Allgemeine Homöopathische Zeitung 2016; 261(04): 26-28
DOI: 10.1055/s-0042-107293
Spektrum
Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart

Interview mit Dr. Norbert Enders

Michael Teut
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Publication Date:
29 September 2016 (online)

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Dr. Norbert Enders

AHZ: Sehr geehrter Herr Dr. Enders, Sie sind jetzt in Ihrem 75. Lebensjahr; wie sind Sie zur Homöopathie gekommen?

Norbert Enders: Wie so oft ein „Zufall“! Ich meine, die Geschichte ist mir zugefallen. Nach 10 Jahren Suche in aller Welt nach einer Medizin, die den Menschen als Ganzes betrachtet, begegnete ich 1977 bei einem Deutschlandaufenthalt Dr. Erwin Schlüren, damals Chef des „Gynäkologischen Krankenhauses” in Tübingen, mit einem Vortrag über „Homöopathische Behandlung des Schnupfens”. Ihn zuvor fragend, wie es wohl geschehe, dass er als Gynäkologe über Schnupfen referiere, war seine schwäbische Antwort: „Des isch doch gleich, ob dess unne oder obbe rauskommt.“ Das gefiel mir bereits! Allein die Tatsache, dass man die Sekretionen sinnvoll differenzierte, begeisterte mich. Gegen Ende seines Vortrags meinte er: „Wenn Sie jetzt noch net die rechte Arznei g’funden habbe, dann misse Se halt konschtidutionell behandle.“ „Konstitution“ war das mich überzeugende Zauberwort und der Beginn meiner homöopathischen Laufbahn.

In welcher Situation befand sich damals die Homöopathie?

Oh, es war eine kleine Familie von großen Homöopathen, denen ich damals, 1978, als Jünger sozusagen, begegnen durfte: Buchmann, Leers, H.V. Müller, H. Barthel, Klunker, Gebhardt, von Ungern-Sternberg, Gutmann, Stübler, Künzli, Eichelberger, Vögeli, Jacques Baur, Whitmont, Ortega, Paschero und natürlich Mathias Dorcsi, der von Anbeginn bis zu seinem Tode mein Meister blieb. Wien war damals die Hochburg der Homöopathie, zumindest bis zum Umzug Dorcsis nach München. Doch hat mir jeder von ihnen viel geschenkt, wofür ich bis heute dankbar bin.

Sie haben dann über Jahrzehnte eine homöopathische Praxis bei Wiesbaden betrieben. Wie kam es dazu und wie war das?

Wiesbaden als Schnittstelle der Nord-Südund Ost-West-Achse schien mir als Wahl einer Privatpraxis günstig, denn rasch füllte sich diese so sehr, dass ich auch an Wochenenden mit Begeisterung arbeitete. Das Interesse der Bevölkerung an der Homöopathie war in kontinuierlichem Wachstum. Weniger begeistert war die Ärztekammer, die mich des Öfteren erfolglos wegen Scharlatanerie anklagte. Erst 1990 besänftigte sich deren Unmut, und sie stempelte mich zum „King“ der Homöopathie.

Heute sind Sie in Nizza als homöopathischer Arzt tätig?

Ja, im Jahr 2000 verließ ich Deutschland, nachdem ich zuvor „wegen Überarbeitung“ und „Vernachlässigung meiner persönlichen Bedürfnisse nach Musik und Poesie“ einen deftigen Herzinfarkt mit folgenden 3 Bypässen erleiden musste. Doch der Genuss der Ruhe, der Schönheit der Côte d’Azur und der hiesigen Freunde (v.a. Alain Horvilleur und Didier Grandgeorge) dauerte nicht lange an, ich hatte Sehnsucht nach Patienten, sodass mir Freunde eine kleine Praxis einrichteten. Ich übersetzte meine gängigsten Bücher ins Französische und begann alsbald Kurse für jedermann anzubieten, und die kleine „Ferienpraxis“, wie ich sie nannte, wuchs abermals ins Unermessliche. In Frankreich gibt es wenig gute Einzelhomöopathen, und die Nachfrage kranker Menschen ist auch hier wie überall sehr groß.

Sie haben sich sehr in der Fortbildung engagiert. Ihre Homöopathie-Lehrbücher gehören seit vielen Jahren, insbesondere bei Patienten, zu den Bestsellern.

