Beim langen Sitzen, mitten in der Nacht oder bei sportlichen Aktivitäten – im Laufe
eines Jahres leiden weltweit 37 Prozent der Bevölkerung unter Muskelkrämpfen [2].
Sie treten lokal in verschiedenen Muskelgruppen auf. Meist sind Wade, dorsaler oder
ventraler Oberschenkel involviert, wobei die Wade am häufigsten betroffen ist [1].
Muskelkrämpfe sind unfreiwillige, schmerzhafte und andauernde Kontraktionen der Skelettmuskulatur.
Als Ursachen sind im Internet häufig Elektrolytmangel und/oder Dehydration zu finden.
Auch manche Trendstudien geben dies an [21]. Doch Forscher wie der Kapstadter Sportmediziner
Martin Schwellnus vermuten hingegen, dass es sich um einen fehlerhaften Rückenmarksreflex
handelt, an dem zwei Messfühler beteiligt sind [17, 22–25]: das Golgi-Sehnenorgan
(GTO), das die Spannung eines Muskels erfasst und reflektorisch eine Hemmung der Muskelkontraktion
bewirkt, und die Muskelspindeln, welche die Muskellänge messen. Zwischen diesen beiden
besteht normalerweise ein Gleichgewicht [17]. Bei Muskelkrämpfen liegt nach den jüngsten
Theorien eine erhöhte afferente Muskelspindel-Aktivität vor bei gleichzeitig verringerter
inhibitorischer Aktivität des GTO. Daraus resultiert eine abnormale Alpha-Motoneuronen-Aktivität,
was sich im EMG durch erhöhte Muskelinnervationsfrequenzen in Ruhe zeigt, die vergleichbar
sind mit denen während einer willkürlichen Kontraktion. Dieses Ungleichgewicht zwischen
Muskelspindel und GTO betrifft größtenteils Muskeln, die stark kontrahieren können
und daher zu einer aktiven Insuffizienz neigen, zum Beispiel zweigelenkige Muskeln
wie der M. gastrocnemius.
Wer vor dem Schlafen seine Muskulatur dreimal zehn Sekunden lang dehnt, reduziert
die Krampfneigung signifikant.
Die Ursachen für das Ungleichgewicht zwischen GTO und Muskelspindel sind vielfältig.
Grundsätzlich können alle Krankheiten, die das Nervensystem beeinflussen, Krämpfe
verursachen. Zudem wirken sich manche Medikamente, zum Beispiel Cholesterinhemmer
und Blutdrucksenker, irritierend auf die Nerven aus [18].
Dehnen: Hilft im Akutfall und prophylaktisch
Dehnen: Hilft im Akutfall und prophylaktisch
Instinktiv dehnen die meisten Menschen den betroffenen Muskel sofort, was den Krampf
in der Regel lindert, bis er schlussendlich ganz nachlässt. Diese Tatsache untermauert
die Theorie von Martin Schwellnus: Durch den Zug wird unter anderem der GTO aktiviert,
welcher das Alpha-Motoneuron hemmt und somit die Muskelspannung reduziert. In einer
Patientenstudie von Johannes M. Hallegraeff ließ sich die nächtliche Krampfneigung
durch passive prophylaktische Dehnung signifikant reduzieren. Die Probanden hatten
die Waden- und dorsale Oberschenkelmuskulatur über sechs Wochen jeweils dreimal zehn
Sekunden vor dem Schlafen gedehnt [16].
In verkürzter Muskelposition scheint die Krampfanfälligkeit dagegen erhöht zu sein
[17]. Forscher um Michael Behringer untersuchten in einer nichtverblindeten, randomisierten
und kontrollierten Studie den Reiz einer Elektrostimulation in neutraler und angenäherter
Position [20]. Zehn Probanden waren in der Interventionsgruppe, fünf in der Kontrollgruppe,
die keine Elektrostimulation erhielt. Die Interventionsgruppe bekam zweimal pro Woche
über sechs Wochen eine Elektrostimulation am M. gastrocnemius – auf der einen Seite
in angenäherter, auf der anderen in neutraler Position. Auf der angenäherten Seite
wurde drei Mal pro Sitzung gezielt ein Krampf ausgelöst. Auf der kontralateralen Seite
wurde die neutrale Position der Muskulatur eingehalten und somit kein Krampf provoziert.
In der krampfenden Muskulatur war die sogenannte Krampf-Schwellenfrequenz (cramp threshold
frequency, CTF) signifikant gesteigert. Diese ist definiert als die minimale elektrische
Stimulationsfrequenz, die es braucht, um einen Muskelkrampf hervorzurufen. Die CFT
war in der krampfenden Muskulatur bis zu einem erneuten Test 96 Stunden nach der letzten
Intervention erhöht. In der nichtkrampfenden Muskulatur sowie in der Kontrollgruppe
hatte sich die CFT nicht verändert [20].
