Einleitung
Ausgehend von epidemiologischen Beobachtungen hat sich in den letzten Jahrzehnten
ein Forschungsfeld entwickelt, das sich mit der Entstehung von Erkrankungen im späteren
Lebensalter durch ungünstige Einflüsse während der Entwicklung beschäftigt. Nach ersten
wegweisenden Arbeiten in den 1970er-Jahren wurde das Thema einem breiten Publikum
durch die retrospektiven Analysen einer Kohorte von mehr als 16 000 Männern und Frauen
aus Hertfordshire (UK) bekannt, die den statistischen Zusammenhang zwischen erniedrigtem
Geburtsgewicht und einem später erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse zeigten
[1], [2].
In der Folge veröffentlichte Artikel verwendeten zunehmend den Begriff der fetalen oder perinatalen „Programmierung“
[3], um den Zusammenhang zwischen früher Entwicklung und späteren Erkrankungen zu betonen
(Abb. [1]). Während sich dieser Begriff im Deutschen durchgesetzt hat, gibt es im Englischen
für das Forschungsfeld darüber hinaus die etwas weiter gefasste und anschaulichere
Beschreibung des „entwicklungsbedingten Ursprungs von Gesundheit und Erkrankung“ (DoHaD,
Developmental Origins of Health and Disease) [4].
Abb. 1 Prägung findet bereits im Mutterleib statt.
Beiden Begriffen liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Organismus sowohl pränatal
als auch in bestimmten postnatalen Entwicklungsfenstern in der Lage ist, auf veränderte
Umweltbedingungen mit komplexen Anpassungsprozessen zu reagieren. Diese sichern ein
Überleben in der Akutsituation, können jedoch gleichzeitig unwiderrufliche Veränderungen
auf struktureller und funktioneller Ebene verursachen und damit den Grundstein für
spätere Erkrankungen legen (Abb. [2]).
Abb. 2 Ernährungsmedizin: Bedeutung der perinatalen Programmierung für die allgemeine Ätiopathologie,
z. B. des Metabolischen Syndroms (aus: Plagemann A. Prävention beginnt im Mutterleib.
Aktuelle Ernährungsmedizin 2013; 38 (S01): 16–20).
Historische Entwicklung des Forschungsfelds
Historische Entwicklung des Forschungsfelds
Im Jahr 1933 wurde in einer im Lancet veröffentlichten Analyse festgestellt, dass
die Lebensbedingungen in den ersten 15 Lebensjahren einen großen Einfluss auf die
Gesundheit im Laufe des gesamten Lebens haben. Zudem wurde postuliert, dass der Rückgang
der Sterblichkeitsrate von Kleinkindern im Wesentlichen auf eine Verbesserung der
mütterlichen Gesundheit zurückzuführen sei [5].
Funktionelle Teratologie. Anfang der 1970er-Jahre veröffentlichte eine Berliner Arbeitsgruppe um Prof. Günter
Dörner Artikel, die das Konzept der funktionellen Teratologie vorstellten [6]. Fast alle großen Erkrankungsbereiche, bei denen heute ein pathogenetischer Zusammenhang
mit der frühkindlichen Entwicklung als gesichert gilt, wurden auch von Dörner in diesem
Kontext erwähnt. So gibt es Arbeiten, die einen möglichen Zusammenhang zwischen perinataler
Ernährung und Adipositas, Diabetes mellitus, Arteriosklerose, Gehirnentwicklung und
neurokognitiven Störungen diskutieren [7] – [10].
Zeitfenster. Mitte der 1970er-Jahre wurde erstmals auch in einer großen epidemiologischen Studie
gezeigt, dass die Söhne von Müttern, die während der Frühschwangerschaft der holländischen
Hungersnot 1944–45 ausgesetzt waren, eine erhöhte Prävalenz für Adipositas im Alter
von 19 Jahren aufwiesen. Waren die Mütter jedoch zu Beginn der Hungersnot bereits
im letzten Trimenon, konnte keine erhöhte Rate an Fettleibigkeit bei den Nachkommen
nachgewiesen werden [11]. Diese Studie zeigt somit auch einen weiteren Aspekt perinataler Programmierung.
Nicht allein das Vorliegen einer intrauterinen Pathologie an sich, sondern auch die
betroffene Entwicklungsphase in utero beeinflusst das daraus resultierende spätere
Erkrankungsrisiko.
In einer anderen epidemiologischen Studie aus Norwegen wurde eine positive Korrelation
zwischen der Anzahl frühkindlicher Sterbefälle (gewertet als Index für die Qualität
der frühkindlichen Versorgung) in einer Kohorte und der Anzahl kardiovaskulärer Todesfälle
im Alter von 40–69 Jahren berichtet [12]. Zu dieser Zeit wurde auch der Begriff der Nährstoff-vermittelten Teratogenese
[13] entwickelt, der auf die möglichen Folgen einer gestörten mütterlichen Glukosetoleranz
mit einer Über- statt Unterversorgung auf die langfristige Gesundheit der Nachkommen
hinweisen soll.
Thrifty Phenotype Hypothesis. Eine knappe Dekade später zeigte die Arbeitsgruppe um Barker in retrospektiven Analysen
einer Kohorte (Hertfordshire, UK), dass ein niedriges Geburtsgewicht zu einer erhöhten
Inzidenz von Herzinfarkt [2], arterieller Hypertonie [14] und gestörter Glukosetoleranz [15] im Erwachsenenalter führte. Als mögliche Erklärung für diese Beobachtung entwickelten
Hales und Barker die Thrifty Phenotype Hypothesis („Hypothese des sparsamen Phänotyps“)
[16]. Die zugrunde liegende Idee war, dass der Organismus durch intrauterinen Mangel
auf maximale Energiegewinnung aus dem verfügbaren Nährstoffangebot geprägt wird. Insbesondere
wenn dies mit einer postnatalen Überflusssituation zusammentrifft, kann sich die frühe
Stoffwechselprägung im späteren Lebensalter negativ auswirken. Dieser Gedanke wurde
fortgeführt und in der „Mismatch-Theorie“ aufgegriffen, die vor allem die grundsätzliche
Veränderung der Umweltbedingungen prä- versus postnatal für die spätere Entstehung
von Krankheiten verantwortlich macht.
