Erster Teil
Das niedersächsische Bauernhaus und seine Gefahren in gesundheitlicher Beziehung.
(Eine practisch-hygienische Studie.)
Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doctorwürde in der Medicin, Chirurgie und
Geburtshilfe der hohen medizinischen Fakultät der Universität Marburg vorgelegt von
August Walbaum, pract. Arzt in Scheessel in Hannover. Marburg a. d. L., den 19. Juli
1897.
Walbaums Dissertation beginnt mit einer Darstellung der landschaftlichen Gegebenheiten
der Gegend um Rotenburg, das damals noch Rotenburg in Hannover und heute Rotenburg
(Wümme) heißt. Es folgen Abhandlungen über die klimatischen Gegebenheiten, hier auch
mit statistischem Zahlenmaterial. Weitere Betrachtungen widmen sich der Landschaft
und der Bodenbeschaffenheit, wobei insbesondere auf die vielfältig vorhandenen Moore
hingewiesen wird. Nach der allgemeinen Schilderung der klimatischen, geologischen
und örtlichen Verhältnisse kommt Walbaum in seiner Promotionsschrift dann zu seinem
eigentlichen Thema, der Darstellung des niedersächsischen Bauernhauses:
„Die einfachste Grundform des niedersächsischen Hauses ist ein einstöckiges Giebelhaus,
dessen Grundstock durchweg aus Fachwerk besteht. Das Dach ist mit Stroh gedeckt, das
auf die Holzsparren aufgebunden wird, ein Schornstein existiert nicht. Eine eigentliche
Fundamentierung des Hauses oder eine Unterkellerung findet fast nie statt; der Fachbau
wird vielmehr meistens direct auf den Baugrund aufgerichtet, nur selten dient eine
Schicht grösserer Quadersteine als Unterlage. Es fehlt eben hier an solchen und die
Beschaffung ist zu kostspielig.
([Abb. 1] und [Abb. 2])
Abb. 1 Vorderansicht eines niedersächsischen Bauernhauses aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts.
Man sieht das Fachwerk, wie es direkt auf den Untergrund aufgesetzt ist, die grosse
Einfahrt-Thür, darüber ein langer gerade und ein kürzerer abgerundeter Balken; beide
typisch für das Haus. Der obere trägt Bibelsprüche, auf dem unteren finden sich die
Namen der Besitzer und die Jahreszahl. Der Giebel trägt oben 2 Pferdeköpfe, Ueberbleibsel
aus althannoverscher Zeit. Rechts liegt eine offene Scheune für Haide und auch Torf,
links ein Teil der Kornscheune. Seitlich nach der Rückseite zu ist ein Ziehbrunnen
sichtbar, der 2½ m vom Haus entfernt und 3 m tief ist.[1]
Abb. 2 Dasselbe Haus wie Nr. 1 in Seiten- und Hinteransicht. Das grosse Strohdach reicht
bis Greifhöhe nach unten, an einigen Stellen wächst Gras und Roggen darauf. Rechts
neben dem Fenster ist die sogenannte Blankenthür, die zum Brunnen führt und aus der
die Abwasser gegossen werden. Daran schliessen sich die Stallungen an, die ohne Fenster
sind.[1]
Wenn der Fachbau aufgerichtet ist, werden die einzelnen Fächer ausgefüllt und zwar
entweder mit gebrannten Ziegelsteinen, die regelrecht eingemauert werden, meist in
einer Dicke von ½ Stein, oder mit einem Gemisch aus Lehm, Stroh und sogen. Reith […].
Letzteres Material wird zur Füllung des Scheunenfachwerks eigentlich ausschliesslich
angewendet. Die Bedachung ist von Stroh, die in einer Dicke von etwa 30 – 50 cm hergestellt
wird und zur Hälfte vorne und hinten an den Giebeln herabreicht.
Das Innere des Hauses ist der Reihe nach in 3 Abteilungen eingeteilt. Die mittlere
ist die Einfahrt mit einer grossen Thür auf der vorderen Giebelseite. Zu beiden Seiten
sind die Viehstände, die meistens nach der Diele zu offen sind; erst in den letzten
Jahren fängt man hier an, die Ställe durch Holzwände nach der Diele zu abzuschliessen.