Mein Wunsch war und ist es noch, dass jeder Mensch zur Homöopathie Zugang fände, weswegen ich jeden Interessenten, gleich welcher sozialen oder beruflichen Herkunft, einlud, meinen Kursen zu folgen und „homöopathische Selbsthilfegruppen“ zu bilden. Ziel dabei war stets die individuelle Unabhängigkeit vom unsicheren sozialen System, also Selbstverantwortlichkeit bezüglich der eigenen Gesundheit. Die „Mittwochskurse für Mütter“ und die „Rheingauer Seminare“ waren bekannt dafür und meist überfüllt. Das war auch der Grund, durch Sachbücher die Idee der Selbsthilfe – soweit möglich – noch umfangreicher zu verbreiten. All dies gelang auf wundersame Weise. Ich selbst wurde dabei ein glücklicher Arzt, stets begleitet von zufriedener, kreativer Unruhe.

Aber auch in der ärztlichen Ausbildung haben Sie sich sehr stark engagiert?

Oh ja, ich wollte aus jedem Arzt einen besseren Homöopathen machen. Doch waren die meisten zu sehr mit materiellen Belangen ihres kleinen Lebens beschäftigt. Deshalb versammelte ich aus dem studentischen Arbeitskreis der Uni Frankfurt die Willigsten um mich, die sich mit der Zeit, während 15-jähriger Zusammenarbeit, auskristallisierten und heute gute homöopathische Ärzte geworden sind. Auf die Drs. Freya Jäschke, Beate Latour und Ulrich Koch bin ich besonders stolz.

Auch im Deutschen Zentralverein homöopathischer Ärzte waren Sie als Landesvorsitzender tätig?

Dieser Zeitabschnitt war von kurzer Dauer. Für die Mitglieder führte ich 1981 ein strenges Lehr- und Lernprogramm ein, was den „Alten“ nicht sonderlich gefiel, obwohl die jugendlichen Ärzte recht begeistert schienen. So wurde ich vorzeitig abgewählt.

Die humanitäre medizinische Hilfe hat für Sie in Ihrem Leben eine große Rolle gespielt?

Eine wirklich entscheidende Rolle! Seit meinem Einsatz in Vietnam 1968 wusste ich: Hier wirst Du gebraucht und bist nicht ersetzbar, was meinem innersten Wunsch als Arzt entsprach. Sein christlich-ethisches Leben der Idee einer besseren Humanität hinzugeben, scheint mir zwingend. Was ist schon ein Mensch ohne Einsatz für Menschlichkeit!? Wir sind primär soziale und nicht individuelle Wesen!

1968 – das war mitten im Vietnam-Krieg?

Ja, auf seinem kritischen Höhepunkt. An Sylvester 1968 platze überraschend die berüchtigte Tête-Offensive des Vietcong über Saigon herein, inmitten von Neujahrsknallern. Es war entsetzlich! Ich arbeitete damals gegen Bett und Brot als privates Individuum in einem vietnamesischen Hospital bis zum Umfallen. Welch ein Wahnsinn dieser Krieg, aus amerikanischen politpropagandistischen, Hyoscya-mus-ähnlichen Hirngespinsten entsprungen. Der Vietcong war kein Kommunist, sondern ein beachtenswerter Patriot. Ich liebte dieses edle, stets freundliche und hoch gebildete Volk. Die Deutsche Botschaft „schenkte” mir dann ein Freiticket zurück nach Deutschland, weil ich öffentlich behauptete, dass in den deutschen Krankenwagen mehr besoffene Amerikaner als Verletzte transportiert würden. Darauf verschwand ich im Untergrund (in der französischen Botschaft), wo wir mit Air France einen Jumbo voller napalmverbrannter Kinder nach Europa organisierten. Die unglaubliche Stille der Kinder in diesem überfüllten Flieger trieb mir, zutiefst erschüttert, die Tränen in die Augen. Unvergesslich!

Zuletzt waren Sie bei einem Hilfseinsatz auf den Philippinen tätig?

Die Katastrophe in Tacloban/Leyte zwang mich geradewegs dazu. Seit 10 Jahren gehöre ich einer französischen humanitären Organisation an, „Solidarité Homéopa-thie“, einer Tochter von „Ärzte ohne Grenzen“, die in Zusammenarbeit mit einer privaten Hilfsorganisation auf den Philippinen, VPHCS genannt, psychosoziale und medizinische Arbeit in den riesigen Slums und bei den vernachlässigten Bergbauern leistet. Homöopathisch faszinierend dabei ist, dass diese Ärmsten der Armen, die sich keine etablierte Medizin erlauben können, erstaunlich rasch und tief greifend auf unsere Arzneien reagieren. Außerdem begegne ich dort Pathologien, die ich konsequent mit entsprechender Dokumentation bis zu ihrer Heilung verfolgen darf. Das ist eine große Freude! Zu guter Letzt lehre ich auch dort während der europäischen Wintermonate unsere wundersame Heilmethode, stets mit dem Ziel der Selbstständigkeit.