Aufholwachstum entscheidend. In diesem Zusammenhang werden auch die Studien diskutiert, in denen die Überlebenden
der Belagerung von Leningrad [17] und die Überlebenden der holländischen Hungersnot 1944–45 [18], [19] untersucht wurden. In der niederländischen Kohorte, in der sich die Versorgungslage
nach der Hungersnot kontinuierlich verbesserte, konnte eine Assoziation zwischen Hungerexposition
in utero und gestörter Glukosetoleranz [18] bzw. koronarer Herzerkrankung im späteren Erwachsenenalter [19] nachgewiesen werden.
In der Kohorte aus Leningrad hingegen, die ebenfalls in utero der Hungersnot ausgesetzt
war, aber anschließend keine vergleichbare Verbesserung der Lebensbedingungen erfuhr,
ließ sich kein erhöhtes Risiko für Glukoseintoleranz oder arterielle Hypertonie nachweisen.
Auch wenn es sowohl methodikbedingt als auch pathophysiologisch weitere Erklärungsansätze
für die unterschiedlichen Ergebnisse aus beiden Kohorten gibt, so ist mittlerweile
unumstritten, dass ein rasches Aufholwachstum nach Mangelgeburt durch ein Überangebot
an Nährstoffen einen zusätzlichen Risikofaktor für die spätere Entwicklung von Erkrankungen
darstellt [20].
Obwohl man ursprünglich von der Mangelgeburt ausgehend diese Hypothese entwickelt
hatte, zeigte sich ein ungünstiger Effekt einer übermäßigen Gewichtszunahme auch unabhängig
vom Geburtsgewicht. So wurde beispielsweise eine perzentilenkreuzende Gewichtszunahme
im frühen Kindesalter unabhängig vom Geburtsgewicht als wichtiger Risikofaktor für
erhöhte Insulinkonzentrationen im Alter von 9–12 Jahren identifiziert [21].
Fazit für die Praxis
Zusammenfassend zeigt sich, dass es einen fließenden Übergang gibt zwischen Erkrankungen,
die durch ungünstige Umwelteinflüsse in utero („perinatale Programmierung“ im engeren
Sinne) bis hin zu Erkrankungen, die auf einen „prägenden“ Einfluss der Lebensumstände
(z. B. Nährstoffangebot, Bewegung) in anderen wichtigen Entwicklungsfenstern zurückzuführen
sind.
In den letzten Jahren hat sich aus dieser Erkenntnis heraus im englischsprachigen
Raum mit dem „Life Course Approach to Chronic Disease“ ein neues Schlagwort entwickelt,
das alle diese Aspekte berücksichtigen soll (Abb. [3]) [22].
Abb. 3 Perinatale Programmierung: Lebensumstände und pränatale Einflüsse greifen beim Entstehen
chronischer Erkrankungen ineinander.
Ursachen und Mechanismen perinataler Programmierung
Ursachen und Mechanismen perinataler Programmierung
Ausgehend von den epidemiologischen Studien aus den späten 1970er- und 1980er-Jahren,
in denen vor allem eine schlechte perinatale Versorgungslage bzw. ein niedriges Geburtsgewicht
als Risikofaktor für spätere Erkrankungen imponierte [2], [11], [12], war die Programmierung nach intrauterinem Mangel von Anfang an ein Schwerpunkt
des Forschungsfelds. Inzwischen haben sich weitere Forschungsschwerpunkte herauskristallisiert.
Man weiß heute, dass verschiedenste Einflüsse während der Schwangerschaft (z. B. Präeklampsie,
Gestationsdiabetes, maternale Adipositas, maternaler Stress) bzw. Einflüsse in anderen
wichtigen Entwicklungsfenstern (z. B. postnataler Mangel/Überfluss an Mikro- und Makronährstoffen)
zu einer Programmierung von Erkrankungen führen können.
Ein Organsystem ist umso anfälliger für „programmierende“ Einflussfaktoren, je größer
die Plastizität zu dem Zeitpunkt des Einflusses ist.
Plastizität der Organentwicklung. Am Beispiel der Leptin-Knock-out-Maus konnte dies exemplarisch sehr schön gezeigt werden. Normalerweise vermittelt Leptin
über eine Stimulation von Neuronen im Nucleus arcuatus des Hypothalamus eine Reduktion
der Nahrungsaufnahme. Die für die sättigungsvermittelnde Wirkung verantwortlichen
neuronalen Projektionen bilden sich jedoch nur aus, wenn in der plastischen Phase
(bei der Maus früh postnatal) auch Leptin im Organismus vorhanden ist. Bei der Leptin-Knock-out-Maus
bewirkt eine Leptingabe im Erwachsenenalter daher keine Reduktion der Nahrungsaufnahme,
da sich die hierfür notwendigen neuronalen Projektionen durch den Mangel an funktionellem
Leptin nicht ausgebildet haben. Behandelt man die Maus hingegen früh postnatal mit
Leptin, so können sich die entsprechenden neuronalen Projektionen des Nucleus arcuatus
normal entwickeln, und eine Leptinbehandlung im späteren Lebensalter führt zu einer
Reduktion der Nahrungsaufnahme und Gewichtsabnahme [23].
