Geburtshilfe Frauenheilkd 2016; 45(07/08): 336-337
DOI: 10.1055/s-0042-113918
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Geltendmachung von Nachforderungen von Krankenhäusern

Bundessozialgericht ändert Rechtsprechung

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  • Isabel Häser

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Dr. iur. Isabel Häser
Rechtsanwältin Fachanwältin für Medizinrecht
Haimhauser Str. 1
80802 München

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Publication Date:
17 August 2016 (online)

 

Krankenhäuser können Vergütungsansprüche innerhalb von 4 Jahren nachfordern. Danach sind sie verjährt. Hierzu und zu zahlreichen weiteren Punkten (Bagatell-Grenze, Verwirkung, 5 %-Grenze etc.) entschied das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 19.04.2016 (Az.: B 1 KR 33/15 R).


Der Fall

Klägerin war eine Krankenhausträgerin, die eine bei der beklagten Krankenkasse versicherte Patientin stationär behandelte. Für die Behandlung stellte sie eine Schlussrechnung, die die Beklagte auch beglich. Zwei Monate später korrigierte die Klägerin den Rechnungsbetrag wegen nicht abgerechneter Beatmungsstunden und verlangte weitere EUR 922,57 von der Beklagten. Die Krankenkasse lehnte die Zahlung dieses Betrags unter Hinweis auf eine vertragliche Vereinbarung ab, weil eine Rechnungskorrektur durch das Krankenhaus nur innerhalb von 6 Wochen nach Erstellung der Schlussrechnung möglich sei. Daraufhin klagte das Krankenhaus auf Zahlung und bekam sowohl in erster als auch in zweiter Instanz Recht.

Die Beklagte legte Revision zum BSG ein und wollte die Aufhebung der Urteile erreichen.


Das Urteil des BSG

Das BSG wies die Revision zurück und bestätigte den weiteren Zahlungsanspruch des Krankenhauses nebst Zinsen.

Der Vergütungsanspruch des Krankenhauses (und spiegelbildlich die Pflicht zur Zahlung durch die Krankenkasse) entsteht – ohne, dass es einer Kostenzusage bedarf – unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, sofern die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und im Sinne des Gesetzes (§ 39 Abs. 1 S 2 SGB V) erforderlich ist.

Nach Auffassung der Richter stand dem Vergütungsanspruch auf die Restzahlung auch nicht der Ablauf der 6 Wochen nach Erstellung der Schlussrechnung entgegen. Die Krankenkasse berief sich auf eine vertragliche Regelung in den „Allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung“ zwischen der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft, der Beklagten und weiteren Krankenkassen (KHBV). Die dort vereinbarte Regelung war nichtig. Hintergrund für die Nichtigkeit war allerdings nicht die 6-Wochen-Regelung, sondern die zeitliche Einschränkung der Überprüfungsrechte der Krankenkassen in dem Vertrag. Denn Krankenkassen sind jederzeit berechtigt, die sachlich-rechnerische Richtigkeit einer Abrechnung von Krankenhausvergütung mit Blick auf Leistungsverweigerungsrechte der nicht verjährten Erstattungsforderungen zu überprüfen. Andernfalls hätte das zur Folge, dass Krankenkassen verpflichtet wären, im Widerspruch zum Wirtschaftlichkeitsgebot Vergütungen auch für nicht erforderliche Krankenhausbehandlungen zu zahlen und sie wären gehindert, eigene Erstattungsansprüche im Falle von ungerechtfertigten Überzahlungen geltend zu machen. Da dieser Vertragsteil teilnichtig war und das BSG davon ausging, dass die Regelung insgesamt bei Kenntnis der Teilnichtigkeit so nicht getroffen worden wäre, ging sie von einer Gesamtnichtigkeit der Regelung aus.

Das bedeutet jedoch nicht, dass für die Nachforderungen des Krankenhauses keine Fristen gelten würden. Vielmehr gelten in einem solchen Fall die gesetzlich vorgesehenen Fristen. Danach unterliegen Vergütungsansprüche der Krankenhäuser der 4-jährigen sozialrechtlichen Verjährungsfrist. Diese Frist gelte grundsätzlich auch für eine Nachforderung, die das Krankenhaus geltend macht, so das BSG. Nur in engen Grenzen sei die Geltendmachung von Nachforderungen durch das Krankenhaus vor Ablauf der kurzen 4-jährigen Verjährung ausgeschlossen.


Keine Verwirkung

Nach Auffassung der Richter musste sich das Krankenhaus nicht entgegenhalten lassen, dass es seinen Nachforderungsanspruch verwirkt hätte. Die Verwirkung ist ein Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens (§ 242 BGB). Von Verwirkung spricht man, wenn der Berechtigte über einen längeren Zeitraum hinweg untätig geblieben ist und dadurch bei seiner Gegenpartei den Eindruck erweckt hat, sie brauche mit der Geltendmachung des Rechts und der Durchsetzung des Anspruchs nicht mehr zu rechnen, die Gegenseite sich deshalb darauf eingerichtet hat und ihr die verspätete Inanspruchnahme nicht zugemutet werden kann.

Das Rechtsinstitut der Verwirkung passe als ergänzende Regelung innerhalb der kurzen 4-jährigen Verjährungsfrist grundsätzlich nicht, so die Richter. Nur in besonderen, engen Ausnahmekonstellationen könne es zur Anwendung kommen. So zum Beispiel, wenn sich ein Krankenhaus länger als ein ganzes Rechnungsjahr Zeit ließe, um eine ohne rechtsbedeutsamen Vorbehalt erteilte „Schlussrechnung“ im Wege der Nachforderung mit Blick auf Grundlagen zu korrigieren, die dem eigenen Verantwortungsbereich entstammen. Da im konkreten Fall innerhalb von 2 Monaten nachgefordert worden war, sei hier von einer Verwirkung nicht auszugehen.