Von den Ställen gehen kleine Fensterchen nach aussen, die aber meist nicht zu öffnen
sind, sodass die Ventilation nur durch die grosse Diele möglich ist. Letztere dient
auch zugleich als Futterlager für den täglichen Gebrauch. Dasselbe wird vom Boden
heruntergeworfen, auf der Mitte der Diele gesammelt und dann bei Bedarf dem Vieh zugefegt.
Die Wohnräume nehmen entweder einen Teil der seitlichen Abteilungen zu beiden Seiten
des Eingangsthores ein oder es schliesst sich – wie fast überall hier – nach hinten
noch eine vierte Abteilung an, welche der ganzen Breite des Hauses entspricht. Diese
eigentlichen Wohnräume sind hier sehr selten von den übrigen Abteilungen durch eine
quere Bretterwand mit Thür abgeschlossen im Gegensatz zu den Marschen, wo wie z. B.
im Lande Wursten (am rechten Weserufer nördlich von Geestemünde gelegen) sich fast
kein Bauernhaus findet, bei dem nicht die Wohnräume von den Stallungen getrennt sind.
Auch fehlt hier meist das offene Herdfeuer, die Butzen sind erhalten.
([Abb. 3] und [Abb. 4])
Abb. 3 Inneres eines Hauses (mittlerer Grösse). Man schaut auf die oben erwähnte 4. Abteilung,
die Wohnräume, hier 2 rechts und links, zu denen die beiden Thüren führen. Der Fussboden
ist vorne aus Lehm, hinten aus kleinen Feldsteinen hergestellt. Hinten vor der 4. Abteilung
ist der offene Herd, Kochtöpfe tragend, sichtbar, darüber die wohl gespickte Rauchkammer,
an der Hinterwand die Wanddekoration. Hinten rechts in dem Vorbau befindet sich die
Butze, dicht nach allen Seiten abgeschlossen. Nach vorne schliessen sich dann rechts
und links die Stallungen an.[1]
Abb. 4 Dasselbe Bild von einem grösseren Bauernhause; es enthält zum Unterschied von Nr. 3
in der 4. Abteilung 3 Räume, von denen der rechte und mittlere sichtbar ist. Es fehlt
hier die Wanddekoration.[1]
Der Herd, nach alter malerischer und patriarchalischer Sitte, ist offen ohne Schornstein,
wie ein Altar dastehend im Hintergrund des mittleren Raumes vor der vierten Abteilung.
Ueber demselben entlang der ganzen langen Wand dieser Abteilung bilden bunte, oft
viele Jahrzehnte alte Teller von Steingut, Porcellan und Zinn sowie Krüge, deren Grösse
bedenklich an die durstigen Germanenkehlen erinnert, eine sehr geschmackvolle und
altehrwürdige Wanddecoration. Ueber dem Herd unter der Decke ist die Rauchkammer;
Schinken, Würste etc. hängen frei unter der Decke und sind vom Rauch, der dem offenen
Herd entsteigt, direct umhüllt.
Der Fussboden des ganzen Hauses besteht meist aus fest gestampftem Lehm, in der Nähe
des Herdes aus Ziegelsteinen oder Feldsteinen; nur in den Wirtshäusern findet man
Holzfussböden auf der ganzen Diele in Rücksicht auf die tanzende Jugend.
Die vierte Abteilung nun – die eigentlichen Wohn- und Schlafräume – bestehen aus mehreren
Gemächern […]. Nur ein Raum wird als Stube benutzt und eigentlich nur Sonntags im
Winter oder wenn es Kranke giebt und die Frau im Wochenbett gepflegt wird. Denn an
diese Stube grenzt auch der Schlafraum.