Auch beim Menschen zeigen Studien, dass eine intrauterine Pathologie zu einer veränderten Organstruktur führen kann. So wurde beispielsweise in histologischen Untersuchungen von Nieren
verstorbener IUGR-Kinder eine verminderte Nephronanzahl nachgewiesen [24]. Daneben spielen hormonelle Veränderungen, z. B. Störungen des Glukokortikoidhaushalts,
vermutlich eine wichtige pathogenetische Rolle [25], [26].
Molekulare Mechanismen. Im Hinblick auf die Aufklärung molekularer Mechanismen konnte sowohl in verschiedenen
Tiermodellen [27] als auch beim Menschen [28], [29] gezeigt werden, dass eine veränderte Methylierung von Genen eine wichtige Rolle
spielen könnte. Besondere Beachtung verdient hierbei die Tatsache, dass Änderungen
des Methylierungsstatus von Genen zum Teil über mehrere Generationen nachweisbar sind
(Transgenerationseffekt) [30]. Auch die veränderte Struktur, Expression und Funktion von Histonproteinen [31] oder micro-RNAs [32] werden als wichtige Mechanismen diskutiert (Abb. [4]).
Abb. 4 Risikofaktoren: Maternale, plazentare und kindliche Faktoren, die einen „programmierenden
Effekt“ haben können.
Methodische Aspekte
Lange Zeit war in der Literatur eine Vermischung der Begrifflichkeiten zu beobachten.
Von intrauterinem Mangel über Intrauterine Growth Restriction (IUGR) und Small for Gestational Age (SGA) bis hin zu Low Birth Weight (LBW) Infants gab es in den Studien immer wieder ungenaue oder fehlende Abgrenzungen.
Small for Gestational Age (SGA)
Einer internationalen Leitlinie entsprechend gilt ein Kind als SGA-geboren, wenn das
Geburtsgewicht und/oder die Geburtslänge mehr als zwei Standarddeviationen unterhalb
des mittleren Geburtsgewichts/der mittleren Geburtslänge aller Kinder gleichen Gestationsalters
der Referenzpopulation liegt [33]. Daneben gibt es Definitionen, nach denen ein Kind als SGA-geboren gilt, wenn das
Geburtsgewicht unterhalb der 3., 5. oder 10. Gewichtsperzentile für das jeweilige
Gestationsalter liegt.
Beachtung des gesamten Schwangerschaftsverlaufs
Ein niedriges Geburtsgewicht allein sagt jedoch wenig über die Versorgung im Mutterleib
aus. Nur wenn Daten über den Schwangerschaftsverlauf und das Wachstum in utero vorliegen,
kann anhand des Perzentilen-kreuzenden Wachstums des Feten eine intrauterine Wachstumsrestriktion
diagnostiziert werden. Insbesondere bei großen Eltern ist es schwierig, anhand des
Geburtsgewichts auf eine IUGR zurückzuschließen, bei fehlenden Daten aus der Schwangerschaft
wird hier die IUGR unterdiagnostiziert.
Grundsätzlich weist die Diagnose einer IUGR darauf hin, dass der Wachstumsrestriktion
eine maternale, fetale oder plazentare Pathologie zugrunde liegt. Tierexperimentelle
Untersuchungen legen nahe, dass auch beim Menschen verschiedene intrauterine Pathologien
zu unterschiedlichen Programmierungsphänotypen bei gleichzeitig ähnlichen Wachstumsrestriktionsphänotypen
führen können [34].
Tipp für die Praxis
Die häufigste und in Zusammenhang mit Programmierung am besten untersuchte IUGR-Ursache
in westlichen Ländern ist die Plazentainsuffizienz, die mittels dopplersonografischer
Untersuchung der fetoplazentaren Blutflussverhältnisse diagnostiziert werden kann
[35].
Heterogene Ursachen – eine Auswirkung
Gerade in großen retrospektiven epidemiologischen Untersuchungen ist es nahezu unmöglich,
die Ursachen eines niedrigen Geburtsgewichts in den Analysen für alle Kinder herauszufinden
und zu berücksichtigen. Dies bedeutet, dass Kohorten von „SGA“-Kindern relativ heterogen
zusammengesetzt sein können aus
-
Kindern, die aufgrund der Elterngröße klein geboren wurden und eine völlig unauffällige
Entwicklung in utero durchlaufen haben,
-
Kindern, die aufgrund einer schwangerschaftsunabhängigen Pathologie (z. B. Syndrom)
zu klein geboren wurden, und
-
Kindern, die aufgrund einer Schwangerschaftspathologie klein geboren wurden und ein
Perzentilen-kreuzendes Wachstum durchlaufen haben („echte IUGR“).
Erschwerend kommt hinzu, dass nicht in allen Studien ausreichende und vor allem longitudinale
Daten vorliegen, die eine getrennte Analyse des Einflusses der intrauterinen Pathologie
einerseits und der Vielfalt postnataler Faktoren (z. B. Aufholwachstum) andererseits
ermöglichen würden.
