 % der Befragten gaben an, dass sie ein spezialisiertes Angebot für Flüchtlinge
vorhalten und 19,7 % gaben an, dass sie ein solches planen. Entsprechend gaben 54,5 %
der Befragten an, dass sie kein spezialisiertes Angebot vorhalten.
Die hier vorgestellte Befragung hat zweifelsohne erhebliche methodische Limitationen.
Zwar war der Rücklauf der Befragung mit 32 % noch akzeptabel, andererseits basieren
die Ergebnisse größtenteils auf Schätzungen. Die meisten Fragen wurden von allen oder
fast allen Teilnehmern beantwortet, bei zwei Fragen (Anteil von Flüchtlingen an den
Behandlungsfällen und Ausgaben für die Dolmetscher- und SIM-Dienste) erhielten wir
jedoch Antworten von lediglich 16 Teilnehmern (entspricht einem Rücklauf von nur 7,7 %).
Somit geben die Ergebnisse lediglich Hinweise bzw. eine allererste Orientierung. Unter
Berücksichtigung dieser Limitationen können wir mit Vorsicht schlussfolgern, dass
Flüchtlinge aktuell ca. 2 % des Patientenklientels im ambulanten und stationären Bereich
psychiatrischer Kliniken ausmachen. In etwa 20 % der Fälle kommt es zu Problemen bei
der Kostenerstattung. Das in der allgemeinen Flüchtlingspopulation prävalente Spektrum
an psychischen Störungen mit einer Prädominanz von Belastungsstörungen und Depressionen
findet sich auch im klinisch-psychiatrischen Hilfesystem wieder. Darüber hinaus werden
aber auch häufig Abhängigkeitserkrankungen und Psychosen genannt, d. h. das Diagnosespektrum
ist bei klinischen Flüchtlingspopulationen breiter im Vergleich zu der allgemeinen
Flüchtlingspopulation. Als vorrangiges Anliegen der Betroffenen wird fast immer an
erster Stelle die Behandlung angegeben, unabhängig davon, ob gleichzeitig auch Atteste
für Behörden gewünscht wurden. Fast die Hälfte der Kliniken gibt an, dass sie ein
Spezialangebot für psychisch kranke Flüchtlinge vorhalten oder ein solches planen.
Die meisten Kliniken nutzen professionelle Dolmetscher bzw. SIMs und sie betrachten
sie überwiegend als sehr wichtig für die Behandlung. Allerdings dürfte die ausgeprägte
Varianz bei den angegebenen Kosten einen erheblich differierenden Umfang der Inanspruchnahme
dieser Dienste widerspiegeln; dies dürfte wiederum mit der fehlenden Möglichkeit für
eine Kostenerstattung zusammenhängen.
Angesichts der gesamtgesellschaftlichen Relevanz der Versorgung und Integration von
Flüchtlingen sind einerseits fundiertere Datenerhebungen und andererseits Bemühungen
um eine Verbesserung der Behandlungsbedingungen gerade im psychosozialen Bereich vordringlich.
Dabei gibt es durchaus regionale Unterschiede in der Versorgungsorganisation und der
Bereitstellung von Ressourcen. Beispielsweise stellt das Land NRW seit 2015 Mittel
für bis zu 10 Therapiesitzungen bei traumatisierten Flüchtlingen zur Verfügung, die
niederschwellig ohne Antragsverfahren abgerufen werden können (Beratung und Akutpsychotherapie,
zzgl. Dolmetscher- oder SIM-Kosten; zunächst nur für Frauen, ab 2016 auch für Männer).
Darüber hinaus stellt ein großer kommunaler Träger psychiatrischer Krankenhäuser in
NRW Mittel für den Einsatz von SIMs zur Verfügung [6]. Dabei werden gute Erfahrungen mit dem Einsatz von Dolmetschern und SIMs auch in
der Psychotherapie und Traumatherapie berichtet. Eine Ausweitung und einheitlich geregelte
Finanzierung der spezialisierten Sprachmittlerdienste wäre eine Voraussetzung für
eine flächendeckend gute psychosoziale Versorgung der Menschen mit Fluchterfahrung.
Dazu gehört allerdings nicht nur die Sprachkompetenz, sondern auch eine kultursensible
Kommunikation. Somit kommt dem Kompetenzerwerb des Personals in transkulturellen und
migrations- bzw. flüchtlingsspezifischen Themen eine wichtige Rolle zu [6]. Eine gute psychosoziale Versorgung ist eine Voraussetzung für das Gelingen der
Integration der Flüchtlinge in unsere Gesellschaft und damit eine wichtige Aufgabe
und Herausforderung für unser Versorgungssystem.