physiopraxis 2016; 14(09): 35-37
DOI: 10.1055/s-0042-111569
therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Physiotherapie bei Gonarthrose – Krafttraining ist Spitzenreiter

Sebastian Köcker

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Publication Date:
09 September 2016 (online)

 

Manuelle Therapie, Krafttraining, Taping, Ultraschall – die physiotherapeutische Palette bei Gonarthrose ist breit. Physiotherapeut Sebastian Köcker hat sich die Maßnahmen angeschaut, die Therapeuten tatsächlich nutzen, und zusammengestellt, wie die Evidenzlage ist.


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Sebastian Köcker

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Sebastian Köcker ist seit 2012 Physiotherapeut. Im Moment absolviert er die OMT-Weiterbildung der AG Manuelle Therapie. Zudem leitet er die Regionalgruppe der AG Manuelle Therapie in Freiburg. Er arbeitet in der Uniklinik Freiburg in der ambulanten Orthopädie, wo er regelmäßig Patienten mit Gonarthrose behandelt. Seinen Behandlungserfolg konnte er durch die Recherche zu seinem Artikel deutlich steigern. Sein Fazit: Nicht auf komplizierte Maßnahmen und Methoden kommt es an, sondern auf die richtige Dosis und eine sichere Patientenführung.

65 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre haben Arthrose. Die Hauptrisikofaktoren dafür sind Alter und Übergewicht [21]. Für die meisten Patienten ist der Schmerz das Leitsymptom, weshalb sie zum Arzt und schließlich zum Physiotherapeuten gehen. Eine Arthrose liegt vor, wenn in bildgebenden Verfahren ein Knorpelverschleiß zu sehen ist. Dieser ist für den Schmerz nicht ausschlaggebend. Ein gesunder Knorpel hat weder Blutgefäße noch Nerven – auch wenn neue Untersuchungen Hinweise auf eine Neovaskularisierung und eine damit einhergehende Innervation von degenerativem Knorpel geben [21]. Ähnlich wie bei Achillessehnenbeschwerden, Tennisellenbogen und Patellaspitzensyndrom könnte es somit auch im Knorpel zu einer nichtphysiologischen Schmerzwahrnehmung kommen. Dies ist aber derzeit nicht bewiesen. Die Struktur, die nach aktuellem Forschungsstand hauptverantwortlich für den Schmerz ist, ist die Gelenkkapsel. Für Physiotherapeuten ist dies gut. Denn sie haben zwar Möglichkeiten, den Knorpel zu beeinflussen, aber noch viel besser greifen sämtliche physiotherapeutische Behandlungstechniken an der Kapsel und den umliegenden Strukturen.

Durch den Knorpelabbau werden im Gelenk Entzündungsmediatoren frei. Arthrose gilt häufig als nichtentzündliche Erkrankung. Doch nachweislich kommt es in 89,2 Prozent aller arthrotischen Kniegelenke zu einer Synovitis [21]. Die umliegenden Band- und Sehnenstrukturen werden durch die Entzündungsmediatoren beeinflusst und weisen eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit auf.

MRT-Aufnahmen haben gezeigt, dass bei Arthroseschmerzen Hirnareale aktiv sind, die in der Regel für akute Schmerzen zuständig sind [21]. Durch eine Aktivierung absteigender hemmender Bahnen kann das Gehirn auch den Schmerz im Gelenk lindern. Hier können Therapeuten ansetzen. Denn neben starken Analgetika aktivieren die mechanischen Reize von Training und Manueller Therapie schmerzhemmende Bahnen im zentralen Nervensystem [6, 7, 12].

In 89,2% aller arthrotischen Kniegelenke kommt es zu einer Synovitis. Somit ist eine Gonarthrose in den meisten Fällen eine entzündliche Erkrankung.

Welche Maßnahmen kommen bei Gonarthrose zum Einsatz?

Eine britische Studie von 2008 untersuchte, welche physiotherapeutischen Techniken bei Gonarthrose zum Einsatz kommen [9]. 538 Therapeuten sollten anhand eines typischen Arthrose-Fallbeispiels die Maßnahmen ihrer Wahl benennen (Anmerkung: Lokale Injektionen und Akupunktur sind britischen Physiotherapeuten erlaubt). 99 Prozent gaben therapeutische Übungen an, worunter unter anderem Kräftigung, Bewegungserweiterung, Balancetraining und Hydrotherapie fielen (GRAFIK, S. 36). Platz zwei belegte Wärme- und Kältetherapie (62 Prozent), Platz drei Manuelle Therapie (36 Prozent), dicht gefolgt von Akupunktur (33 Prozent) und Elektrotherapie (32 Prozent). Zuletzt nannten die befragten Physiotherapeuten Tape, Schonung des Gelenks und lokale Injektionen.

Auch wenn die Untersuchung in Großbritannien gemacht wurde, ist in Deutschland ein ähnliches Ergebnis vorstellbar. Doch ist die Gewichtung, wie sie die britischen Therapeuten vorgenommen haben, gerechtfertigt? Wie sieht die Evidenz der jeweiligen Maßnahmen aus?