Studienlage zum Einfluss des intrauterinen Milieus
Studienlage zum Einfluss des intrauterinen Milieus
Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung
Trotz der genannten methodischen Schwierigkeiten gibt es inzwischen hinreichend Daten,
die einen Zusammenhang zwischen verschiedensten Störungen des intrauterinen Milieus
und der Programmierung von Erkrankungen belegen. Besonders wertvoll in diesem Zusammenhang
sind große populationsbasierte Studien (HUNT Research Centre, Norwegen; Generation-R-Study,
Niederlande; Avon Longitudinal Study of Parents and Children, England; NHANES III,
USA; Northern Finland Birth Cohort Studies, Finland) sowie die prospektiven klinischen
Studien gut definierter Kohorten. All diese Studien können jedoch nur Assoziationen
belegen und keine kausalen Zusammenhänge aufzeigen. Im Folgenden sollen epidemiologische
und klinische Studien vorgestellt werden, die mögliche Auswirkungen verschiedener
intrauteriner Pathologien für die normale kindliche Entwicklung aufzeigen.
Programmierung durch intrauterinen Mangel
Herz-Kreislauf-System
In der prospektiven Generation-R-Kohortenstudie war ein erhöhter Widerstand der Umbilikalarterien
(verbunden mit einem verminderten fetalen Wachstum im 3. Trimester) mit einer verminderten
linksventrikulären Masse im Alter von 6 Jahren assoziiert [36]. In verschiedenen anderen IUGR-/SGA-Kohorten konnte gezeigt werden, dass bereits
neonatal eine Zunahme der Intima-Media-Dicke [37] – [39] sowie echokardiografische Auffälligkeiten wie ein erhöhtes Schlagvolumen oder eine
linksventrikuläre Hypertrophie [40] – [42] vermehrt auftreten. Kompensationsmechanismen in der postnatalen Wachstumsphase führen
dazu, dass bei longitudinalen Untersuchungen die echokardiografischen und dopplersonografischen
Unterschiede zwischen IUGR-/SGA- und Kontrollkindern zum Teil nicht mehr nachweisbar
sind [37], [38], [40]. Funktionell konnte bei IUGR-Feten eine verminderte Herzfrequenzvariabilität nachgewiesen
werden [43].
Eine populationsbasierte Analyse aus Dänemark konnte zudem zeigen, dass ehemals SGA-geborene
Frauen in der Schwangerschaft ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer schwangerschaftsassoziierten
Hypertonie haben [44].
Bei IUGR-/SGA-Feten bzw. -Neugeborenen kommt es häufiger zu einer vermehrten Intima-Media-Dicke,
zu echokardiografischen Auffälligkeiten und zu verminderter Herzfrequenzvariabilität.
Niere
Pränatal konnte bei IUGR-Feten vor allem zu Beginn des 3. Trimenons ein vermindertes
Nierenwachstum nachgewiesen werden [45]. In Studien an totgeborenen Kindern bzw. kurz nach der Geburt verstorbenen Kindern
zeigte sich eine Reduktion der Nephronenzahl und ein erhöhtes glomeruläres Volumen
bei IUGR- Feten und -Kindern [24], [46]. Es ist bekannt, dass diese Veränderungen zu einer glomerulären Hyperfiltration,
Proteinurie und arteriellen Hypertonie führen können [47]. Tatsächlich wurde in der prospektiven HUNT- Studie gezeigt, dass nach SGA-Geburt
die Kreatinin-Clearance bereits im Kindes- [48] und jungen Erwachsenenalter [49] vermindert sein kann. In einer Kohorte von Kindern mit pathologischem intrauterinem
Umbilikalarterien-Doppler konnte bereits im Alter von 18 Monaten eine erhöhte Ausscheidung
von Albumin im Urin beobachtet werden [39].
Die Inzidenz von arterieller Hypertonie bei ehemaligen SGA-Kindern im frühen Kindesalter
ist erhöht [48], besonders bei Kindern mit ausgeprägtem Aufholwachstum [50], [51]. Ursächlich könnten eine Aktivierung des RAAS [45] und eine vermehrte Salzsensitivität des Blutdrucks (definiert als Blutdruckanstieg
über 3 mmHg unter salzreicher Diät) eine Rolle spielen [48]. Ebenfalls von Bedeutung für die langfristige Entwicklung von Nierenerkrankungen
nach SGA-/IUGR-Geburt könnte eine erhöhte Vulnerabilität gegenüber Noxen wie bei Behandlung
mit Aminoglykosiden sein [52].
Fazit für die Praxis
Bei IUGR-Feten kommt es zu einem verminderten Nierenwachstum, sodass die Kreatinin-Clearance
bereits im Kindes- und jungen Erwachsenenalter vermindert sein kann. Die Inzidenz
von arterieller Hypertonie ist bei ehemaligen SGA-Kindern im frühen Kindesalter erhöht.
Gehirn
Die Generation-R-Studie konnte zeigen, dass gutes fetales Wachstum in der 2. Schwangerschaftshälfte
mit einem verminderten Risiko für neurokognitive (Minnesota Infant Development Inventory)
[53] und neuromotorische (adaptierte Touwenʼs Neurodevelopmental Examination) [54] Entwicklungsauffälligkeiten assoziiert ist. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass
intrauterine Wachstumsretardierung einen Risikofaktor für die neurokognitive Entwicklung
darstellen kann. Tatsächlich gibt es eine Vielzahl kleinerer Studien, die eine erhöhte
Inzidenz entwicklungsneurologischer Auffälligkeiten in SGA/IUGR-Kohorten berichtet
[55], [56]. Eine prospektive Kohortenstudie, die ehemalige IUGR-Kinder in verschiedenen Altersstufen
neuropsychologisch testete, konnte zeigen, dass insbesondere eine erhöhte Inzidenz
von Lern- und Gedächtnisschwierigkeiten [57] sowie Störungen der räumlichen Orientierung [58] im Vergleich zu Kontrollen vorlag. Besonders erhöht scheint das Risiko für neuropsychologische
und entwicklungsneurologische Störungen bei ehemaligen IUGR-Kindern ohne Aufholwachstum
zu sein [50], [59].