Momentan forscht Behringer mit seinem Team weiter, um langfristig individuelle Therapien
gegen Krämpfe anbieten zu können. Fraglich ist noch, ob zum Beispiel Elektrostimulationsgeräte
für zu Hause geeignet wären, um die Krampfneigung bei Patienten zu senken. Auch das
Muskeltraining in Annäherung könnte im Hinblick auf Behringers Forschungsergebnisse
eine Möglichkeit sein, die Krampfresistenz der Muskulatur zu erhöhen, und sollte weiter
untersucht werden.
Magnesium: Hat bei Krämpfen keine Wirkung
Magnesium: Hat bei Krämpfen keine Wirkung
Weit verbreitet im Umgang mit Muskelkrämpfen ist der Magnesium-Tipp. Er basiert auf
der Annahme, dass Calcium für Anspannung und Magnesium für Entspannung der Muskulatur
sorgt. Fehlt Magnesium, kann die Muskulatur nicht optimal arbeiten und neigt zu Verspannungen
und Krämpfen [3]. Bisher konnte jedoch keine Studie einen Effekt von Magnesium auf
idiopathische Muskelkrämpfe in einer allgemeinen Patientenpopulation nachweisen. Lediglich
bei der Behandlung von nächtlichen Krämpfen bei Schwangeren hatte es einen schwachen
Effekt [4].
Nach dem Ironman 2000 in Südafrika zeigten Blutuntersuchungen, dass es beispielsweise
beim Elektrolytverlust keine signifikanten Unterschiede gab zwischen den von Krämpfen
betroffenen Athleten (n = 11) und den nichtbetroffenen Athleten (n = 9) [6]. Das Oberflächen-EMG
der krampfenden Muskeln war jedoch signifikant höher als das der nichtbetroffenen
Muskeln. Das weist auf eine erhöhte Muskelaktivität bei den krampfenden Sportlern
hin, steht der Magnesiummangel-Theorie aber aufgrund der Blutergebnisse entgegen.
Da sich die Sportler auch beim Gewichtsverlust und somit hinsichtlich der Menge der
Schweißsekretion nicht unterschieden, scheint auch die Dehydrationstheorie widerlegt.
Andere Studien an Sportlern unterstützen die Schlussfolgerungen aus der Ironman-Studie
[7, 8, 26–28]. Dennoch hält sich der Magnesium-Tipp hartnäckig. Da eine normale Dosierung
wenn überhaupt nur geringe Nebenwirkungen zeigt, schadet die Einnahme in der Regel
nicht [5]. Erste Anzeichen für eine Überdosierung wären Müdigkeit, Blutdruckabfall
und Durchfall, gegebenenfalls im Wechsel mit Verstopfung. Patienten mit Nebennieren-
und Niereninsuffizienzen sollten eine Magnesiumeinnahme immer mit einem Arzt besprechen.
Denn sie könnten ein Zuviel an Magnesium nicht adäquat ausscheiden, was dazu führt,
dass es sich im Körper ansammelt.
Chinin: Verhindert Krämpfe, birgt allerdings hohe Risiken
Chinin: Verhindert Krämpfe, birgt allerdings hohe Risiken
Bereits Studien aus den 1930er und 1940er Jahren haben die Wirkung von Chinin auf
nächtliche Muskelkrämpfe untersucht und als effektiv beschrieben. Allerdings waren
die Studiendesigns damals unkontrolliert und nicht adäquat. Doch auch in einer kontrollierten
Studie von 1989 ließ sich die Anzahl, Dauer und Schwere von Muskelkrämpfen durch Chinin
signifikant reduzieren [9]. Die Wissen-schaftler gehen davon aus, dass Chinin die
Erregbarkeit der motorischen Endplatten senkt. Es minimiert die Ausschüttung von Acetylcholin
und trägt dazu bei, die Refraktärzeit der Muskelkontraktion zu verlängern. Somit ist
die Zeitspanne, in welcher der Nerv nach einem Reiz nicht oder nur eingeschränkt durch
einen erneuten Reiz erregt werden kann, größer, und es können seltener Krämpfe entstehen.
Die Einnahme von Chinin ist allerdings riskant. Eine Überdosis führt unter Umständen
zu Schwindelgefühl, Kopfschmerz, Tinnitus, Taubheit, vorübergehender Erblindung, Blutbildveränderungen
(Thrombozytopenie), Nervenschädigungen bis hin zur Herzmuskellähmung. In den USA ist
Chinin zur Behandlung von nächtlichen Krämpfen daher von der FDA (U.S. Food and Drug
Administration) untersagt und darf nur für die Therapie von Malaria tropica verwendet
werden [10]. Auch in Neuseeland und Australien ist es nicht mehr zugelassen [11],
nachdem die Einnahme zwischen 1969 und 2006 in 665 Fällen (davon 93 Todesfälle) zu
Gesundheitsproblemen geführt hat [12].
