Entwicklungen im Verständnis der Pathologie: In den westlichen Ländern ist die Multiple Sklerose (MS) eine der häufigsten Ursachen
für eine neurologische Funktionsstörung bzw. anhaltende Behinderung des jungen Erwachsenen.
Die sozioökonomische Belastung durch MS ist enorm aufgrund der hohen Kosten für das
Gesundheitssystem, und die Erkrankung beeinflusst Entscheidungen, die junge Patienten
für den Rest ihres Lebens treffen müssen.
MS gilt als Prototyp einer entzündlich-entmarkenden Erkrankung des zentralen Nervensystems.
In den vergangenen Jahren wurde jedoch deutlich, dass auch neurodegenerative Mechanismen
eine entscheidende Rolle in der Pathogenese spielen. Wie bei allen komplex-genetischen
Erkrankungen bieten die in den letzten Jahren identifizierten Genorte trotz individuell
kleiner Effektstärken einen einzigartigen Einblick in die genetische Architektur der
Erkrankung und mögliche zugrunde liegende Pathomechanismen. So ist die überwiegende
Anzahl der MS-Risikogene an entzündlichen Prozessen beteiligt, was unterstreicht,
dass das Immunsystem eine wesentliche ursächliche Rolle in der Pathologie spielt.
Auch ist die Multiple Sklerose ein Beispiel in der Neurologie, wo sich durch intensive
klinische Forschung ein Bereich vom therapeutischen Nihilismus zu einer Vielfalt an
Behandlungsmöglichkeiten entwickelt hat.
Ebenso mussten Patienten noch vor 20 Jahren erst zu vielen Ärzten gehen, bevor eine
klare Diagnose gestellt werden konnte. Heutzutage können durch moderne bildgebende
Verfahren frühzeitig signifikante Anzeichen erkannt werden, was für eine frühzeitige
Therapieoption notwendig ist. Durch den Einsatz der Kernspintomografie lässt sich
schon am Anfang der Erkrankung eine Schädigung der Grauen Substanz (den Nervenzellen)
nachweisen. Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass die Behinderung der MS-Patienten
wesentlich stärker mit den Anzeichen für einen Schaden im neuronalen Kompartiment
(in der Grauen Substanz) korreliert als mit den Läsionen in der Weißen Substanz, also
der Entzündung und Entmarkung. Die Mechanismen der neuronalen Schädigung sind bislang
allerdings nicht genau bekannt. Als ursächlich diskutiert wird eine Aktivierung der
Lymphozyten und der Antigen-präsentierenden Zellen des zentralen Nervensystems, welche
zu einer Ausschüttung von Entzündungsmediatoren und zytotoxischen Molekülen führt.
Außerdem wurden Mechanismen neuronaler Schädigung durch direkten Zellkontakt mit T-Zellen
beschrieben.
Therapien: Die heutigen Therapien beeinflussen den Krankheitsverlauf hauptsächlich durch eine
Immunmodulation bzw. Immunsuppression. Mittlerweile gewinnen allerdings die Entwicklungen
zu neuroprotektiven Therapieansätzen sowie die Aufklärung der zugrunde liegenden Mechanismen
der Neurodegeneration an Bedeutung.
Viele der zugelassenen bzw. kurz vor der Zulassung befindlichen Wirkstoffe ermöglichen
im Wesentlichen antientzündliche Therapien. Experimentelle, klinische und Bildgebungsdaten
deuten jedoch darauf hin, dass auch die bereits zugelassenen Substanzen durch die
Blockade der schädigenden Entzündung geringe neuroprotektive Eigenschaften haben könnten.