BSG ändert Rechtsprechung zur Waffengleichheit und Bagatellgrenze

Die bisher geltende Rechtsprechung des BSG (damals 3. Senat und teilweise 1. Senat) zur Waffengleichheit und den Bagatellgrenzen wird ausdrücklich aufgehoben.

Nach bisheriger Rechtsprechung schränkte der 3. Senat des BSG die Möglichkeit der Krankenhäuser, Vergütung von Krankenkassen nach Ablauf einer Frist von 6 Wochen seit Rechnungsstellung nachzufordern, ein. Erlaubt waren Nachforderungen nur dann, wenn sie über EUR 100,- (ab 25.03.2009 über EUR 300,-) lagen und mindestens 5 % des Ausgangsrechnungswerts erreichten. Lediglich bei offensichtlichen Schreib- und Rechenfehlern kam unterhalb dieser Grenzen eine Nachforderung in Betracht.

Begründet hatte das BSG diese Rechtsprechung bisher mit dem Grundsatz der Waffengleichheit. Nunmehr stellt das BSG fest, dass dieser Grundsatz eher im prozessualen Bereich anzusiedeln und im sogenannten materiellen Recht nicht anzuwenden ist. Der für das Krankenhausrecht nunmehr allein zuständige 1. Senat gibt diese aus dem Grundsatz der „Waffengleichheit“ gefolgerte Rechtsauffassung ausdrücklich auf.


Kein widersprüchliches Verhalten

Das BSG stellt für die Zukunft ausdrücklich klar, dass die nachträgliche Geltendmachung von „Bagatellbeträgen“ dem Krankenhaus auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer unzulässigen Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens verwehrt sei.

Nach Auffassung der Richter sanktioniert die Rechtsordnung widersprüchliches Verhalten grundsätzlich nicht mit einem automatischen Rechtsverlust.

Ein Krankenhaus sei nur dann unter dem Gesichtspunkt widersprüchlichen Verhaltens daran gehindert, eine Nachforderung zur Schlussrechnung geltend zu machen, wenn die Krankenkasse auf die Schlussrechnung vertraut habe und ihr Vertrauen schutzwürdig sei. In jedem Einzelfall müssten die Interessen des Krankenhauses und die der Krankenkasse umfassend geprüft und gegeneinander abgewogen werden. Die Schutzwürdigkeit der Krankenkasse könne sich insbesondere daraus ergeben, dass sie auf eine abschließende Berechnung der Krankenhausvergütung vertraut habe und vertrauen durfte und sich darauf in einer Weise eingerichtet habe, dass ihr eine Nachforderung nach Treu und Glauben nicht zugemutet werden könne.

Dies sei im konkreten Fall nicht ersichtlich. Es sei nicht erkennbar, dass und welcher Art sich die Beklagte nach der erteilten Schlussrechnung darauf eingestellt haben sollte, dass die Klägerin im noch laufenden Geschäfts- bzw. Rechnungsjahr keine Nachforderung geltend machen würde. Bei einer sowohl aufseiten der Krankenkasse als auch aufseiten des Krankenhauses bestehenden Massenverwaltung seien Korrekturen aufgrund unbeabsichtigter Abrechnungsfehler zu erwarten. Es bedürfe grundsätzlich einzelfallbezogener besonderer Umstände, um ein schutzwürdiges Vertrauen der Krankenkasse darauf zu begründen, dass keine Nachberechnung erfolgt.


Keine Rechtsgrundlage für 5 %-Grenze

Nach Auffassung des Senats fehlt für die Voraussetzung, dass die Nachforderung des Krankenhauses zumindest 5 % des Ausgangsrechenwerts betragen muss, im Krankenhausvergütungsrecht jegliche Stütze. Die Grundsätze von Treu und Glauben seien hierzu nicht ausreichend.


Gegenansprüche der Krankenkasse

Verletzen Krankenhäuser schuldhaft die sich aus ihren Rechtsbeziehungen zu Krankenkassen ergebenden (Neben-)Pflichten, können Krankenkassen solche Ansprüche (z. B. im Wege der Aufrechnung oder der Widerklage) geltend machen.


Fazit

Das BSG ändert seine Rechtsprechung zu Nachforderungen von Krankenhäusern zugunsten der Kliniken. Neben der Aufhebung der Bagatellgrenze wurde auch die 5 %-Hürde aufgehoben. Letzteres kann sich finanziell bei kostenintensiven stationären Behandlungen wirtschaftlich deutlich bemerkbar machen. Außerdem stellt das BSG klar, dass grundsätzlich auch für Nachforderungen die 4-jährige sozialrechtliche Verjährungsfrist gilt. Die Grundsätze der Verwirkung bzw. des widersprüchlichen Verhaltens können von Krankenkassen nur noch in engen Ausnahmen vorgebracht werden. Allzu große Entspannung sollte bei den Klinikträgern jedoch nicht eintreten, denn soweit aus den Urteilsgründen ersichtlich wird, scheint das BSG auch mit diesem Urteil keine unbegrenzten Nachforderungen innerhalb der 4 Jahre zulassen zu wollen, sondern hält zumindest wohl in Teilen an der Rechtsprechung zur Geltendmachung innerhalb des laufenden Geschäfts- bzw. Rechnungsjahrs fest. Letztlich muss also nach wie vor in jedem Einzelfall geprüft werden, inwieweit eine Nachforderung anhand dieser neuen Rechtsprechung möglich ist.



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Dr. iur. Isabel Häser
Rechtsanwältin Fachanwältin für Medizinrecht
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