Mit Gurkenwasser löst sich ein Krampf nach durchschnitllich 85 Sekunden.
In Deutschland ist Chinin für die Anwendung am Menschen zugelassen, aber verschreibungspflichtig.
Seit dem 1. April 2015 dürfen es Ärzte nur noch bei nächtlichen idiopathischen Wadenkrämpfen
verschreiben, die häufig und schmerzhaft auftreten und bei denen andere konservative
Therapien erfolglos sind. Nach Ansicht der Zulassungsbehörde (BfArM) können nur Ärzte
die bekannten Wechselwirkungen und Kontraindikationen des chininhaltigen Medikamentes
Limptar N sinnvoll ausschließen [13].
Die Chinin-Dosis in dem unter der Marke Schweppes vertriebenen Bitter Lemon ist mit
34 mg pro Liter im Übrigen zu niedrig, um eine Wirkung oder auch Nebenwirkungen hervorzurufen.
Gewürzgurkenwasser: Reduziert die Krampfdauer signifikant
Gewürzgurkenwasser: Reduziert die Krampfdauer signifikant
Ein bis jetzt eher unbekanntes und zugleich vollkommen unbedenkliches Mittel gegen
Muskelkrämpfe scheint Pickle Juice zu sein, der Sud, in dem Gewürzgurken eingelegt
sind. Im Jahr 2000 trafen die Footballmannschaften Philadelphia Eagles gegen die Dallas
Cowboys bei extrem heißem Wetter aufeinander. Ein Dutzend der Cowboys mussten aufgrund
von Krämpfen das Spiel abbrechen, während die Eagles keinen Spieler verloren und das
Spiel gewannen. Ihre Geheimwaffe? Gurkenwasser [14]. Das Footballspiel inspirierte
den Medizinstudenten Kevin Miller, seine Doktorarbeit über den Einfluss von Gurkenwasser
auf Muskelkrämpfe zu schreiben, die er 2010 veröffentlichte [15]. Da Krämpfe immer
wieder im Zusammenhang mit Flüssigkeits- und Elektrolytverlust genannt wurden [21],
ließ Miller zehn Probanden in 30-Minuten-Intervallen auf Ergometern fahren, bis sie
durch Schweißsekretion drei Prozent ihrer Körpermasse verloren hatten. Durch eine
elektrische Stimulation löste er bei den Studienteilnehmern einen Krampf im Großzehenbeuger
aus. Anschließend bekamen sie entweder Gurkenwasser oder salzfreies Wasser zu trinken.
Die Krampfdauer war bei den Probanden, die Gurkenwasser zu sich genommen hatten, signifikant
kürzer (12–219 Sekunden) als bei der Trinkwassergruppe (71–246 Sekunden). Der Krampf
löste sich mit dem Gurkenwasser nach durchschnittlich 85 Sekunden, was verglichen
mit der Kontrollgruppe einer um 45 Prozent schnelleren Krampfreduktion entsprach.
Kevin Miller und Kollegen empfehlen in der Krampfsituation, 1 Milliliter Gurkenwasser
pro Kilogramm Körpergewicht einzunehmen. Dadurch soll sich der Krampf nach 12 bis
219 Sekunden lösen. Nach Angaben der Autoren ist die Wirksamkeit des Gurkenwassers
bisher nur auf Krämpfe bezogen, die durch Muskelaktivität ausgelöst sind.
Die Blut- und Urinproben der beiden Gruppen zeigten in der Studie im Hinblick auf
Mineralienkonzentrationen (Natrium, Kalium, Magnesium und Calcium) und Blutplasmavolumen
keine Unterschiede. Somit hat das Gurkenwasser keinen Einfluss auf die Körperflüssigkeiten,
was insofern nicht verwunderlich ist, da 85 Sekunden viel zu kurz wäre, um den Magen
passieren und vom Körper aufgenommen werden zu können. Durchschnittlich benötigen
150 Milliliter Flüssigkeit etwa 30 Minuten, um den Magen zu durchlaufen [15]. Und
selbst wenn das Gurkenwasser schnell genug durch den Magen käme, würden die Inhaltsstoffe
nur ausreichen, um 2 Prozent des Flüssigkeitsverlustes zu ersetzen, 38 Prozent des
Natriums, 1 Prozent des Kaliums, 24 Prozent des Magnesiums und 47 Prozent des Calciums.
Somit ist nicht bekannt, welche Zutat im Gurkenwasser die Muskulatur entspannt. Miller
und sein Team vermuten, dass der Geschmack der Essigsäure im Rachen sich krampflösend
auswirkt. Entscheidend ist, dass das Gurkenwasser nachgewiesenermaßen die Alpha-Motoneuronen-Aktivität
in der krampfenden Muskulatur reduziert [15]. Ob Gurkenwasser auch prophylaktisch
wirkt, ist hingegen noch unklar.
André Wolter