Lernziele
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Diagnosekriterien und Merkmale von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) im Erwachsenenalter
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Epidemiologie und Ätiologie von ASS
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Einzel- und Gruppenpsychotherapie bei ASS im Erwachsenenalter
Diagnostische Kriterien von Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter
Diagnostische Kriterien von Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter
Der ICD-10 zufolge gehören Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zu den tiefgreifenden
Entwicklungsstörungen, die sich durch einen Beginn im Kindesalter und einen remissionslosen
Verlauf auszeichnen. Folgende 3 Kernkriterien sind notwendig, um eine ASS zu diagnostizieren
([Tab. 1]): i) Störungen der sozialen Interaktion, ii) Störungen der Kommunikation und iii)
repetitive und stereotype Verhaltensweisen und Interessen. Bei Vorliegen aller 3 Kernkriterien
sowie einer Intelligenzminderung (IQ < 70), die bei etwa der Hälfte aller betroffenen
Personen nachweisbar ist, wird die Diagnose Frühkindlicher Autismus (F84.0) vergeben.
Ist keine Intelligenzminderung, aber eine verzögerte Sprachentwicklung nachweisbar,
wird die Diagnose eines hochfunktionalen Autismus (ebenfalls F84.0) vergeben. Bei
unbeeinträchtigter kognitiver Leistungsfähigkeit sowie einer unauffälligen Sprachentwicklung
wird das sogenannte Asperger-Syndrom (F84.5) diagnostiziert. Liegen nur 2 der 3 genannten
Kriterien vor oder ist die Störung erst nach dem 3. Lebensjahr objektivierbar, ist
die Diagnose eines atypischen Autismus (F84.1) zu vergeben.
Tab. 1
Übersicht Diagnosekriterien von ASS im Erwachsenenalter nach ICD 10 und DSM-5 [3].
ICD-10
|
Kernkriterium
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DSM-5
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Qualitative Abweichungen in den wechselseitigen sozialen Interaktionen
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Interaktionsstörung
|
-
Defizite in der sozialemotionalen Gegenseitigkeit;
-
Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten
-
Defizite im Verständnis von Beziehungsgestaltungen
(erforderlich 3/3)
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Qualitative Abweichungen in den wechselseitigen Kommunikationsmustern
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Kommunikationsstörung
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Eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten
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Repetitive, stereotype Verhaltensweisen
|
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Stereotype, repetitive Bewegungsabläufe;
-
Routinen oder Rituale
-
Fixierte Interessen;
-
Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorische Reize
(erforderlich 2/4)
|
Die valide Abgrenzung der genannten Unterformen ist empirisch nur schwer belegbar
[1]
[2], weshalb das 2013 erschienene DSM-5 diese zu den „Autismus-Spektrum-Störungen“ zusammenfasst.
Diese Zusammenfassung bietet den weiteren Vorteil, dass erstmals die Dimensionalität
der ASS abgebildet werden kann [3]. Die ICD-11 strebt diesbezüglich eine Angleichung an, weshalb im Folgenden nur von
Autismus-Spektrum-Störungen gesprochen wird.
Wenn eine Erstdiagnostik erst im Erwachsenenalter erfolgt, haben die Betroffenen zumeist
komplexe, häufig regelbasierte Kompensationsstrategien entwickelt, wodurch die Symptomatik
zunächst nicht deutlich erkennbar ist [4]
[5]
[6]. Neben einer ausführlichen klinischen Eigenanamnese ist deshalb eine belastbare
Fremdanamnese obligatorisch, die den remissionslosen Verlauf der Störung bei erstmaliger
Manifestation in der frühen Kindheit belegt.
ASS beginnen in der Kindheit, zeichnen sich durch einen remissionslosen Verlauf aus
und umfassen die 3 Kernkriterien i) Störungen der Interaktion, ii) Störungen der Kommunikation
sowie iii) stereotype Interessen und Aktivitäten. Im DSM-5 wird die Unterscheidung
zwischen Frühkindlichem Autismus, Asperger-Syndrom und atypischem Autismus aufgehoben
und nur noch dimensional von Autismus-Spektrum-Störungen auf unterschiedlichem funktionalem
Niveau gesprochen.
Merkmale von ASS im Erwachsenenalter
Merkmale von ASS im Erwachsenenalter
Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation
Der Fähigkeit, anderen Menschen mentale Zustände wie Überzeugungen, Gedanken und Gefühle
zuzuschreiben, um ihr Verhalten erklären und vorhersagen zu können („Mentalisieren“,
„Theory of Mind“), kommt in menschlichen Begegnungen eine zentrale Bedeutung zu [7]. Dabei spielt vor allem die Fähigkeit zur nonverbalen Kommunikation, die intuitiv,
präreflexiv und überwiegend automatisch [8] abläuft, eine entscheidende Rolle. Interaktionen mit anderen erscheinen uns dadurch
meist mühelos und „automatisch“. Bereits im Kindesalter lassen sich einfache Formen
dieser Fähigkeit beobachten. So finden sich beispielsweise Beeinflussungen der Aufmerksamkeit
von Bezugspersonen durch das Blickverhalten („joint attention“, „gemeinsame Aufmerksamkeit“)
im ersten Lebensjahr. Die Lösung formalisierter Aufgaben, die die Mentalisierungsfähigkeit
testen, gelingt Kindern jedoch erst im Alter von 4 – 5 Jahren [9]
[67]. Bei ASS hingegen scheint die Entwicklung dieser Fähigkeit gestört zu sein: So zeigen
Kinder mit einer Störung aus dem Autismus-Spektrum bereits früh in der Entwicklung
Defizite in diesem Bereich [10]. Im Erwachsenenalter haben Menschen mit ASS ohne Intelligenzminderung zumeist keine
Schwierigkeiten mehr, formalisierte Aufgaben zur Testung der Mentalisierungsfähigkeit
zu lösen [11], da die entsprechenden Testverfahren regelbasiert und damit erlernbar sind. Trotzdem
bereitet die Erfassung mentaler Zustände anderer Personen in komplexen Alltagssituationen
Menschen mit ASS weiterhin und meist dauerhaft erhebliche Schwierigkeiten.
