Flugmedizin · Tropenmedizin · Reisemedizin - FTR 2016; 23(04): 164
DOI: 10.1055/s-0042-113261
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Biomarker im Blut können bisher nicht zuverlässig das Risiko für einen Selbstmord anzeigen

Suizidalität in flugmedizinischen Diagnoseverfahren erkennen
Carla Ledderhos
1   Fürstenfeldbruck, Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrtmedizin
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Publication History

Publication Date:
24 August 2016 (online)

 

Simons R. Use of gene expression biomarkers to predict suicidality. Aerosp Med Hum Perform 2016; 87: 659–660

Thema: Der Absturz des Airbusses A320 der Lufthansa-Tochter Germanwings am 24. März 2015 hat die Flugmedizin in einem Maße beeinflusst, wie kaum ein anderer Flugunfall zuvor. Fieberhaft wird seitdem von Institutionen, Organisationen, Fachgesellschaften sowie Flugmedizinern und -psychologen nach Möglichkeiten gesucht, solche sogenannten aircraft-assisted pilot suicides [[1]] in Zukunft wirksam zu verhindern.

Projekt: In dem oben genannten Kommentar hat der Autor versucht, die Nützlichkeit von Biomarkern im Blut, die nach Meinung verschiedener Neurowissenschaftler für die Identifikation von Suizidalität einsetzbar sind, anhand der relevanten Literatur zu diskutieren und im flugmedizinischen Kontext zu bewerten.

Ergebnisse: Die in Betracht gezogenen Studien [[2] [4]] konnten insgesamt 6 Kandidatengene (SAT1, MARCKS, UBA6, PTEN, MAP3K und MT-ND6) identifizieren, die eine statistisch signifikante, bonferronikorrigierte, schrittweise Veränderung in ihrer Expression bei nicht suizidalen über suizidal höchst gefährdete bis hin zu suizidal erfolgreichen Personen mit einer bipolaren Störung aufwiesen. Zur Beurteilung der Aussagekraft des Tests wurde die sogenannte quantitative ROC-Analyse, wobei ROC für Receiver Operating Characteristic steht, herangezogen. Die aus der grafischen Darstellung der Sensitivität (wahre positive Ergebnisse) in Abhängigkeit von der Rate falsch positiver Ergebnisse (1-Spezifität) ermittelte Fläche unter der Kurve (Area under the curve, AUC) ergab bei der Kombination aller 6 Gene einen AUC-Wert von 0,73, der als ausreichend bewertet werden kann. Dieses Ergebnis ist zwar vielversprechend, besagt jedoch, dass die Methode noch Verbesserungsbedarf hat, um sie als Routinemethode implementieren zu können.

Fazit: Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die derzeit identifizierten Biomarker für Suizidalität trotz aller Hoffnungen, die auf sie gesetzt werden, zunächst sogfältig validiert werden müssen, bevor sie Eingang in ein flugmedizinisches Diagnose- beziehungsweise Screeningverfahren finden können. Nach wie vor bleibt für den Flugmediziner eine sorgfältige Anamnese, die Warnsignale suizidalen Verhaltens erfragt, das wichtigste Werkzeug zur Erfassung eines möglichen suizidalen Verhaltens. Ein vertrauensvolles Verhältnis und eine belastbare Partnerschaft zwischen Fliegerarzt und Pilot ermöglichen es dabei, frühe Zeichen einer ungünstigen beruflichen und / oder sozialen Entwicklung des Piloten zu erkennen und ihm Strategien zur Bewältigung dieser an die Hand zu geben und somit präventiv wirken zu können.

Kommentar

Weltweit setzen pro Jahr circa eine Million Menschen ihrem Leben ein Ende [[5]]. Damit stirbt etwa alle 40 Sekunden ein Mensch an den Folgen eines Suizids [[6]]. Nicht inbegriffen in dieser Aufstellung sind die ungezählten fehlgeschlagenen Suizide. Eine sichere Frühidentifikation suizidalen Verhaltens wäre damit nicht nur für die Flugmedizin sondern auch im gesamtgesellschaftlichen Kontext von größter Bedeutung und ohne Frage erstrebenswert. Die Möglichkeit, mit einfach durchzuführenden Tests oder simplen Biomarkern Personen zu identifizieren, die suizidal gefährdet sind, würde nicht nur sehr viel Leid verhindern, sondern auch einen Schritt hin zu einer individualisierten Medizin, die gezielt eingreifen und therapieren könnte, bedeuten.