([Abb. 5])
Abb. 5 Die Butze (aus dem Haus Nr. 1). Das Bild ist typisch dafür. Die Butze ist halb zugeschoben,
links ist die Eingangsthür von der Diele sichtbar, rechts ein Teil der Fenster, darunter
Koffer, wie sie hier gebräuchlich sind. Die Butze beginnt 40 cm über dem Fussboden
und ist unten hohl. Das Bett ist (es wurde Nachmittags photographiert) wie gewöhnlich
ungemacht, das Stroh sieht vorne heraus. Der cbm-Inhalt der Butze beträgt 6,50![1]
Das ist die sogenannte Butze oder der Alkoven. Darunter versteht man einen Holzverschlag
in einer Ecke der Stube, der sich nach derselben zu durch eine kleine Schiebethür,
die etwa ½ Meter über dem Fussboden sich befindet, öffnen lässt. Nach der anderen
Seite ist die Butze meist vollständig luft- und lichtdicht abgeschlossen; vereinzelt
findet man zwar auch einen Schieber nach der Diele zu oder ein kleines Fensterchen
nach aussen.
Von der Stube aus geht man zu Bett und zieht dann Nachts die Läden zu, sodass man
sich ungefähr einen Begriff machen kann von der Luft, die in diesen Räumen herrscht.
Denn es schlafen oft 3 bis 4 Personen in solchem Raume, der etwa 6 bis 8 cbm misst.
Tags über steht meistens auch die Butze geschlossen, da Zeitmangel oder Nachlässigkeit
ein ordentliches Bettenmachen unterlässt. Die Butze ist unter dem Bettzeug, das auf
Brettern liegt, meistens hohl und dann mit allerlei Unrat angefüllt. Davon unten mehr.
Tags über wird, wie gesagt, die Stube fast nie benutzt; für gewöhnlich sitzen alt
und jung traulich um den rauchenden Herd; nur die kleineren Leute ziehen sich schon
mehr in die Stube zurück, weil der Ofen billiger ist als der offene Herd. Neben dem
Herde auf der einen Seite werden noch immer nach alter Sitte – wenigstens in den grösseren
Haushaltungen und abgesehen von den ganz modernisirten – die Mahlzeiten eingenommen.
Auf der anderen Seite, da wo der Brunnen sehr nahe dem Hause angelegt ist, zu dem
eine Seitenthür […] hinausführt, wird geputzt, gewaschen, gespült. Die Abwässer haben
stets den Abfluss nach dem Brunnen zu.
Besonders malerisch und patriarchalisch ist das Herdleben […], wenn das schreiende
Baby gewiegt wird, die Frauen am Spinnrocken […] oder Webstuhl sitzen, die Kinder
fleissig nähen oder Kartoffel schälen, – das Universalgericht für unsere Landleute,
von denen sie unglaubliche Quantitäten vertilgen, – der Bauer den Strickstrumpf schwingt
und der Imker […] seine Gerätschaften ausbessert.
Dazu das lodernde oder glimmende Feuer und dichter Rauch, der es oft dem Eintretenden
unmöglich macht, irgend Jemanden zu erkennen.
Und die alten Aerzte, die unsere Gegenden bewohnten, sie haben in den Rauch antiseptische
Eigenschaften hineingedichtet, die zerstörend wirken sollten auf Miasmen und Contagien,
und sie haben geschwärmt dafür und gestritten.
Sie waren es gewohnt darin zu leben. Heute muss man anders darüber denken: Vom sanitären
Standpunkte aus betrachtet, ist der offene, rauchende Herd von unendlich schädlicher
und direct gefährlicher Wirkung für unsern Organismus und besonders für den gesamten
Respirationstractus.
Ich will nur kurz erwähnen die so häufig vorkommenden Unglücksfälle, bei denen Kinder
ins offene Feuer fielen und verbrannten. [...]
Doch weit verbreiteter und gefährlicher sind die Folgen, die der offene Herd durch
seine stetige Rauchentwicklung bietet. Das Feuer brennt den ganzen Tag von den frühesten
Morgenstunden an bis zum späten Abend; den ganzen Tag über herrscht beständige Rauchentwickelung,
besonders Morgens, Mittags und Abends, wenn für Menschen und Vieh gekocht wird; und
dann vorzüglich im Winter, wo der Herd einzig und allein auch die ihn umlagernden
Hausbewohner zu erwärmen hat.