Ergebnisse empirischer Studien weisen darauf hin, dass die Mentalisierungsschwierigkeiten
von Menschen mit ASS in sozialen Interaktionen auf einer differenziellen Störung in
der impliziten Verarbeitung sozial relevanter, vor allem nonverbaler Informationen
beruhen [4]. Zum einen werden nonverbale Kommunikationssignale wie Mimik, Gestik und Blickverhalten
kaum oder gar nicht zu kommunikativen Zwecken eingesetzt. Patienten auf hohem Funktionsniveau
mit guten kognitiven Fähigkeiten sind zwar in der Lage, bestimmte nonverbale Verhaltensweisen,
wie das Anlächeln oder Anschauen einer Person, zu erlernen und in sozialen Situationen
regelbasiert anzuwenden. Dies geschieht jedoch nicht intuitiv. Dadurch wirken Betroffene
häufig starr und mechanisch in ihrer nonverbalen Kommunikation. Zum anderen werden
nonverbale Signale anderer Menschen nicht intuitiv wahrgenommen und verarbeitet, da
sie keine Quelle sozial relevanter Informationen für Menschen mit ASS darstellen [12]. Auch hier haben Betroffene auf hohem Funktionsniveau zwar häufig Kompensationsstrategien
entwickelt, um eindeutige nonverbale Signale bewusst zu analysieren und zu interpretieren.
Jedoch bereitet vor allem die Interpretation komplexer und subtiler nonverbale Signale,
wie sie häufig in sozialen Interaktionen von nicht autistischen Personen unbewusst
eingesetzt werden, Menschen mit ASS große Schwierigkeiten. Dies macht soziale Situationen
für Betroffene häufig kaum einschätzbar und kontrollierbar, da das Verhalten anderer
Menschen unerklärlich und unvorhersehbar erscheint.
Deswegen neigen Menschen mit ASS dazu, verbale Informationen stärker zu gewichten,
da sie einen expliziten semantischen Code aufweisen und im Umgang mit anderen Menschen
vermeintlich deutlicher und damit verlässlicher erscheinen [4]. Aber auch die Verarbeitung prosodischer Merkmale bei verbalen Kommunikationssignalen
ist bei ASS gestört [13]. So zeigen Betroffene Auffälligkeiten ([Tab. 2]) [14]
[68] in der sozialkommunikativen Funktion der Sprache (Pragmatik), in der Erfassung und
Verwendung des Inhalts von Wortbedeutungen oder sprachlichen Wendungen (Semantik)
und in der stimmlichen Qualität der Sprache und Sprachmelodie (Prosodie).
Tab. 2
Einschränkungen in der verbalen Kommunikation bei Personen mit ASS [14].
Bereich
|
Einschränkungen bei Personen mit ASS
|
Pragmatik
(sozialkommunikative Funktion der Sprache)
|
-
Monologisieren, ohne zu erkennen, dass Gesprächspartner gelangweilt ist
-
Zu lange Antwortlatenzen, wenn Aussagen nicht richtig verstanden worden sind [15]
-
Falscher Einsatz von Floskeln [9]
|
Smalltalk
(als Sonderfall der Pragmatik: „kleines Alltagsgespräch“ mit dem Ziel der sozialen Interaktion)
|
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Semantik
(Inhalt von Wortbedeutungen oder sprachlichen Wendungen)
|
-
Wortwörtliches Verständnis von sprachlichen Inhalten („Konkretismus“) [9]
[15]
-
Eingeschränktes Verständnis von Ironie, Witzen und Metaphern [6]
|
Prosodie
(stimmliche Qualität der Sprache/Sprachmelodie)
|
|
Erwachsene mit ASS zeigen häufig aufgrund der Defizite in der sozialen Informationsverarbeitung
nonverbaler und verbaler Kommunikationssignale trotz guter kognitiver Kompensationsstrategien vor
allem in komplexen Alltagssituationen Schwierigkeiten, mentale Zustände anderer Menschen
intuitiv zu erfassen und adäquat darauf zu reagieren. Dadurch wirken sie oft unhöflich,
arrogant oder ungeschickt, was den Ausgangspunkt für weitere Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen
Begegnungen für Betroffene bilden kann [6]
[16].