Auch für psychiatrische Erkrankungen scheint das Risiko nach IUGR-/SGA-Geburt erhöht
zu sein. In der prospektiven HUNT-Studie konnte gezeigt werden, dass junge Erwachsene
nach SGA-Geburt eine erhöhte Inzidenz von Angst- und Depressionserkrankungen aufweisen
[60].
Stillen scheint im Hinblick auf die neurokognitive Entwicklung hingegen einen protektiven
Effekt zu haben [61].
Metabolismus
In einer populationsbasierten Studie aus den USA (NHANES III) konnte gezeigt werden,
dass SGA-Kinder auch im Alter von 6 Jahren noch signifikant kleiner und leichter sind
als die Kontrollen [62], [63]. Allerdings besteht ein erhöhtes Risiko für eine gestörte Körperzusammensetzung
mit erhöhtem Gesamtkörperfettanteil [62]. In kleineren Studien zeigt sich, dass dies vor allem auf einem erhöhten viszeralen
Fettanteil zu beruhen scheint [64].
In der HUNT-Studie aus Norwegen zeigt sich im frühen Erwachsenenalter, dass hinsichtlich
weiterer metabolischer Parameter ein Geschlechtsunterschied vorzuliegen scheint. Bei
Männern nach SGA-Geburt waren im Alter von 20–30 Jahren erhöhte Inzidenzen für Adipositas,
erhöhte Triglyzeridkonzentrationen im Serum, erniedrigte HDL-Konzentrationen im Serum
und gestörte Glukosetoleranz zu beobachten, wohingegen bei Frauen nur eine erhöhte
Inzidenz für Adipositas zu beobachten war [65]. Welche Rolle das Aufholwachstum dabei spielt, ist weiterhin Gegenstand der Diskussion.
Tempo des Aufholwachstums. In einer großen Kohortenstudie, in der 1957 termingeborene SGA-Kinder sowie 21 247
Kontrollen über die ersten 7 Lebensjahre verfolgt wurden, zeigte sich, dass bei schnellem
Aufholwachstum der SGA-Kinder bis zur 30. Perzentile in den ersten Lebensmonaten mit
anschließend langsamerem Aufholwachstum bis zur 50. Perzentile im Alter von 7 Jahren
das Risiko für die untersuchten Folgeerkrankungen (Adipositas, erhöhter Blutdruck,
niedriger IQ) nicht erhöht war. Exzessives Aufholwachstum hingegen führte zu einem
erhöhten Risiko für Adipositas und arterielle Hypertonie [50]. Ungeklärt ist dabei jedoch weiterhin, inwieweit das Aufholwachstum beeinflusst
werden sollte, z. B. durch Anreicherung der Nahrung. Phänomenologisch ist bei persistierendem
Wachstum = 2 SDS die Therapie mit Wachstumshormon zur Normalisierung der Körperhöhe
zugelassen [33].
Stillen. Nach aktueller Studienlage scheint das Stillen einen protektiven Effekt zu haben.
So konnte gezeigt werden, dass gestillte SGA-Kinder im Alter von 4 Monaten normale
Spiegel von Adiponectin und IGF-1 hatten, wohingegen Formula-ernährte Kinder erhöhte
Adiponectin- und IGF-1-Konzentrationen hatten [66]. Im Alter von 12 Monaten hatten die gestillten SGA-Kinder zudem eine bessere Insulinsensitivität
[67].
Fazit für die Praxis
Bei SGA-Kindern besteht ein erhöhtes Risiko für eine gestörte Körperzusammensetzung
mit erhöhtem Gesamtkörperfettanteil, wobei das Aufholwachstum eine entscheidende Rolle
spielen könnte. Stillen scheint einen protektiven Effekt zu haben.
Lunge
In den retrospektiven Untersuchungen der von Barker untersuchten Kohorte aus Hertfordshire
(UK) wurde erstmals eine Assoziation zwischen erniedrigtem Geburtsgewicht und der
Rate an Todesfällen durch chronisch obstruktive Lungenerkrankung gezeigt [68]. In einer großen prospektiven Kohortenstudie aus Bristol fand sich nach SGA-Geburt
im Alter von 8–9 Jahren eine signifikant schlechtere Lungenfunktion (FEV1, FVC, FEF
25–75 %), im Alter von 14–17 Jahren war der Unterschied nicht mehr signifikant [69]. In einer kleineren Studie, in der Nachuntersuchungen von Kindern aus Mehrlingsschwangerschaften
im Alter von 7–15 Jahren publiziert wurden, zeigte sich ebenfalls eine Assoziation
von SGA-Geburt mit einem verminderten FEF-50-Wert [70]. Eine Metaanalyse, die 18 Studien umfasste, zeigte eine Korrelation von niedrigem
Geburtsgewicht und der Inzidenz von Asthma [71].
Ein niedriges Geburtsgewicht scheint für die Entwicklung von Lungenerkrankungen zu
prädestinieren.
Programmierung durch maternale Adipositas
Die prospektive finnische Geburtskohortenstudie identifizierte präkonzeptionelles
maternales Übergewicht als unabhängigen Risikofaktor für das Vorliegen einer abdominellen
Adipositas der Kinder im Alter von 16 Jahren [72]. In einer weiteren prospektiven Studie an 1090 Mutter-Kind-Paaren wurde gezeigt,
dass ein präkonzeptionell erhöhter maternaler Body-Mass-Index (BMI) zudem positiv
mit den kindlichen Leptinwerten, dem HOMA-Index zur Messung der Insulinresistenz und
den systolischen Blutwerten assoziiert war.