Im Frühling und Sommer, wenn die zu beiden des Hauses angebrachten sogenannten „Blankenthüren“
offen stehen und eine kräftige Ventilation ermöglichen, ist es noch zum Aushalten
in solcher Atmosphäre. Aber dann kommt der Winter mit seinen langen Abenden, wo alle
Thüren oft fest geschlossen werden, wo es wochen- und monatelang an Aussenarbeit fehlt
und alle Hausbewohner von früh bis spät vom Torfrauch umhüllt sind. Ist dann der Torf
wie so oft bei nassem Sommer nicht trocken eingebracht, so spotten die Rauchwolken,
die solch ein Haus erfüllen, jeder Beschreibung. Wenn das wenigstens etwas ventilirende
Strohdach nicht wäre, würde man kaum in solcher Luft existiren können. Wird dann noch
gedroschen und gesellt sich zum Rauch der Staub, besonders Buchweizenstaub, – dann
wird schliesslich doch bisweilen die Stube geheizt und der hochgradige Emphysematiker
flüchtet vom Herdfeuer.
Dass eine solche Verunreinigung der Luft durch Rauch und Staub – denn jedes Abfegen
der Diele, das Zufegen zu den Kühen bringt unendlich viel Staub – zu schweren Schädigungen
der Gesundheit führen muss, liegt auf der Hand.
Wer zum ersten Mal in eine dicht mit Rauch oder Staub gefüllte Atmosphäre tritt, der
empfindet alsbald eine gewisse Trockenheit in den oberen Luftwegen; und wer länger
und dauernd sich in solcher Luft aufhalten muss, zieht sich gar leicht durch die dauernde
mechanische Reizung eine catarrhalische Entzündung des Respirationstractus zu.
Wenn wir Abends einige Stunden in einem Zimmer uns aufgehalten haben, in welchem stark
geraucht wurde, erinnert uns am anderen Morgen das grauschwarze sputum und die unschwer
in demselben aufzufindenden Kohlepartikelchen an die Schädlichkeiten, die wenige Stunden
vorher unser Atmungsorgan betroffen haben.
Nun denke man sich unsere Bauern, die Jahr aus Jahr ein täglich mindestens einige
Stunden, im Winter tage- und wochenlang im Rauch sich aufhalten! Darf man sich da
wundern, dass es nur wenige Häuser giebt, deren Bewohner ganz intacte Lungen aufweisen?
Es kommt nämlich durch den Reiz von Rauch und Staub, wie durchs Tierexperiment bewiesen
ist, – denn jene wirken als Fremdkörper, – zu einer Fluxion der Schleimhaut des Respirationstractus,
bei längerer Dauer desselben zur Hyperaemie und daraus resultirender Hypersecretion,
deren Erscheinung als klinisches Bild eben den Auswurf darstellt. Die Schleimhaut
der Atmungsorgane vieler Menschen gewöhnt sich auch an solche Misshandlungen und ein
bisschen Husten stört nicht; aber bei einer grossen Anzahl treten doch ernstere Erscheinungen
auf. Der Catarrh lässt nicht nach, er wird durch immer aufs Neue einwirkende Schädlichkeiten
unterhalten, es entwickelt sich der chronische Catarrh und dieser führt weiterhin
und oft bald zum vesiculären Lungenemphysem. Dasselbe besteht in einer Erweiterung
der Lungenbläschen mit Verdünnung ihrer Wandungen und Verlust der Elasticität derselben.
Mangelhafter Gasaustausch – in Folge des Verlustes der Elasticität – Verkleinerung
der Respirationsfläche und Obliteration der Lungencapillaren stellen beim Emphysem
2 Erscheinungen in den Vordergrund: Die Dyspnoë und die Circulations-Störungen in
der Lunge. Die Dyspnoë fehlt nie; sie wird bedingt teils durch den mangelnden Luftwechsel
teils durch die Verkleinerung der Respirationsfläche und sie wird bedeutend gesteigert
bei jeder Zunahme des Catarrhs.