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Krafttraining

Das Krafttraining ist die Maßnahme im physiotherapeutischen Arthrose-Repertoire, die wissenschaftlich klar belegt ist. Es bringt bis zu 40 Prozent Schmerzreduktion, verbessert die Beweglichkeit, wirkt positiv auf die Psyche des Patienten und hat eine Langzeitwirkung von bis zu sechs Monaten nach Beendigung der Therapie [4]. Doch warum wirkt sich das Krafttraining so positiv auf das arthrotische Kniegelenk aus? Verschiedene Untersuchungen haben nachgewiesen, dass es den Knorpelstoffwechsel verbessert [15, 18]. Außerdem hat die Kompression eine entzündungshemmende Wirkung auf die Gelenkkapsel [4]. Auf längere Sicht bewirkt das Krafttraining auch eine Gelenkentlastung, da die gestärkte Muskulatur schädigende Impulsbelastungen auf das Gelenk absorbiert [3, 17].

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Was machen Sie bei Patienten mit Gonarthrose?
Abb.: Holden MA, 2008 [9]; modifiziert von durbandesign.de

Entscheidend für den Erfolg ist, dass der Therapeut das Training richtig gestaltet. Der Patient muss mit 60 bis 70 Prozent seiner Maximalkraft trainieren [16, 22], bei älteren Patienten scheint auch eine Intensität von 50 Prozent der Maximalkraft auszureichen [16]. Liegt die Intensität darunter, ist kein Kraftzuwachs zu erwarten. Jede Übung absolviert der Patient in drei Serien à zwölf Wiederholungen. Zwischendrin legt er eine ein- bis zweiminütige Pause ein. Das Training lässt sich am einfachsten mit Gerätetraining, zum Beispiel an der Beinpresse, umsetzen. Aber auch gut angeleitete freie Übungen, wie Kniebeugen, zeigten in Studien Erfolg [22].

Krafttraining darf schmerzen – vorausgesetzt die Patienten haben danach keinen gesteigerten Ruheschmerz im Vergleich zum Trainingsbeginn.

Bei einer Gonarthrose sollte das Krafttraining Übungen für den M. quadriceps femoris beinhalten, für die Ischiocruralen, die Rumpfmuskulatur sowie die Hüftgelenkabduktoren.

Manch ein Patient wird eventuell irritiert sein, dass er mit der Intensität eines Kraftsportlers trainieren soll, und fürchten, dass intensives Training das ohnehin schon verschlissene Gelenk noch mehr schädigt. Doch langanhaltende unerwünschte Nebenwirkungen sind durch das intensive Krafttraining nicht zu erwarten – vorausgesetzt es liegen keine relevanten Herz-Kreislauf-Erkrankungen vor und das Gelenk zeigt keine akuten Entzündungszeichen, wie einen starken Erguss, Ruheschmerz oder Hauttemperaturerhöhung über zwei Grad im Seitenvergleich. Risikobewertungen haben gezeigt, dass Krafttraining für Patienten mit Gonarthrose weniger Risiken birgt als nichtsteroidale Antirheumatika, wie Ibuprofen [13]. Wichtig für den Erfolg ist es daher, den Patienten über all das aufzuklären. Auch darüber, dass das Training Schmerzen bereiten darf, insofern danach kein gesteigerter Ruheschmerz im Vergleich zum Trainingsbeginn zurückbleibt.


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Bewegungsbad

Bewegung im Wasser geben viele Patienten mit Arthrose bereits in der Anamnese als angenehm an. Das bestätigt auch die Studienlage. Durch ein intensives Training im Wasser verbessert sich die Beweglichkeit signifikant [23]. Obwohl das Bewegungsbad auf den Schmerz keinen Einfluss hat, steigert es das Wohlbefinden der Patienten deutlich. Einziger Nachteil: Die erzielten Effekte haben keine Langzeitwirkung [23].


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Propriozeptives Training und Orthesen

Obwohl ein propriozeptives Training vermutlich keinen direkten Einfluss auf den Schmerz hat, profitieren die Patienten mit Gonarthrose davon [1, 5]. Bereits ein zwölfwöchiges Koordinationstraining mit zwei Einheiten pro Woche verringert das Knieadduktionsmoment um bis zu 24 Prozent [5]. Dieses Moment bedeutet eine Achsabweichung in Varusstellung, die zu einer Stresssituation am medialen Kniegelenkspalt führt. Es wird dafür mitverantwortlich gemacht, dass mediale Gonarthrose entsteht und fortschreitet.

Reichen Kraft- und Koordinationstraining nicht aus, um die funktionelle Beinachse zu verbessern, kann sich der Therapeut auch Hilfe aus der Orthopädiemechanik holen. Es gibt mittlerweile verschiedene Orthesenmodelle, die dem Knieadduktionsmoment entgegenwirken. Die Studienlage hierzu ist allerdings nicht ausreichend [8]. Ob die Orthese ein Benefit bringt, hängt stark davon ab, wie gut die Orthese angepasst ist und ob der Patient auch tatsächlich ein funktionelles Knieadduktionsmoment hat.