Sie haben auch als Anthropologe und Wissenschaftler gearbeitet, unter anderem in Guatemala City und San Salvador?

Anfang 1970 studierte ich in Asien Anthropologie und Soziologie, um ein besseres Verständnis für die dortigen Menschen und ihr Verhalten zu erlangen. 10 Jahre später führte mich mein bewegtes Leben nach Zentralamerika, wo ich neben einer Einführung in die Homöopathie diese Fächer an ansässigen Universitäten lehrte. Außerdem sammelten wir gemeinsam die bis dato nur mündlich überlieferten Heilrezepte der Mayas, die wir als „Medicinas indigenos“ veröffentlichten. Meine mysteriöse Sehnsucht nach dem Orient war jedoch stärker, sodass ich diesen Lebensabschnitt hinter mir ließ.

Der Orient?

Ach herrje! Schon als Kind träumte ich von den Pagoden von Rangoon, musste mich dann aber mit den Pagoden von Bangkok trösten, was auch beeindruckend war. Doch in naher Zukunft werde ich die Mauern der Ersteren liebkosen, um meinen Kindheitstraum erfüllt zu wissen! Begeistert studierte ich die alte feine Kunst des Orients, das Zen, den Buddhismus, bis ich endlich als 28-Jähriger in Bangkok landete (auf dem Weg nach Vietnam). Später lebte ich in einem Zen-Kloster in Japan und war öfter Gast in buddhistischen Klöstern in verschiedenen Ländern. Hier offenbarte sich mir meine ureigene Zugehörigkeit zum wahren Christentum des Neuen Testaments.

Nach all diesen Jahren, gibt es ein methodisches Vorgehen, das Sie in der Homöopathie bevorzugen?

In der Regel entwickelt jeder Homöopath seine eigene Methode. Ich selbst blieb der Wiener Methode treu, die das „Abenteuer Mensch“ als lebensbejahende Ganzheit auf seinem Heilweg einbezieht. Von immer wieder neu kursierenden „Abkürzungsmethoden“ halte ich nichts.

Wo sehen Sie die Homöopathie wissenschaftlich verankert?

Die Wissenschaftlichkeit der Homöopathie sehe ich in der Anamnesetechnik und in der Arzneiprüfung. Die üblichen Forderungen der Schulmedizin (z.B. Doppelblindversuch) lehne ich ab, da sie, homöopathisch gesehen, unmenschlich sind. Die Erfahrung am kranken Menschen ist zweifelsohne höherwertig, und letztlich hat jener Recht, der wirklich heilt.

Wie bewerten Sie die Situation der Homöopathie heute in Deutschland und in Frankreich?

Nach Aussagen meiner ehemaligen Schüler scheint die Homöopathie in Deutschland recht gut verwurzelt zu sein. In Frankreich allerdings – wie bereits erwähnt – lässt das Interesse unter Jungärzten zunehmend nach, obwohl Patienten regelrecht danach schreien. Das mag dadurch bedingt sein, dass infolge der zeitgenössischen Daseinsinteressen vorwiegend die Sinnesorgane und der an sie gebundene Verstand angesprochen werden, nicht aber das Herzblut. Dadurch veröden die seelisch-geistigen, mystischen Kräfte und die Sehnsucht nach den Naturgesetzen der spirituellen Wesenheit des Menschen.

Welchen Ratschlag würden Sie jungen Ärzten geben, die Homöopathie lernen?

Ohne fundierte Weltanschauung wird jegliches Tun zur schwarzen Magie. Lösen Sie Ihre Probleme, bevor Sie diese durch Suggestivfragen auf den Patienten übertragen. Verzweifeln Sie nicht an der gelegentlichen Morbidität der Materia medica. Wir sind professionelle Hoffnungsträger! Nehmen Sie sich an einem Tag nur eine Arznei und deren Ursubstanz vor … mehr nicht. Bleiben Sie einem Lehrer treu ergeben. Richten Sie Ihre Praxis ohne Schulden ein, damit Sie vom System unabhängig bleiben. Entfernen Sie sich von der Idee, Geld verdienen zu müssen; dann wird Ihnen alles geschenkt, was Sie zum Leben brauchen: allem voran die Liebe zu den Menschen, die größte Arznei, die Sie kostenfrei verschenken dürfen.Herr Dr. Enders, wir danken Ihnen für das Interview!

Das Interview führte Michael Teut