Repetitive und stereotype Verhaltensmuster und Interessen
Auch im Erwachsenenalter zeigen Menschen mit ASS eine Vielzahl an stereotypen und
repetitiven Bewegungsabläufen, Ritualen und Routinen. Diese können bestimmte Tätigkeitsabläufe
in der Tagesstruktur, Essensrituale oder komplexe Ordnungssysteme für Alltagsgegenstände
umfassen. Obwohl sich repetitiv ausgeführte Bewegungen (z. B. Schaukeln mit dem Oberkörper,
Drehen der Hände, wiederholte taktile Stimulation) vor allem bei ASS im Kindesalter
beobachten lassen, finden sich auch bei erwachsenen Betroffenen repetitive Bewegungen
oder Stereotypien. Diese werden jedoch häufig in abgeschwächter Form und situationsangemessener
ausgeführt.
Daneben finden sich auch bei Erwachsenen mit ASS häufig Spezialinteressen, die zumeist
sehr zeitintensiv und mit großem Engagement verfolgt werden [6]. Viele Betroffene zeigen dabei besondere Vorlieben für Interessen, die sich auf
Zahlen oder Zählbares, beispielsweise Tabellen von Sportergebnissen, beziehen. Weniger
gut nachvollziehbar wird diese Tätigkeit dann, wenn die Sportarten selbst gar nicht
betrieben, sondern nur die Zahlen bearbeitet werden oder wenn Spiele oder sogar ganze
Sportarten nur zum Zweck der mathematischen Bearbeitung ihrer Ergebnisse erfunden
werden. Im Laufe des Lebens ändern sich häufig die Inhalte der Spezialinteressen.
So können Betroffene in der Kindheit ein großes Interesse an Dinosauriern zeigen,
während sie sich im Erwachsenenalter vielleicht für die Katalogisierung von Kirchenfenstern
einer bestimmten Epoche begeistern. Für die Diagnostik von ASS im Erwachsenenalter
ist entscheidend, dass der oft als zweckfrei erlebte Charakter der Interessen erhalten
bleibt.
Im DSM-5 werden neuerdings sensorische Hyper- oder Hyporeaktivität als ein mögliches,
aber nicht notwendiges Subkriterium des Kriteriums von repetitiven und stereotypen
Verhaltensweisen berücksichtigt. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass Menschen mit
ASS häufig eine veränderte Reizschwelle für verschiedene Sinnesmodalitäten haben.
Weitere Merkmale
Viele Patienten mit ASS zeigen im Zusammenhang mit sensorischen Hyper- oder Hyporeaktivitäten
eine erhöhte Detailwahrnehmung, was häufig dazu führt, dass kleine Veränderungen schnell
und mit Zuverlässigkeit bemerkt werden (z. B. Rechtschreibfehler oder Programmierfehler).
Dies kann sowohl von Betroffenen selbst als auch von nicht autistischen Interaktionspartnern
durchaus als Bereicherung und besondere Fähigkeit in bestimmten Lebensbereichen wahrgenommen
und erlebt werden. Zu Schwierigkeiten aufgrund derartiger Wahrnehmungsbesonderheiten
kommt es jedoch häufig in komplexen sozialen Situationen, in denen es wichtig ist,
Kontextinformationen schnell und global zu erfassen und darauf adäquat zu reagieren.
Hier wirkt sich eine starke Detailorientierung häufig als hinderlich aus. Interessanterweise
konnte in verschiedenen Studien gezeigt werden, dass bei expliziter Aufforderung zu
ganzheitlicher Wahrnehmung Menschen mit ASS sehr wohl in der Lage sind, Kontextinformationen
zu berücksichtigen und eine globale Reizverarbeitung zu leisten [17]
[18].
Die oben bereits angesprochenen guten kognitiven Kompensationsstrategien, die Erwachsene
mit ASS auf hohem Funktionsniveau häufig mittels Regellernen erworben haben, ermöglichen
es ihnen, bestehende Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion und Kommunikation
zumindest teilweise auszugleichen [16]
[19]. Dadurch sind Betroffene im Erwachsenenalter beispielsweise in der Lage, bestimmte
Gesten und Gesichtsausdrücke selbst sowohl situationsangepasst zu zeigen als auch
beim Gegenüber korrekt zu interpretieren oder Smalltalk zu führen. Problematisch bleibt
jedoch weiterhin, dass dieses regelbasierte Lernen von normalerweise intuitiv vermittelten
Fertigkeiten viel kognitive Kapazität beansprucht, weswegen Betroffene diese Fertigkeiten
häufig nicht schnell und flexibel genug im Alltag anwenden können.
Schließlich zeigen erwachsene Personen mit ASS häufig komorbide Symptome, die nicht
selten der primären Anlass dazu sind, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Aufgrund der autismusbedingten Einschränkungen in der Fähigkeit zum Perspektivwechsel
haben manche Patienten Schwierigkeiten, die bestehende ASS als Ursache für unterschiedliche
Interaktionsproblematiken zu erkennen. Sie leiden also primär nicht an den Symptomen
der ASS, sondern gewissermaßen an den Folgen der Schwierigkeiten, die sich immer wieder
in sozialen Interaktionen aus den Symptomen ergeben. So leidet etwa die Hälfte der
betroffenen Personen mit ASS an Depressionen als Folge von jahrelang andauernden psychischen
Belastungen in sozialen Situationen [6]
[20]
[21]
[22]. Zudem treten vermehrt Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrome (ADHS) auf,
da besonders die Kernsymptome motorischer Unruhe und Aufmerksamkeitsdefizite häufige
Begleitsymptome bei ASS darstellen [23]. Auch finden sich bei Personen mit ASS häufig Angst- und Zwangsstörungen, Tic-Störungen
und psychotische Störungen [20]
[24]
[25]
[26]. Wichtig für die Diagnostik von ASS ist deswegen besonders im Erwachsenenalter die
differenzialdiagnostische Abgrenzung der verschiedenen Störungsbilder [5].
