Balint Journal 2017; 18(01): 15-20
DOI: 10.1055/s-0042-119834
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Subjektiver Tinnitus als Herausforderung, bewusst subjektiv zu sein – Über Tinnitus, Bezogenheit und Balintarbeit

Subjective Tinnitus as a provocation: deliberate subjectivness – Tinnitus, relationships and Balintwork
Tobias Roeckl
1   Praxis Roekl, München
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Publication Date:
19 May 2017 (online)

Zusammenfassung

Tinnitus findet am Übergang zwischen äußerer, objektivierbarer und innerer, subjektiver Wirklichkeit statt und kann die normale Teilhabe an der Welt wesentlich beeinträchtigen. Der Hörsinn als Tor, durch das die Außenwelt in das Innenleben, in die Psyche hineinragt, versagt die vertrauten Dienste. Häufig korrelieren Reizüberflutung und Überforderungserleben. Austausch bzw. „Grenzverkehr“ zwischen Innen und Außen sind z. T. massiv beeinträchtigt und das individuelle Gleichgewicht wankt. Psychisch bedeutet das, dass eine individuell stimmige Antwort auf die Anforderungen der Außenwelt häufig nicht mehr gegeben werden kann sowie das Selbstbild und das Leben nicht mehr ausreichend in Einklang gebracht werden können. Die Symptomatik kann nach diesem Denkmodell als somatisierter Ausdruck einer Krise verstanden werden, häufig bevor dem Patienten die zunehmend unvereinbare Diskrepanz zwischen den inneren Gegebenheiten der Psyche und den äußeren Umständen richtig bewusst wird.

In der vorliegenden Arbeit finden Aspekte der biopsychosozialen Medizin Erwähnung. Dann wird die Phänomenologie der Symptomatik betrachtet. Diese wird erlebt, wo ein äußerer Reiz ein inneres Erleben bewirkt. Das Selbst entwickelt sich im Wechselspiel dieser beiden Wirklichkeitsbereiche: Der Mensch ist Bürger beider Welten und ist doch eine Einheit. Vergleichbar dem Oszillieren in der Spannung zwischen Philobatismus und Oknophilie und anderen Polaritäten wird Gleichgewicht und die Fähigkeit, Ausgleich zu schaffen, als Grundlage von Freiheit betrachtet. Selbstwirksamkeit, Introspektion und der Begriff der Identität werden berührt.

Balintarbeit als phänomenologisch ausgerichtete Beziehungsmedizin erleichtert es, diesen speziellen Aspekt der Innen-Außen-Beziehung zu beleuchten und ein Verständnis für die Symptomatik und deren subjektive Bedeutung zu eröffnen. Während gestörter „Grenzverkehr“ eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit zur Folge hat, kann am Umgang und der Integration der Symptomatik exemplarisch beschrieben werden, wie ein erneutes „in den Fluss kommen“ auch mit erneuerter Kreativität und Phantasie einhergeht. In einer Zeit, in der subjektiv häufig mit willkürlich verwechselt wird, kann der subjektive Tinnitus als eine lästige und unerhörte Aufforderung verstanden werden, ganz bewusst subjektiv zu sein.

Abstract

Tinnitus has to do with the passage between external and objectifiable reality and internal and subjective reality and can seriously impair normal participation in life. The sensory organs, gates through which the external world extends into the psyche, can cease to perform their usual functions. Sensory overload and mental overload may often be correlated. Crossborder traffic between the inner and outer worlds may be severely affected and individual mental balance impaired. For the psyche, this means that an individual coherent answer to the requirements of the outer world can no longer be given. Selfimage and daily life cannot be adequately reconciled. Looked at this way, the symptoms can be understood as the somatized expression of a crisis, which often occurs before the patient becomes aware of the increasing discrepancy between the inner realities of the psyche and the outer circumstances.

In this paper, we consider aspects of the established biopsychosocial approach to tinnitus as well as the phenomenology of the symptoms. These are experienced wherever an external irritant effects an internal experience, where the environment influences experience of inner senses. The Self evolves in the interplay of the 2 fields of reality. The Individual belongs to both worlds and is yet a single unit. As in the oscilllation in tension between philobatism and oknophilia and other psychic polarities, mental balance and the ability to achieve equilibrium are viewed as the basis for freedom. Selfefficacy, introspection and the concept of identity are mentioned.

Balintwork, as a phenomenological aligned relationshipmedicine, is a good approach to this particular aspect of the interiorexterior relationship and provides an understanding of the symptoms and their subjective meaning. The disturbance of crossborder traffic results in an impairment of performance. The handling and integration of typical symptoms may well be described as rejoining the flow with renewed creativity and fantasy. Whereas subjectivity might be mistaken for arbitrariness, subjective tinnitus can be taken as an annoying and unconsionable command to be deliberately subjective.

 
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