Im Hinblick auf die Körperzusammensetzung wurde eine positive Korrelation des maternalen
BMI mit einem erhöhten Körperfettanteil der Kinder nachgewiesen [73]. Den Einfluss präkonzeptionellen Übergewichts auf die Gewichtsentwicklung der Kinder
belegt auch eine Fallserie, bei der 172 Kinder im Alter von 2–18 Jahren nachuntersucht
wurden, deren Mütter aufgrund einer ausgeprägten Adipositas eine biliogastrale Bypass-Operation
vor oder nach der Geburt erhalten hatten. Kinder, die vor der Operation geboren worden
waren, hatten eine höhere Adipositasprävalenz als Kinder, die nach der Operation geboren
worden waren [74].
Zwei prospektive Studien sowie eine Metaanalyse weisen darauf hin, dass auch bei normalem
mütterlichen BMI eine übermäßige Gewichtszunahme während der Schwangerschaft einen
unabhängigen Risikofaktor für kindliche Adipositas darstellt [75] – [77]. Dies scheint jedoch vor allem für eine übermäßige Gewichtszunahme im ersten Trimenon
zu gelten [78].
Neben den metabolischen Folgen gibt es auch Hinweise darauf, dass ein erhöhter maternaler
BMI sich ungünstig auf die Gehirnentwicklung auszuwirken scheint. Mehrere prospektive
Studien aus den USA zeigten eine positive Korrelation zwischen präkonzeptionell erhöhtem
maternalen BMI und verminderter Intelligenz [79] bzw. der Inzidenz entwicklungsneurologischer Auffälligkeiten (v. a. ADHS) [80], [81]. Eine kleine Studie an Kindern übergewichtiger Mütter weist zudem auf eine global
verminderte Myelinisierung des ZNS im Alter von 2 Wochen hin [82].
In Bezug auf die Lunge gibt es Daten aus 2 großen prospektiven Geburtskohortenstudien,
die eine positive Korrelation zwischen maternalem Übergewicht und der Asthmainzidenz
bei den Kindern zeigen [83], [84].
Da Stillen als protektiv im Hinblick auf das metabolische und neurokognitive Outcome
gilt [61], [66], [67], ist als mögliche Ursache für die genannten Korrelationen zu berücksichtigen, dass
in verschiedensten Studien gezeigt werden konnte, dass übergewichtige Mütter seltener
und für kürzere Zeit stillen [85].
Fazit für die Praxis
Bei übergewichtigen Müttern ist die Prävalenz der kindlichen Adipositas erhöht, zudem
gibt es bei diesen Kindern Hinweise auf neurokognitive Defizite und erhöhte Asthmainzidenz.
Programmierung durch Gestationsdiabetes
Ob ein Gestationsdiabetes tatsächlich einen unabhängigen Risikofaktor für die Entwicklung
einer Adipositas darstellt, ist nicht vollständig geklärt [86]. Eine prospektive Studie an zu schwer (LGA, Large for Gestational Age) bzw. normalgewichtig
geborenen (AGA, Appropriate for Gestational Age) Kindern von Müttern mit und ohne
Gestationsdiabetes (GDM) konnte jedoch zeigen, dass die Hälfte aller Kinder aus der
LGA/GDM-Gruppe bis zum Alter von 11 Jahren zwei oder mehr Komponenten des metabolischen
Syndroms entwickelte [87]. Interessanterweise scheint die Behandlung eines milden Gestationsdiabetes sich
zwar in einer verminderten Inzidenz von LGA-Geburten, gleichzeitig jedoch nicht in
einer verringerten Inzidenz des metabolischen Syndroms bei den Kindern der behandelten
Mütter im Vergleich zu den Kindern nicht behandelter Mütter widerzuspiegeln [88].
Im Hinblick auf das kardiovaskuläre Outcome gibt es teils widersprüchliche Daten.
Aus einer vergleichenden Analyse des schwedischen Geburtenregisters und des nationalen
Registers aller verschriebenen Medikamente ergab sich kein Zusammenhang zwischen maternalem
Diabetes und der Notwendigkeit einer Medikation für kardiovaskuläre Erkrankungen bei
den Kindern (Follow-up 17–36 Jahre) [89]. In einer 15 Studien umfassenden Metaanalyse, die alle Diabetesformen berücksichtigte,
wurden allerdings signifikant höhere Blutdruckwerte bei den Kindern diabetischer Mütter
nachgewiesen. Handelte es sich um einen Gestationsdiabetes, war bei den Kindern nur
der systolische Blutdruck erhöht [90]. In einer Studie an 90 Neugeborenen (50 Kontrollen, 50 Kinder aus diabetischen Schwangerschaften)
wurde gezeigt, dass nach diabetischer Schwangerschaft mittels Speckle Tracking und
Dopplersonografie frühe Hinweise für systolische und diastolische Dysfunktionen bei
ansonsten normaler kardialer Morphologie vorlagen [91]. Bei Neugeborenen von Müttern mit Typ-I-Diabetes konnte eine veränderte Herzfrequenzvariabilität
nachgewiesen werden [92]. In einer weiteren Studie wurde beobachtet, dass Jugendliche, deren Mütter an Gestationsdiabetes
gelitten hatten, in einem Stresstest einen stärkeren Blutdruckanstieg und eine stärkere
Zunahme des Schlagvolumens hatten als Jugendliche von Kontrollmüttern [93].
Programmierung durch maternalen Nikotinabusus
Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft geraucht haben, haben ein erhöhtes
Risiko zu klein geboren zu werden und später eine Adipositas zu entwickeln [94]. Ob hier vor allem der intrauterine Mangel (z. B. durch Plazentainsuffizienz) oder
zusätzliche Faktoren ursächlich eine Rolle spielen, kann derzeit nicht beantwortet
werden. Die Generation-R-Studie konnte außerdem belegen, dass mütterliches Rauchen
in der Schwangerschaft zu einem erniedrigten renalen Volumen und einer erniedrigten
glomerulären Filtrationsrate [95] sowie einem erhöhten Risiko für Asthma [96] im Schulalter führt.
