Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84(08): 467-468
DOI: 10.1055/s-0042-113883
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychopathologische Differenzierung psychotischer Symptome

Psychopathological Differentiation of Psychotic Symptoms
M. Jäger
Bezirkskrankenhaus Günzburg, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm
,
M. Schmauß
Bezirkskrankenhaus Augsburg, Akademisches Lehrkrankenhaus der LMU München
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Publication Date:
29 August 2016 (online)

Die diagnostische Einordnung psychotischer Symptome ist eine Kernaufgabe des klinisch tätigen Psychiaters und Psychotherapeuten. Die aktuellen Diagnosemanuale DSM-5 und ICD-10 stellen hierfür explizite diagnostische Kriterien bzw. ausführliche klinische Beschreibungen zur Verfügung. Die richtige Diagnose ist im Regelfall auch die Voraussetzung für eine möglichst leitliniengerechte Therapie [1]. Die Fort- und Weiterbildungsarbeit im aktuellen Heft der „Fortschritte“ gibt einen guten Überblick über die Differenzialdiagnose psychotischer Symptome gemäß der ICD-10 [2]. Die Autoren betonen in ihrer Arbeit, dass bei psychotischen Symptomen immer auch eine organisch fassbare Ursache in Betracht gezogen werden muss, insbesondere auch vor dem Hintergrund der Möglichkeit einer autoimmun vermittelten Encephalitis. Hierzu steht heute eine Reihe von technischen Untersuchungen zur Verfügung.

Ist jedoch eine organische Ursache der psychotischen Symptomatik ausgeschlossen, dann bleibt zum aktuellen Zeitpunkt nur die Möglichkeit einer weiteren psychopathologischen Differenzierung. So wird beispielsweise in der ICD-10 zwischen Schizophrenie, wahnhafter Störung, akuter vorübergehender psychotischer Störung und schizoaffektiver Störung sowie verschiedenen affektiven Störungen mit psychotischen Symptomen unterschieden. Es lässt sich jedoch kritisch fragen, ob eine solche Differenzierung nützlich und sinnvoll ist. Diese Frage stellt sich vor dem Hintergrund einer bis heute nicht abreißenden Kritik an denjenigen psychiatrischen Diagnosen, die lediglich auf psychopathologischen Befunden aufbauen [1]. An dieser Stelle treffen sich erstaunlicherweise die Argumente von Vertretern der antipsychiatrischen Bewegung [3] und der neurobiologisch orientierten Psychiatrie [4].

Welche Gründe gibt es nun, psychotische Phänomene auf psychopathologischer Grundlage zu differenzieren, wie es beispielsweise in der ICD-10 erfolgt? Führt eine solche Differenzierung zu einem Erkenntnisgewinn, der letztlich auch eine therapeutische Relevanz hat? Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass dies durchaus der Fall ist [5]. Hinsichtlich des weiteren Verlaufes besteht nämlich ein deutlicher Unterschied, ob man eine psychotische Symptomatik zu Krankheitsbeginn als Schizophrenie, als akute vorübergehende psychotische Störung oder als schizoaffektive Störung einordnet. So zeigen beispielsweise die schizoaffektiven Störungen in den meisten Fällen einen episodischen Verlauf, wobei es zwischen den einzelnen Phasen eher selten zu ausgeprägten Funktionseinbußen kommt [5]. Bei den akuten vorübergehenden psychotischen Störungen fällt demgegenüber ein vergleichsweise hoher Anteil an Fällen auf, bei denen es über einen längeren Zeitraum hinweg lediglich bei einer einzigen Krankheitsepisode bleibt [5]. Bei der Schizophrenie entwickeln hingegen über die Hälfte der Patienten im weiteren Krankheitsverlauf ausgeprägte Funktionseinbußen [5]. Solche Informationen können therapierelevant sein, beispielsweise in Hinblick auf die Dauer einer medikamentösen Rezidivprophylaxe oder für die Planung von Rehabilitationsmaßnahmen. Eine Umsetzung dieser Differenzierung in den Behandlungsleitlinien steht bisher jedoch noch aus.

Psychiatrische Diagnosen, die auf psychopathologischen Phänomenen aufbauen, stellen letztlich begriffliche Konventionen dar. So hatte beispielsweise bereits Kurt Schneider (1887 – 1967) darauf hingewiesen, dass es bei der Unterscheidung zwischen Schizophrenie und den affektiven Krankheiten lediglich eine „Differenzialtypologie“ und keine echte „Differenzialdiagnose“ geben kann [6]. Für diese typologische Unterscheidung wurden von ihm erstmals diagnostische Kriterien im Sinne von Konventionen formuliert, nämlich die bekannten Symptome 1. Ranges. Mit dem Begriff der „Differenzialtypologie“ nimmt Schneider direkten Bezug auf seinen geistigen Lehrer Karl Jaspers (1883 – 1969), der das Typuskonzept in die Psychiatrie einführte [7]. So stellen für Jaspers psychopathologische Typen keine realen Krankheitseinheiten mit scharfen Grenzen dar. Vielmehr sind solche Typen als gedankliche Konstrukte mit fließenden Übergängen aufzufassen [7]. Psychiatrischen Diagnosemanualen wie ICD-10 und DSM-5 kommt der große Verdienst zu, bestimmte psychopathologischen Konventionen vorläufig kodifiziert zu haben. So stellen die diagnostischen Konventionen in ICD-10 und DSM-5 letztlich „Momentaufnahmen“ dar, die auch immer einer Weiterentwicklung bedürfen.