Nach Untersuchungen von Vuorio [[1]] bei den sogenannten aircraft-assisted pilot sucides haben 5 von 8 Personen in ihrem Umfeld vor dem ausgeführten Suizid diesen Gedanken kommuniziert. Dagegen teilen Personen, die einen Suizid planen, ihre Gedanken dem behandelnden Arzt häufig nicht mit. Insofern wäre ein Test, der weitgehend von der Mitarbeit der zu untersuchenden Person unabhängig und damit objektiv wäre, mehr als nur erstrebenswert.

Dennoch ist es zu früh und die Datenlage noch nicht ausreichend, um sich bei der Erkennung einer potenziellen Suizidalität einzig und allein auf Biomarker zu verlassen. So stehen Untersuchungen an Frauen und weitere Studien an nicht bipolaren Personen aus, deren Ergebnisse abgewartet werden müssen.

Auch wenn es noch ein langer Weg bis zur Einführung der gengestützten Analyse in die Routinediagnostik ist, haben Biomarker im Blut zur Bestimmung der Suizidalität das Potenzial, in Kombination mit der klinischen Untersuchung ein nützliches Hilfsmittel in der Psychiatrie und Psychotherapie zu werden. Möglicherweise befähigen sie uns zukünftig sogar, durch die Nutzung verschiedener Sets von Markern zwischen gewalttätigen und nicht gewalttätigen sowie zwischen impulsiven und planmäßig vorgehenden Selbstmördern unterscheiden zu können. Dies hätte nicht nur positives für die Flugmedizin sondern wäre auch gesamtgesellschaftlich erstrebenswert.

Dennoch birgt ein solches Vorgehen immer auch die Gefahr eines falsch positiven Ergebnisses und der Stigmatisierung von Trägern solcher Merkmale oder aber die einer sich selbst verwirklichenden Prophezeiung in sich. Sowohl der Flugmediziner wie auch der behandelnde Arzt sollten sich dieser Verantwortung stets bewusst sein. Immer wird die Gesamtschau der Befunde zur Beurteilung des Risikos ausschlaggebend bleiben.


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  • Literatur

  • 1 Vuorio A, Laukkala T, Navathe P et al. Aircraft-assisted pilot suicides: lessons to be learned. Aviat Space Environ Med 2014; 85: 841-846
  • 2 Le-Niculescu H, Levey DF, Ayalew M et al. Discovery and validation of blood biomarkers for suicidality. Mol Psychiatry 2013; 18: 1249-1264
  • 3 Niculescu AB, Levey D, Le-Niculescu H et al. Psychiatric blood biomarkers: avoiding jumping to premature negative of positive conclusions. Mol Psychiatry 2015; 20: 286-288
  • 4 Punzi G, Ursini G, Shin JH et al. Increased expression of MARCKS in post-mortem brain of violent suicide completers is related to transcription of a long, noncoding, antisense RNA. Mol Psychiatry 2014; 19: 1057-1059
  • 5 Ghanshyam NP, Dwivedi Y. Peripheral biomarkers for suicide. In: Dwivedi Y, (Ed.) The neurobiological basis of suicide. Boca Raton: CRC Press/Taylor & Francis; 2012
  • 6 Niculescu AB, Levey DF, Phalen PL et al. Understanding and predicting suicidality using a combined genomic and clinical risk approach. Mol Psychiatry 2015; 20: 1266-1285

  • Literatur

  • 1 Vuorio A, Laukkala T, Navathe P et al. Aircraft-assisted pilot suicides: lessons to be learned. Aviat Space Environ Med 2014; 85: 841-846
  • 2 Le-Niculescu H, Levey DF, Ayalew M et al. Discovery and validation of blood biomarkers for suicidality. Mol Psychiatry 2013; 18: 1249-1264
  • 3 Niculescu AB, Levey D, Le-Niculescu H et al. Psychiatric blood biomarkers: avoiding jumping to premature negative of positive conclusions. Mol Psychiatry 2015; 20: 286-288
  • 4 Punzi G, Ursini G, Shin JH et al. Increased expression of MARCKS in post-mortem brain of violent suicide completers is related to transcription of a long, noncoding, antisense RNA. Mol Psychiatry 2014; 19: 1057-1059
  • 5 Ghanshyam NP, Dwivedi Y. Peripheral biomarkers for suicide. In: Dwivedi Y, (Ed.) The neurobiological basis of suicide. Boca Raton: CRC Press/Taylor & Francis; 2012
  • 6 Niculescu AB, Levey DF, Phalen PL et al. Understanding and predicting suicidality using a combined genomic and clinical risk approach. Mol Psychiatry 2015; 20: 1266-1285