Neben den allgemeinen Diagnosekriterien der ICD-10 zeigen Menschen mit ASS häufig
eine erhöhte Detailwahrnehmung sowie komorbide Symptome (v. a. Depression), die in
vielen Fällen der primäre Anlass zum Aufsuchen psychotherapeutischer Hilfe sind.
Epidemiologie
Prävalenz
Ist man in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch von einer Prävalenzrate
des frühkindlichen Autismus von 4:10 000 Kindern [27] ausgegangen, liegt die Lebenszeitprävalenz von ASS heute bei 1 % [28]
[29]. Diese Zahl findet sich auch in den deutschsprachigen S3-Leitlinien für „Autismus-Spektrum-Störungen
im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“ (abrufbar bei der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich-Medizinischer
Fachgesellschaften/AWFM). Dieser dramatische Anstieg der Prävalenzrate ist nicht einer
tatsächlich höheren Auftretensrate zuzuschreiben, sondern ist vielmehr auf die vermehrte
Präsenz der Störung in Wissenschaft und Medien und die damit verbundene zunehmende
Bekanntheit zurückzuführen. Die hohe Zahl an Erstdiagnosen im Erwachsenenalter lässt
sich zudem damit erklären, dass viele hochfunktionale Personen mit einer ASS im Kindes-
und Jugendalter diagnostisch nicht erfasst worden sind.
Geschlechterverteilung
Männliche Personen sind deutlich häufiger von ASS betroffen als weibliche. Ähnlich
wie bei den Prävalenzraten hat sich allerdings auch hier die Datenlage in den letzten
30 Jahren massiv verändert. Die Prävalenzraten schwanken je nach verwendeten diagnostischen
Kriterien, Lebensalter bei Erstdiagnose sowie der intellektuellen Leistungsfähigkeit
der Betroffenen zwischen 2:1 und 10:1. Bei einer Erstdiagnostik im Erwachsenenalter
deuten die empirischen Ergebnisse auf eine Geschlechterverteilung von ca. 2:1 hin
[19]
[21]
[30]
[31]
[32].
Die Lebenszeitprävalenz hat sich aufgrund der zunehmenden Bekanntheit von ASS in Wissenschaft
und Medien in den letzten Jahren stark erhöht. Männliche Personen sind häufiger von
ASS betroffen als weibliche, wobei im Erwachsenenalter das Geschlechterverhältnis
ausgeglichener ist als im Kindes- und Jugendalter.
Ätiologie
Genetik
Bereits in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts konnte mittels Zwillingsstudien
eine enorm hohe Heritabilität der Störung von bis zu 90 % nachgewiesen werden [33]. Dieser hohe genetische Einfluss gilt bis zum heutigen Tage als gesichert [34]
[35]
[70]. Derzeit werden allerdings über 100 Suszeptibilitätsgene diskutiert, die die Disposition
für die Entwicklung einer ASS erhöhen können [36], was weiterhin auf einen hohen Forschungsbedarf hinsichtlich der Mechanismen der
genetischen Verursachung hinweist.
Pränatale Risikofaktoren
Zu den vorgeburtlichen Risikofaktoren für die Entstehung einer ASS gehören ein fortgeschrittenes
Alter bei der Geburt des Kindes [37] sowie verschiedene Erkrankungen der Eltern. Hier sind vor allem ein Typ-1-Diabetes
[38] sowie eine Epilepsie der Mutter [39] zu nennen. Darüber hinaus konnte auch gezeigt werden, dass die Einnahme von bestimmten
Medikamenten, insbesondere Valproat [39], während der Schwangerschaft das Entstehungsrisiko einer ASS erhöht.
Strukturelle und funktionelle Gehirnveränderungen
Hinsichtlich struktureller Gehirnveränderungen werden ein in der Kindheit erhöhtes
Gehirnvolumen bei von ASS betroffenen Personen [40] sowie anatomische Auffälligkeiten in Hirnregionen diskutiert, die zur sozialen Kognition
genutzt werden [41]
[42].
Funktionelle Unterschiede zu nicht autistischen Personen konnten vor allem in Bereichen
des Gehirns gefunden werden, die bei der Lösung sozialkognitiver Aufgaben herangezogen
werden. Diese Teile des sogenannten „sozialen Gehirns“ wie bspw. der mediale präfrontale
Cortex, der temporoparietale Übergangscortex sowie die Inselrinde und die Amygdala
weisen bei Personen mit ASS in funktionellen Hirnbildgebungsstudien eine geringere
Aktivierung auf [4]
[43]
[44]
[45].
Gehirnstoffwechsel
Auch der Einfluss verschiedener Neurotransmitterkonzentrationen auf die Entstehung
einer ASS, insbesondere des Serotonins, wird diskutiert [46]. Eine im Vergleich zu nicht autistischen Personen höhere Serotoninkonzentration
im Blutserum könnte eine geringere Serotoninkonzentration im Gehirn betroffener Personen
reflektieren, was wiederum eine Beeinträchtigung der Entwicklung serotonerger Neurone
zur Folge haben könnte. McNamara [47] konnte in Tierexperimenten zeigen, dass autismusähnliche Verhaltensweisen bei Ratten
wie z. B. ein reduzierter sozialer Austausch mit Artgenossen mit einer Erhöhung der
Serotoninkonzentration im Blut einhergehen können.