Verschiedene große epidemiologische Studien zeigen eine erhöhte Rate an externalisierenden
und internalisierenden Verhaltensstörungen nach maternalem Zigarettenkonsum in der
Schwangerschaft [97]– [99]. Kleinere Studien konnten zeigen, dass maternaler Nikotinabusus mit erniedrigten
kindlichen Kortisolkonzentrationen (basal und stimuliert) in den ersten Lebensmonaten
assoziiert ist [100], [101], wohingegen Stressreize im Neugeborenenalter einen höheren Blutdruckanstieg als
bei nicht rauchenden Müttern verursachen [102]. In einer populationsbasierten amerikanischen Studie wurde beobachtet, dass nach
mütterlichem Zigarettenkonsum in der Schwangerschaft die Konzentrationen von Luteinisierendem
Hormon und Inhibin B bei präpubertären Mädchen signifikant erniedrigt waren [103]. Eine epidemiologische Studie aus Schweden diskutiert ein erhöhtes Risiko für die
Entwicklung eines Typ-1-Diabetes [104].
Obwohl bei all diesen Studien der Einfluss von prä- und postnataler Tabakrauchexposition
schwer zu trennen ist, scheint doch insbesondere der Zigarettenkonsum in der Schwangerschaft
einen prägenden Einfluss zu haben. Im Hinblick auf das Adipositasrisiko wurde beispielsweise
in einer australischen Studie beobachtet, dass Kinder von Müttern, die während der
Schwangerschaft geraucht hatten, im Erwachsenalter im Mittel höhere Body-Mass-Index-Werte
und Herzfrequenzwerte aufwiesen. Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft
mit dem Rauchen aufgehört und später wieder begonnen hatten, zeigten diese Auffälligkeiten
nicht [105].
Einfluss des Geburtsmodus
Eine zunehmende Anzahl an Publikationen legt nahe, dass es einen Zusammenhang zwischen
dem Geburtsmodus und dem Risiko, verschiedenste Erkrankungen zu entwickeln, geben
könnte. Im nationalen dänischen Geburtenregister beispielsweise wurde gezeigt, dass
nach Kaiserschnitt eine erhöhte Inzidenz von Asthma, systemischer Sklerose, juveniler
Arthritis, entzündlichen Darmerkrankungen, Immundefizienz und Leukämie beobachtet
wurde [106]. Eine kleine prospektive Studie an 94 Kindern konnte belegen, dass nach Kaiserschnitt
im ersten Lebensjahr erniedrigte Konzentrationen von IL-8, IFN-α sowie eine verminderte
CD4-T-Zellantwort auf Tetanusimpfung zu beobachten waren [107].
Präventive Ansätze
Die Vermittlung von Wissen über die Zusammenhänge zwischen Störungen der frühen Entwicklung
und dem erhöhten Risiko für das spätere Auftreten von Erkrankungen ist ein erster
Schritt zur Prävention.
Tipp für die Praxis
Ein enger Austausch zwischen geburtshilflichen und pädiatrischen Kollegen ist wünschenswert,
da die Betreuung der schwangeren Frau die Gesundheit des ungeborenen Kindes über den
Zeitpunkt der Geburt hinaus beeinflussen kann.
Ernährung und Bewegung. Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang, dass auch in Deutschland ein
adäquater Ernährungsstatus der Mutter zu Beginn der Schwangerschaft keinesfalls selbstverständlich
ist. Eine Fehlernährung mit Mangel an Mikronährstoffen sowie eine Überernährung mit
Makronährstoffen und damit einhergehendem Übergewicht betreffen einen nicht unerheblichen
Anteil der Bevölkerung. Bei geplantem Kinderwunsch können präkonzeptionell eine Ernährungsumstellung
und gesteigerte sportliche Aktivität zur Gewichtsnormalisierung sinnvoll sein (Abb. [5]).
Abb. 5 Ernährungspyramide: Prävention durch Ernährungsumstellung.
Die Erfassung und Weitergabe von Problemen aus der Schwangerschaft (z. B. pathologischer
Doppler der Umbilikalarterien, intrauteriner Wachstumsverlauf) an den Kinderarzt kann
im 2. Schritt dann dabei helfen, Risikokinder engmaschiger zu kontrollieren (z. B.
Blutdruckkontrollen) und frühzeitig zu erkennen. Eine routinemäßige Überprüfung des
Mutterpasses im Rahmen der U2/U3 könnte beispielsweise diesen Informationsfluss verbessern.
Um einem übermäßigen Aufholwachstum vorzubeugen (welches das Risiko für Folgeerkrankungen
nach IUGR zusätzlich steigert), kann ferner eine gesonderte Ernährungsberatung sinnvoll
sein.
Gefördert durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft sowie unterstützt
durch die Berufsverbände der Kinder- und Jugendärzte sowie der Frauenärzte wurde in
diesem Sinne im Herbst 2015 das Bündnis „Frühkindliche Prävention – gemeinsam vorsorgen“
geschlossen. Ziel ist es, vor dem Hintergrund des Wissens um die mögliche Programmierung
von Erkrankungen präventive Beratungsleistungen zu den Themen Ernährung und Bewegung
als festen Bestandteil der gesetzlich verankerten Vorsorgeuntersuchungen zu etablieren
und deren Qualität und Vergütung zu sichern (http://www.pebonline.de/358.html).