Die Übersichtsarbeit von Röh et al. [2] führt uns anschaulich die diagnostischen Konventionen in der ICD-10 vor Augen. Es stellt sich jedoch die Frage, wie sich die Diagnostik psychotischer Symptome in den nächsten Jahren entwickeln wird. Besonders gespannt darf man auf die Veränderungen beim Übergang von der ICD-10 zur ICD-11 sein [8]. Es ist jedoch fraglich, ob es hier zu einschneidenden Neuerungen kommen wird. Dennoch gibt es immer wieder auch Kritik an der aktuellen Diagnostik psychotischer Störungen, was insbesondere auch das Konstrukt der schizoaffektiven Störung betrifft [9]. So sollte auch versucht werden, sich nicht nur mit dem momentanen Stand zufrieden zu geben, sondern die psychopathologische Differenzierung psychotischer Symptome weiter zu optimieren. Hierbei erscheint auch die Verbindung von psychopathologischen und neurobiologischen Aspekten sinnvoll und notwendig. Als Ergänzung und möglicherweise auch als Alternative könnte sich in diesem Zusammenhang ein systemspezifischer Ansatz anbieten [10]. Hierbei wird von der Annahme ausgegangen, dass sich die verschiedenen „psychotischen“ Symptome den drei Domänen menschlicher Kommunikation „Sprache“, „Affekte“ und „Motorik“ zuordnen lassen, welche wiederum mit bestimmten neuronalen Funktionssystem bzw. Hirnregionen (Sprachregionen, limbisches System, motorische Systeme) in Verbindung stehen. Auf diese Weise lässt sich dann idealtypisch zwischen „sprachdominantem“, „affektdominantem“ und „motordominantem“ Typus unterscheiden [10]. Die Zukunft wird zeigen, ob dieser Ansatz, der eine deutliche Abkehr von den bisherigen diagnostischen Konventionen in ICD-10 und DSM-5 darstellt, sich für Klinik und Forschung als tragfähig erweist.

Zuletzt bleibt noch anzumerken, dass wohl auch noch auf unabsehbare Zeit psychopathologische Kompetenz bei der Differenzialdiagnostik – oder besser gesagt – Differenzialtypologie psychotischer Symptome erforderlich sein wird. Diese Kompetenz, die letztlich ganz im Sinne von Karl Jaspers [7] auf das Erkennen, Beschreiben und die sinnvolle Ordnung von bestimmten Phänomenen abzielt, muss erlernt, immer wieder trainiert und schließlich auch an junge Kollegen weitergeben werden. Geschieht dies nicht, droht die psychiatrische Diagnostik beliebig zu werden und das gesamte Fach Psychiatrie und Psychotherapie sein Fundament zu verlieren. Eine Beschäftigung mit den aktuellen Diagnosemanualen ICD-10 und DSM-5 ist hierbei unerlässlich [2]. Man sollte sich jedoch immer bewusst sein, dass es sich bei den dort aufgeführten Kriterien um Konventionen handelt, die immer wieder weiterentwickelt werden können und müssen.

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Prof. Dr. med. Markus Jäger
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Prof. Dr. med. Max Schmauß
 
  • Literatur

  • 1 Jäger M. Aktuelle psychiatrische Diagnostik. Ein Leitfaden für das tägliche Arbeiten mit ICD und DSM. Stuttgart: Thieme; 2015
  • 2 Röh A, Falkai P, Hasan A. Differenzialdiagnose psychotischer Symptome. Fortschr Neurol Psychiat 2016; 84: 1-12
  • 3 Szasz T. Geisteskrankheit – ein moderner Mythos. Grundlagen einer Theorie des persönlichen Verhaltens. Heidelberg: Carl Auer; 2013
  • 4 Holsboer F. Biologie für die Seele: Mein Weg zur personalisierten Medizin. München: C.H. Beck; 2009
  • 5 Möller HJ, Jäger M, Riedel M et al. The Munich 15-year follow-up study (MUFSSAD) on first-hospitalized patients with schizophrenic or affective disorders: Assessing courses, types and time stability of diagnostic classification. Eur Psychiatry 2011; 26: 231-243
  • 6 Schneider K. Klinische Psychopathologie. 13. Auflage. Stuttgart: Thieme; 1987
  • 7 Jaspers K. Allgemeine Psychopathologie. 1. Auflage. Heidelberg: Springer; 1913
  • 8 Gaebel W. Status of psychotic disorders in ICD-11. Schizophr Bull 2012; 38: 895-898
  • 9 Kotov R, Leong SH, Mojtabai R et al. Boundaries of schizoaffective disorder: revisiting Kraepelin. JAMA Psychiatry 2013; 70: 1276-1286
  • 10 Lang FU, Dreyhaupt J, Walther S et al. Schizophrene Psychosen mit motordominanter Symptomatik: Überlegungen zu einem systemspezifischen Ansatz. Fortschr Neurol Psychiat 2015; 83: 437-445