Obwohl die Heritabilität von ASS sehr hoch ist, ist bis heute nicht geklärt, wie viele
Gene auf welche Art zusammenwirken müssen, um eine ASS hervorzurufen. Darüber hinaus
wird auch der Einfluss von pränatalen Risikofaktoren, strukturellen und funktionellen
Gehirnveränderungen sowie Veränderungen im Gehirnstoffwechsel auf die Entstehung von
ASS diskutiert.
Therapie bei Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter
Therapie bei Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter
Psychopharmakologie
Pharmakologisch ist die Kernsymptomatik autistischer Störungen bisher nicht beeinflussbar
[48]. Eine interessante neue Forschungsrichtung stellen aber experimentelle Behandlungsversuche
mit dem Neuropeptid Oxytocin aufgrund seiner Wirkung der Verstärkung und Intensivierung
von zwischenmenschlichen Beziehungen dar. Im Tierexperiment lässt sich überzeugend
eine Vermittlung von sozialen Prozessen durch Oxytocin nachweisen [49]
[50]. Auch beim Menschen ließ sich bereits in mehreren experimentellen Studien zeigen,
dass Oxytocin zu einer Verbesserung sozialkognitiver Leistungen führen kann [51]
[52]. Eine Metaanalyse sämtlicher bisher durchgeführter randomisierter kontrollierter
Studien (Randomized Clinical Trials, RCTs) zur Wirkungsweise von Oxytocin zwischen
1990 und 2013 (7 RCTs, 101 Personen mit ASS) konnte moderate Effekte auf sozialkognitive
Leistungen bei guter Verträglichkeit von Oxytocin belegen [53]. Bevor Oxytocin tatsächlich zur breiteren Anwendung kommen kann, sind allerdings
vor allem auch Langzeitwirkungen zu überprüfen.
Eine vielbeachtete neue Studie zeigte einen eindrucksvollen Effekt von Sulforaphan,
einem Isothiocyanat, das auch Inhaltsstoff von Broccoli ist. In einer placebokontrollierten,
doppelblinden Studie zeigte die behandelte Gruppe signifikante Verhaltensverbesserungen
in allen verwandten Messinstrumenten, auch mit signifikanter Verbesserung des Interaktions-
und Kommunikationsverhaltens, wobei nach Abbruch der Behandlung alle Werte wieder
auf die Ursprungswerte zurückfielen. Die Wirkung von Sulforaphan wird u. a. mit oxidativem
Stress in Verbindung gebracht [54]. Auch hier steht aber eine abschließende Bewertung noch aus.
Gut belegt sind die Möglichkeiten der konventionellen Pharmakotherapie in der Behandlung
relevanter Komorbiditäten. Randomisierte, placebokontrollierte Studien haben den Einsatz
von atypischen Antipsychotika, insbesondere Risperidon und Aripiprazol, im Fall von
starker Irritabilität und Aggression bei ASS validieren können. Serotoninwiederaufnahmehemmer
werden häufig in der Behandlung von Angststörungen und zwanghaftem Verhalten eingesetzt,
wobei allerdings die Literaturlage dazu nicht eindeutig ist. Bisher nur wenig Evidenz
ist für den Einsatz von Stimmungsstabilisatoren in der Behandlung von Stimmungslabilität
und Aggression verfügbar. Stimulanzien können Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und
Impulsivität verbessern helfen, wobei hier der Wirkungsgrad als kleiner beschrieben
wird als bei Personen mit ADHS ohne ASS und mit einem größeren Risiko für die behandelten
Personen [55].
Adäquates Ziel einer psychopharmakologischen Behandlung ist außerdem die Reduktion
von maladaptivem Verhalten. Insbesondere Hyperaktivität und (auto)aggressives Verhalten
können von der Gabe atypischer Neuroleptika profitieren. Belastbare Wirknachweise
liegen für Risperidon vor mit positiver Wirkung auf (auto)aggressives und stereotypes
Verhalten [56]
[57]. Daneben wird auch von anderen atypischen Neuroleptika wie Olanzapin, Ziprasidon,
Quetiapin oder Aripiprazol eine Besserung berichtet [58]. Oft sind schon niedrige Dosierungen gut wirksam. Die erfolgreiche Behandlung ermöglicht
auch die Verbesserung von Begleitsymptomen wie stereotypes und repetitives Verhalten,
(auto)aggressives Verhalten, Hyperaktivität, Impulsivität, Ängste und Depressionen
[59].
Neben Oxytocin scheint Sulforaphan eine Verbesserung sozialkognitiver Leistungen hervorzurufen,
wobei bisher Studien zu Langzeitwirkungen fehlen. Weiteres pharmakologisches Ziel
ist insbesondere die Behandlung der häufig auftretenden Komorbiditäten.