Gezielte Forschung. Um gezielte Prävention bei der Programmierung von Erkrankungen betreiben zu können,
ist die weitere wissenschaftliche Aufklärung der zugrunde liegenden Mechanismen erforderlich.
In diesem Zusammenhang ist die Arbeit mit experimentellen Modellen unerlässlich, da
sich in klinischen Studien intrauterine Pathologien meist multifaktoriell begründet
darstellen und die Möglichkeiten der gezielten Intervention zur Aufdeckung pathophysiologischer
Zusammenhänge begrenzt sind. Dennoch gibt es auch Studien zu interventionellen Strategien
beim Menschen. Vorwiegend beziehen sich diese Studien auf ernährungs- und/oder bewegungstherapeutische
Interventionen bei der Mutter, z. B. zur Verbesserung der Versorgung mit Mikronährstoffen
oder zur Steigerung der körperlichen Aktivität [88], [108].
Reprogrammierung möglich? Aus pädiatrischer Sicht interessant sind Überlegungen, ob sich die pränatale „Programmierung“
eines Erkrankungsrisikos postnatal „reprogrammieren“ lässt. Vor dem Hintergrund, dass
beispielsweise Stillen einen präventiven Effekt zu haben scheint [61], [66], [67], erscheinen ernährungstherapeutische Interventionen (Supplementation von Mikronährstoffen,
Fettsäurezusammensetzung, Proteingehalt der Nahrung etc.) als möglicher Ansatz. Dies
ist auch im Hinblick auf die Volksgesundheit von großer Bedeutung.
Fazit für die Praxis
Wer ist betroffen?
-
Risikokinder erkennen: Bei der Routineversorgung intrauterine Wachstumsverläufe bewusst wahrnehmen (Mutterpass!)
und bewerten sowie Schwangerschaftspathologien detailliert erfragen (z. B. Plazentainsuffizienz,
Gestationsdiabetes, mütterliche Adipositas).
Was kann man tun?
-
Prävention: Wenn keine Kontraindikation vorliegt, sollte aufgrund eines möglichen präventiven
Effekts nach derzeitiger Studienlagen zum Stillen geraten werden.
-
Früherkennung: Im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen von ehemaligen SGA-/IUGR-Kindern „wachsam“ sein
für Risikofaktoren wie ausgeprägtes/fehlendes Aufholwachstum, erhöhte Werte bei spontanen
Blutdruckmessungen, Mikroalbuminurie, Entwicklungsverzögerungen.
Fazit
Die Umweltbedingungen, denen ein Individuum in bestimmten Entwicklungsfenstern ausgesetzt
ist, haben langfristige Auswirkungen auf die Entwicklung und Funktion verschiedener
Organsysteme.
Die Entstehung einer Erkrankung ist als Summe vieler zusammenwirkender Faktoren im
Laufe eines Lebens zu verstehen.
Der Idee des Life Course Approach to Chronic Disease folgend konnten zahlreiche prä- und postnatale Faktoren identifiziert werden (Abb. [6]), die in bestimmten Entwicklungsfenstern aufgrund ihres „prägenden“ Einflusses auf
den Organismus ein Risiko für die normale Entwicklung und langfristige Gesundheit
darstellen.
Abb. 6 Perinatale Programmierung: Das Individuum in seiner prä- und postnatalen Umgebung.
In der pädiatrischen Praxis sehen wir Kinder in vielen unterschiedlichen Entwicklungsstadien
und haben die Möglichkeit sowohl früh postnatal (z. B. Beratung zu Stillen, Vermeidung
übermäßigen Aufholwachstums) als auch bis in die Adoleszenz hinein (z. B. individuell
optimierte Ernährung, adäquate körperliche Aktivität, Früherkennung und -behandlung
von arterieller Hypertonie und Komponenten des metabolischen Syndroms) einem „programmierten“
Erkrankungsrisiko entgegen zu wirken. Hiervon profitiert nicht nur das einzelne Kind,
sondern aufgrund des Transgenerationseffekts (Abb. [7]) ggf. auch die nächste Generation.
Abb. 7 Transgenerationseffekt (nach: Williams TC, Drake AJ. What a general paediatrician
needs to know about early life programming. Arch Dis Child 2015; 100: 1058–1063).
Kernaussagen
Während man unter „Programmierung“ von Erkrankungen ursprünglich die Prädisposition
für Erkrankungen infolge von Störungen des intrauterinen Milieus verstand, weiß man
heute, dass es einen fließenden Übergang zu Erkrankungen gibt, die auf einen „prägenden“
Einfluss der Lebensumstände (Ernährung, Bewegung, etc.) in wichtigen postnatalen Entwicklungsfenstern
zurückzuführen sind. Ein Organsystem ist umso anfälliger für „programmierende“ Faktoren,
je größer die Plastizität zum Zeitpunkt des Einflusses ist. Ein enger Austausch zwischen
geburtshilflichen und pädiatrischen Kollegen ist wünschenswert, um Kinder mit einem
„programmiert“ erhöhten Erkrankungsrisiko für z. B. eine arterielle Hypertonie oder
Adipositas zu identifizieren. In der Betreuung dieser Kinder sollte man die Möglichkeiten
der „Reprogrammierbarkeit“ durch beispielsweise individuell angepasste Ernährung nicht
unterschätzen. Die detaillierte Aufklärung der Programmierungs-Mechanismen wird in
Zukunft wahrscheinlich weitere spezifische Therapieansätze ermöglichen.
Modifizierte Version der Erstveröffentlichung aus:
Pädiatrie up2date 2016; 1: 15–30; DOI:
10.1055/s-0042-100054