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Wärme- und Kältetherapie

Obwohl die Thermotherapie häufig bei Gonarthrose zum Einsatz kommt, gibt es kaum Forschung dazu. Lediglich zwei Arbeiten aus 2016 haben sich mit dem Thema beschäftigt. Eine Forschergruppe aus Australien zeigte, dass arthrotische Gelenke eine verringerte Kältetoleranz haben [14]. Dies deckt sich mit der Beobachtung, dass Patienten häufig in der kalten Jahreszeit über stärkere Beschwerden klagen. Eine chinesische Studie untersuchte, welchen Effekt Fangopackungen auf die Funktion und Schmerzreduktion bei Arthrose im Kniegelenk haben [24]. Sie konnte für keinen der beiden Parameter signifikante Effekte nachweisen.

Drei Minuten Tibiagleiten nach dorsal erreicht eine Schmerzreduktion von zwei Zentimetern auf der VAS.

Eine Entscheidungshilfe, ob Wärme- oder Kälteanwendungen für Patienten mit Gonarthrose besser geeignet sind, bietet die Literatur nicht. Lediglich, dass zum derzeitigen Stand der Nutzen beider Therapieformen gering ist.


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Manuelle Therapie

Fester Bestandteil vieler physiotherapeutischer Behandlungspläne ist die Manuelle Therapie. Wissenschaftlich ist es schwierig, ihre Effekte objektiv zu untersuchen, da die Applikationsdosis des Therapeuten und das Empfinden der Patienten sehr subjektiv sind. Trotz dieser Schwierigkeit zeigt eine aktuelle Arbeit, dass dreimal drei Minuten Tibiagleiten nach dorsal eine Schmerzreduktion von zwei Zentimetern auf der VAS erreicht [7]. Das lässt sich durch den mechanischen Reiz der Mobilisation und Kompression erklären, der die schmerzhemmenden Areale und Bahnen im Gehirn aktiviert [6, 7].

Den größten Therapieerfolg hinsichtlich Schmerz und Funktion konnte eine Forschergruppe aus den Niederlanden anhand des WOMAC-Fragebogens (PHYSIOPRAXIS 6/07, S. 36) für die Kombination von Manueller Therapie mit Training (unter anderem Krafttraining, Mobilisationsübungen und aerobes Training) nachweisen [10]. Die Manuelle Therapie ist somit vor allem in Kombination mit aktiver Therapie eine effektive Maßnahme.


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Therapeutischer Ultraschall und Elektrotherapie

Zwei Cochrane Reviews aus den Jahren 2009 und 2010 haben gezeigt, dass die Ultraschalltherapie bei Gonarthrose keinen deutlich nachweisbaren Nutzen hat [19, 20].

Bei der Elektrotherapie hängt der Nutzen nur geringfügig von der jeweiligen Stromform ab. Allgemein bringt uns die derzeitige Studienlage zu dem Ergebnis, dass die Elektrotherapie für Patienten mit Gonarthrose zwar ungefährlich, jedoch nicht erfolgversprechend hinsichtlich einer Schmerzreduktion ist [19].


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Taping

Die Studienlage bezüglich kinesiologischer Tapes ist noch nicht eindeutig. Allerdings gibt es vielversprechende Hinweise, dass sie tatsächlich eine Wirkung auf den Schmerz haben [2]. Eine Forschergruppe aus Istanbul veröffentlichte in diesem Jahr eine Arbeit, bei der eine Patientengruppe mit Gonarthrose (Grad 2–4) eine standardisierte kinesiologische Tapeanlage erhalten hat [11]. Während Aktivität zeigte sich eine sofortige Schmerzreduktion um durchschnittlich drei Zentimeter auf der VAS. Bei der Kontrollgruppe, die eine kinesiologische Placeboanlage bekommen hat, war keine Schmerzreduktion zu verzeichnen. Langzeiteffekte konnten die Forscher allerdings bislang nicht nachweisen.


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Physiotherapie ist das Heilmittel erster Wahl

Was fangen Physiotherapeuten nun mit all der Evidenz an? Ob bewusst oder unbewusst, die meisten arbeiten mit der Wahl von Manueller Therapie, Trainingstherapie und Tape täglich evidenzbasiert. Der entscheidende Transfer von der Wissenschaft in die Praxis ist, dass Therapeuten die schmerzhaften Strukturen kennen und die Patienten darüber aufklären können. Darüber hinaus gibt die Forschung Sicherheit, dass Krafttraining und Arthrose kompatibel sind. Dass Physiotherapeuten dann auch noch – anders als es in Studien möglich ist – für jeden Patienten ein maßgeschneidertes Therapieprogramm entwickeln, macht Physiotherapie für Patienten mit Arthrose unerlässlich.


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Was machen Sie bei Patienten mit Gonarthrose?
Abb.: Holden MA, 2008 [9]; modifiziert von durbandesign.de