Ziele von Psychotherapie bei ASS im Erwachsenenalter
Da ASS bis heute nicht ursächlich behandelbar sind und ohne Remission verlaufen, sollten
im Fokus einer verhaltenstherapeutisch orientierten Psychotherapie vor allem ein besserer
Umgang mit den störungsassoziierten Schwierigkeiten und eine dadurch bedingte Erhöhung
der Lebensqualität der Betroffenen stehen. Als übergeordnetes Ziel einer psychotherapeutischen
Intervention sollte im Erwachsenenalter eine „Erweiterung des Verhaltensrepertoires“
[59] angestrebt werden. Obwohl Betroffene im Rahmen der Therapie flexiblere und situationsangemessenere
Verhaltensweisen erlernen und dadurch ihre Möglichkeiten erweitern, komplexe soziale
Situationen erfolgreicher zu bewältigen, ist als Ziel jedoch nicht eine Anpassungsleistung
unter Zurückstellung des individuellen Begabungs- und Neigungsprofils zu erreichen.
Die Ergebnisse bezüglich spezifischer Bedürfnisse erwachsener autistischer Personen
an eine Psychotherapie [60] zeigen, dass neben der angemessenen Bewältigung sozialer Situationen und dem Wunsch
nach effektiver zwischenmenschlicher Kommunikation die Bewältigung von als stressreich
erlebten Situationen im Vordergrund steht. Dazu eignen sich vor allem kognitiv-behaviorale
Methoden, um den von den Betroffenen subjektiv wahrgenommenen Alltagsstress in Interaktionen
mit einer Vielzahl von sozialen Reizen zu minimieren, kompensatorische Strategien
für nicht veränderbare Defizite zu vermitteln und so langfristig eine Erhöhung der
Selbstakzeptanz zu erzielen [61]
[62]
[70]
[71]
[72].
Besonders das Kernsymptom der repetitiven, stereotypen Verhaltensweisen und Interessen
kann im Erwachsenalter als stabilisierend und förderlich im Sinne einer Ressource
erlebt werden, sofern es Betroffenen gelingt, diese Verhaltensweisen situationsangemessen
einzusetzen und Rücksicht auf die Toleranzgrenzen anderer Menschen zu nehmen. Deswegen
sollten repetitive und stereotype Handlungen als effektive und schnelle Möglichkeit
zur gezielten Entspannung und Refokussierung in stressreich erlebten Situationen erwogen
und gegebenenfalls gefördert werden.
Des Weiteren können die häufig guten kognitiven Ressourcen von Erwachsenen mit ASS
genutzt werden, um soziale Hinweisreize wie Blickkontakt, Mimik und Gestik, Körperhaltung
oder Tonfall korrekt zu entschlüsseln und adäquat darauf zu reagieren. Rollenspiele
können Betroffene dabei unterstützen, angemessene Kontaktaufnahme und Gesprächsführung
innerhalb der Therapie zu trainieren. Insgesamt sollte die Fähigkeit, eigene Emotionen
zu erkennen und mitzuteilen sowie die Gefühle anderer Personen wahrzunehmen, korrekt
zu interpretieren und das Verhalten adäquat darauf abzustimmen, geschult werden.
Ein weiteres Therapieziel bei ASS im Erwachsenenalter ist die Integration der Diagnose
in das Selbstkonzept und die Lebensplanung sowie die Würdigung biografischer Ereignisse
im Hinblick auf eine Identitätsfindung vor dem Hintergrund einer erst spät erhaltenen
Diagnose [63]. Um diesen Prozess innerhalb einer Psychotherapie zu unterstützen, hat es sich aus
verhaltenstherapeutischer Sicht als hilfreich erwiesen, gemeinsam mit dem Patienten
eine Analyse der eigenen Persönlichkeitsmerkmale vorzunehmen. Dabei hat der Patient
die Aufgabe, die genannten Eigenschaften den Kategorien „Autismus“, „Komorbiditäten“
und „störungsunabhängige Persönlichkeitsmerkmale“ zuzuordnen. Mithilfe dieser Kategorisierung
kann es Betroffenen gelingen, autistische Verhaltensweisen auf der einen Seite in
das Selbstkonzept zu integrieren und fälschlicherweise als autistisch wahrgenommene
Verhaltensweisen auf der anderen Seite zu entpathologisieren. Des Weiteren ist vom
Therapeuten zu betonen, dass Verhaltensweisen von Menschen mit ASS nicht per se dysfunktional
sind und „wegtherapiert“ werden sollten. Vielmehr sollte die Funktionalität spezifischer
Verhaltensweisen innerhalb des Bezugsrahmens des Patienten exploriert werden, um Bedürfnisse
zu identifizieren, die den Verhaltensweisen zugrunde liegen. Neben der Möglichkeit,
alternative Verhaltensweisen zu entwickeln, die sich besser eignen, zugrunde liegende
Bedürfnisse zu befriedigen, fördert ein solches Vorgehen die Selbstakzeptanz der Patienten.
Schließlich ist die Behandlung der im Erwachsenenalter häufig bestehenden komorbiden
Störungen mittels etablierter psychotherapeutischer Interventionen von zentraler Bedeutung
bei der Behandlung von ASS [60]
[64]
[65]
[66].
Im Fokus einer verhaltenstherapeutisch orientierten Psychotherapie bei ASS im Erwachsenenalter
sollte neben dem besseren Umgang mit den störungsassoziierten Schwierigkeiten und
einer dadurch vermittelten Erhöhung der Lebensqualität der Betroffenen eine „Erweiterung
des Verhaltensrepertoires“ [58] stehen.