Grundsätzlich kann zwischen Wirkstoffen der sogenannten „Basistherapie“ für moderate
Krankheitsverläufe (β-Interferone, Glatirameracetat, Teriflunomid, Dimethylfumarat)
und der „Eskalationstherapie“ für hochaktive Krankheitsverläufe der schubförmigen
MS (Fingolimod, Natalizumab, Alemtuzumab) unterschieden werden. Neu verfügbar ist
der humanisierte monoklonale Antikörper Daclizumab gegen CD25 (α-Kette des IL-2 Rezeptors),
welcher eine Modulation von natürlichen Killerzellen und Antigen-präsentierenden Zellen
bewirkt; außerdem befindet sich kurz vor der Markteinführung der Antikörper Ocrelizumab
gegen CD20, der zu einer B-Zell-Depletion führt und die Weiterentwicklung von Rituximab
darstellt. Die B-Zell-Depletion scheint die Schädigung der Grauen Substanz im Gehirn
auf besondere Weise zu beeinflussen und zeigte sogar eine Reduktion des Fortschreitens
der Behinderung bei Patienten mit der selteneren Form der primär-progredienten MS,
für deren Krankheitsverlauf wir bislang keine Therapie hatten.
Durch die Zulassung neuer Medikamente in den letzten Jahren ist die Zahl der verfügbaren
Immuntherapien mit unterschiedlichen Angriffsorten deutlich gestiegen. Therapieumstellungen
stellen damit eine zunehmende Herausforderung dar. Die Behandlungsoptionen weisen
teilweise komplexe Nebenwirkungsprofile auf und erfordern ein langfristiges und umfangreiches
Monitoring.
Herausforderungen: Eine wirksame Immuntherapie sollte zur Verhinderung von Krankheits- und Behinderungsprogression
möglichst frühzeitig begonnen werden. Bei hochaktivem Krankheitsverlauf sollte rasch
eine Therapieeskalation erfolgen. Ist ein gewisser Behinderungsgrad bei einem Patienten
erst erreicht, weiß man, dass der weitere Verlauf stereotyp abläuft und meist nicht
mehr wesentlich zu beeinflussen ist.
Das Fortschreiten der Behinderung bei MS zu verstehen und wirkungsvoll zu behandeln,
bleibt eine große Herausforderung. MS Patienten wechseln teilweise von einem schubförmig-remittierenden
Verlauf zu einem Krankheitsverlauf mit fortschreitender Behinderung, aber es ist nicht
bekannt, warum und wodurch diese Umwandlung erfolgt, und weshalb einige MS Patienten
nie ein solches Fortschreiten erfahren. Tiefere Erkenntnisse hierzu könnten helfen,
Therapiestrategien zu entwickeln, um ein Fortschreiten der MS und der Behinderung
zu verlangsamen oder zu verhindern. Bei einem Fortschreiten der Behinderung auch ohne
Schübe ähnelt die MS einer neurodegenerativen Krankheit, für die keine zufriedenstellenden
Therapieoptionen verfügbar sind. Jüngste Vermutungen zu einer zugrunde liegenden primären
Neurodegeneration erklären nicht eindeutige Charakteristika der sekundär-progredienten
MS wie beispielsweise eine beschleunigte Atrophie der Grauen Substanz mit Wechsel
von der schubförmigen zur progressiven Phase. Dies verlangt nach einer Trennung der
Prozesse und Risikofaktoren, die mit dieser Krankheitsentwicklung einhergehen.
In jedem Fall wird eine Kombination aus antientzündlicher und neuroprotektiver oder
sogar neuroregenerativer Therapiestrategie einen Fortschritt in der Behandlung der
MS darstellen, da dieser Erkrankung neben der entzündlichen Komponente auch eine neurodegenerative
Pathologie zugrunde liegt. Der Einfluss des Älterwerdens und des Lebensstils auf das
Immunsystem und das Nervensystem sowie die Auswirkungen von autoimmuner Entzündung
auf neuronale Netzwerke sind dringende Forschungsziele für MS und neurodegenerative
Krankheiten.
Zuletzt muss es in den nächsten Jahren darum gehen, prognostische Marker zu erarbeiten,
da trotz intensiver Forschung die zugrunde liegenden molekularen Mechanismen nicht
vollständig geklärt sind und im Wesentlichen keine prognostische Einschätzung des
Verlaufs sowie des Erfolgs einer Immuntherapie und deren Nebenwirkungen erfolgen können.