Gruppentraining für Autismus im Erwachsenenalter (GATE)
Da die Zahl von Erstdiagnosen von ASS im Erwachsenenalter in den vergangenen 15 Jahren
immens angestiegen ist und sich sowohl Therapieziele als auch Bedürfnisse dieser Personengruppe
von den Zielen und Bedürfnissen im Kindes- und Jugendalter unterscheiden, wurde ein
gruppentherapeutisches Konzept geschaffen, das auf den spezifischen Bedarf erwachsener
hochfunktionaler Betroffener fokussiert [60]
[65]. Im verhaltenstherapeutisch orientierten Gruppentraining für Autismus im Erwachsenenalter
(GATE) wird mittels einer Verbesserung von Problemlösekompetenzen sowie des Aufbaus
sozialer und kommunikativer Fähigkeiten eine Erweiterung des Verhaltensrepertoires
von Menschen mit ASS angestrebt. GATE sieht geschlossene Gruppen mit jeweils 6 Teilnehmern
sowie 2 Therapeuten vor und befasst sich entsprechend dem hohen Strukturierungsbedürfnis
der Betroffenen in manualisierter Weise über einen Zeitraum von etwa 15 Wochen mit
den folgenden übergeordneten Themen:
-
Psychoedukation und Reflexion zu ASS und möglichen Komorbiditäten: Die Betroffenen
lernen in diesem Modul zu unterscheiden, welche ihrer Verhaltensweisen der ASS zugeordnet
und wie mögliche Symptome einer Begleiterkrankung schnellstmöglich erkannt werden
können.
-
Training von Methoden zu Stressanalyse und -reduktion: In den Sitzungen werden unterschiedliche
Maßnahmen zur Analyse und nachfolgenden Bewältigung problematischer, stressauslösender
Situationen erarbeitet, die zwischen den Sitzungen von den Teilnehmern ausprobiert
und geübt werden sollen.
-
Analyse und Training sozialer Situationen sowie kommunikativer Fertigkeiten: Soziale
Situationen und ihre konstitutiven Elemente werden gemeinsam zunächst genau beschrieben
und in Einzelschritten interpretiert. Nachfolgend werden anhand konkreter Teilnehmerbeispiele
soziale Situationen (z. B. Konflikte, Smalltalk) im Partner- oder Gruppenrollenspiel
eingeübt. Auch hier ist das Training erlernter Inhalte zwischen den Sitzungen als
obligatorisch zu betrachten.
Einzelne Gruppeninhalte können je nach aktuellem Bedarf erweitert oder verkürzt werden,
was einen Einfluss auf die Länge der therapeutischen Intervention haben kann. Besonders
das Thema Stress erfordert häufig eine Bearbeitung von jeweils mehreren Wochen pro
Teilnehmer, da persönliche Beispiele genau analysiert, interpretiert und geübt werden.
Auf diese Weise profitieren alle Gruppenmitglieder nicht nur von der Lösung eigener
Problemsituationen, sondern lernen ebenfalls von den Beispielen der anderen Teilnehmer
[66]. Eine Erweiterung des gruppentherapeutischen Konzepts kann durch die Bearbeitung
genannter thematischer Schwerpunkte durchaus auch im Einzelsetting erfolgen.
Schwerpunkte des Gruppentrainings für Autismus im Erwachsenenalter (GATE)
-
Psychoedukation zu ASS und den möglichen Komorbiditäten
-
Stressanalyse und -reduktion
-
Erweiterung kommunikativer Fähigkeiten und Bewältigung sozialer Situationen
Spezifische verhaltenstherapeutische Gruppentrainings (z. B. Gruppentraining für Autismus
im Erwachsenenalter – GATE) behandeln neben der Psychoedukation zu ASS und den möglichen
Komorbiditäten vor allem die Vermittlung von Techniken zur Stressanalyse und -reduktion
sowie die Erweiterung kommunikativer Fähigkeiten und die Bewältigung sozialer Situationen.
Einbeziehung von Angehörigen in den therapeutischen Prozess
Das Ziel der Einbeziehung von Angehörigen in den therapeutischen Prozess ist in erster
Linie eine Vermittlung zwischen der von einer ASS betroffenen Person und ihren Familienmitgliedern
und Bezugspersonen. Dabei dient der Therapeut als Übersetzer, der beide Parteien zu
einem Perspektivwechsel anregt und so das beiderseitige Verständnis erhöhen kann.
Des Weiteren sind Angehörige ein wichtiger Pfeiler bei der Verankerung neu erlernter
sozialer Verhaltensweisen, da viele der erarbeiteten Strategien ohne die Unterstützung
des sozialen Umfeldes nicht umgesetzt werden können.
Eine Einbeziehung von Angehörigen in den therapeutischen Prozess kann zu einem besseren
gegenseitigen Verständnis beider Parteien führen und Betroffenen helfen, erlernte
Strategien im Alltag effektiver umzusetzen.
Umgang mit schwierigen Situationen in der Psychotherapie
Da viele Betroffene zunächst nicht aufgrund ihrer autismusbedingten Schwierigkeiten,
sondern wegen komorbid bestehender Depressionen oder aufgrund der Initiative von Angehörigen
therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, kann sich das Problem ergeben, dass ein expliziter
therapeutischer Auftrag durch den Patienten zu Beginn einer Psychotherapie fehlt.
Zudem erschweren es die Einschränkungen in der Perspektivwechselfähigkeit den Betroffenen,
die bestehende ASS als Ursache für unterschiedliche Interaktionsproblematiken zu erkennen.
Ein durch den Therapeuten unterstützter bewusster Perspektivwechsel zusammen mit logischer
Argumentation bei gleichzeitigem Verständnis für die Sichtweise des Patienten kann
in solchen Situationen helfen, gemeinsam konstruktive psychotherapeutische Ziele zu
formulieren.
Die im Zusammenhang mit ASS bereits erwähnten Veränderungsängste können auch im Rahmen
von Psychotherapie (z. B. bei Absagen des Termins oder Umgestalten der Räumlichkeiten)
bei Betroffenen zu mitunter erheblichen Irritationen und Verhaltensauffälligkeiten
führen. Hier ist von therapeutischer Seite aus besonders wichtig, das Verhalten des
Patienten nicht im Sinne einer mangelnden Compliance oder einer Verweigerung der Therapie
zu deuten. Stattdessen sollte den Patienten ausreichend Zeit gegeben werden, sich
an die neue Situation zu gewöhnen. Zudem sollten Änderungen im formalen Ablauf frühzeitig
angekündigt werden.
Die häufig stark eingeschränkten kommunikativen Fähigkeiten von Patienten mit ASS
erfordern von Psychotherapeuten eine besondere Expertise, um autismusbedingte Kommunikationsschwierigkeiten
früh zu erkennen und Missverständnisse zu vermeiden. Patienten mit ASS können zu nüchternen
Aufzählungen eigener Erfolge sowie Misserfolge anderer Personen, unter Umständen sogar
des Therapeuten selbst, neigen, da sie Schwierigkeiten mit impliziten Regeln der Bescheidenheit
oder Höflichkeit haben. Bei unzureichender Reflexion kann dies zu Kränkungen auf Seiten
des Therapeuten und Problemen in der therapeutischen Beziehung führen. Des Weiteren
werden besonders subtile nonverbale Kommunikationssignale, wie beispielsweise Signale
zur Begrenzung, von Patienten mit ASS häufig nicht verstanden, was vor allem im gruppentherapeutischen
Kontext zu Schwierigkeiten führen kann. Hier kann dann eine explizite verbale Begrenzung
durch den Therapeuten erforderlich werden.
Schließlich können im Therapieverlauf manchmal Schwierigkeiten aufgrund eventuell
vorhandener Distanzlosigkeiten im Verhalten von Patienten mit ASS auftreten. So kann
es beispielsweise zu Problemen in der Nähe- und Distanzregulation (Wunsch, den Therapeuten
bei der Begrüßung zu umarmen, den Therapeuten zu duzen etc.) oder unpassenden Äußerungen
mit sexueller Konnotation kommen. Hier ist sowohl eine direkte Ansprache als auch
die Aufforderung, von entsprechenden Verhaltensweisen abzusehen, sowie eine genaue
Erläuterung gesellschaftlicher Konventionen und des therapeutischen Verhältnisses
notwendig.
In der Therapie von Patienten mit ASS kann es zu Anfang vor allem zu Schwierigkeiten
aufgrund fehlender Problemeinsicht kommen. Des Weiteren stellen Änderungen der äußeren
Rahmenbedingungen und sensorische Über- und Unempfindlichkeiten eine große Herausforderung
für Patienten mit ASS dar. Schließlich kommt es häufig zu Missverständnissen in der
verbalen und nonverbalen Kommunikation. Hier ist insbesondere die direkte Ansprache
durch den Therapeuten obligatorisch.
Kernaussagen
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Merkmale von ASS umfassen im Erwachsenenalter Störungen der sozialen Informationsverarbeitung
(Interaktion und Kommunikation) sowie repetitive, stereotype Verhaltensweisen und
Spezialinteressen.
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Als Ursachen für die Entstehung von ASS werden genetische Faktoren, pränatale Risikofaktoren,
hirnstrukturelle und -funktionelle Veränderungen sowie Veränderungen im Gehirnstoffwechsel
diskutiert.
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Da ASS bis heute nicht ursächlich behandelbar sind und ohne Remission verlaufen, sollte
als übergeordnetes Ziel einer psychotherapeutischen Intervention eine „Erweiterung
des Verhaltensrepertoires“ zur Erhöhung der Lebensqualität der Betroffenen angestrebt
werden.
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Der Therapeut dient als Informationsquelle und Experte der nicht autistischen Welt
und ermöglicht Patienten mit ASS dadurch das gezielte Erlernen von Perspektivwechsel
und Mentalisierung.
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Autismusspezifische psychotherapeutische Interventionsprogramme für das Erwachsenenalter
fokussieren neben der Psychoedukation zu ASS und den möglichen Komorbiditäten auf
die Vermittlung von Techniken zur Stressanalyse und -reduktion sowie auf die Erweiterung
kommunikativer Fähigkeiten und die Bewältigung sozialer Situationen. Sie bieten Patienten
mit ASS einen geschützten Rahmen, in dem soziale Fertigkeiten im Austausch mit anderen
Betroffenen ohne Angst vor Zurückweisung oder Misserfolg trainiert werden können.