Die Circulations-Störungen in der Lunge, bedingt teils durch Verlangsamung der Circulation
in den Capillaren, teils durch Obliteration eines grossen Teils derselben, führt weiter
zur excentrischen Hypertrophie des rechten Herzens, zur frühzeitig lividen und später
cyanotischen Verfärbung der Haut, besonders im Gesicht, zur Anschwellung der Halsvenen
und verhindertem Abfluss aus dem Gehirn, – daher so viel Kopfweh und Schwindel, besonders
beim Husten. Es treten ferner auf: Leberhypertrophie, chronischer Magen-Darmcatarrh,
und schliesslich kommt es hydropischen Erscheinungen. – Wenn hier beim Standesbeamten
– wie so oft – als Todesursache „Wassersucht“ angegeben wird, muss man in erster Linie
immer an chronischen Bronchialcatarrh und Lungenemphysem denken.
Der chronische Catarrh ist so sehr bei uns verbreitet, man hat sich so sehr an ihn
gewöhnt, dass ein mit ihm behafteter Mensch einfach als normaler Mensch angesehen
wird. Es gehört eben mit dazu. Wie oft hört man nicht in der Krankenanamnese die Worte:
„Ja, ich huste wohl, aber nicht mehr, als einem zukommt und als die anderen.“ Im Sommer,
wenn die Bauern den ganzen Tag im Freien arbeiten, geht es den Bronchitikern und Emphysematikern
leidlich, da klagen nur Mütter und Grossmütter, die am Herdfeuer zu thun haben. Wenn
aber der Herbst naht, die Zeit des Kartoffelausrodens, wenn die ersten grauen, nasskalten
Tage sich einstellen, da hustet alles. Es ist interessant, dann einmal Sonntags die
Kirche zu betreten; Prediger mit schwacher Stimme vermögen garnicht durchzudringen
durch das gewaltige Gehuste. Wie viele leiden nicht bei uns an „voller Brust“; wo
man hört: „ich bin amböstig“ […], da hat man es mit dem chronischen Catarrh und Emphysem
zu thun. […]“
Walbaums Hinweise auf die gesundheitlichen Gefahren, die von der Herdstelle im niedersächsischen
Bauernhaus ausgehen, sind von faszinierender Aktualität.
Epidemiologie von pulmonalen Erkrankungen, die durch das Verbrennen von Biomasse bedingt
sind
Die WHO schätzt, dass mindestens 2 Millionen Todesfälle weltweit durch die Luftverschmutzung
im Haushalt bedingt sind [1]. Wahrscheinlich ist diese Schätzung deutlich zu gering, da bei der Datenerfassung
kardiovaskuläre Todesfälle nicht erfasst sind. Man kann davon ausgehen, dass auch
heutzutage weltweit die Hälfte der Weltbevölkerung in ihren Wohnstätten Holz, Holzkohle,
Dung oder Ernteabfälle (zusammengefasst als Biomasse) verbrennt, um hiermit zu kochen
und zu heizen [2]. Menschen, die zu diesen Zwecken Biomasse im Haushalt verbrennen, sind sehr häufig
mit einem verfügbaren Einkommen von 1 – 2 US$/Tag extrem arm. Die durch das Verbrennen
von Biomasse am häufigsten gesundheitlich geschädigten Bevölkerungsgruppen sind Kinder
unter fünf Jahren und Frauen. Die Rauchexposition bedingt bei den Kindern eine Übersterblichkeit
an Infekten der unteren Atemwege und an Pneumonien, wohingegen die Frauen sowohl eine
chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung (COPD) entwickeln, die sich klinisch und
prognostisch nicht von der durch das Zigarettenrauchen bedingten COPD in den Industriestaaten
unterscheidet, als auch eine Übersterblichkeit am Lungenkarzinom zeigen. Die WHO geht
jährlich von 1,1 Millionen Todesfällen bei Frauen durch eine fortgeschrittene COPD
oder ein Lungenkarzinom aus. Besonders betroffen sind weite Teile Afrikas und der
indische Subkontinent. In Indien verbrennen zirka 75 % der Haushalte Rinderdung, Erntereste
und Feuerholz in offenen Feuerstellen im Haus ohne Kamine. Nach Erhebungen der indischen
Gesundheitsbehörden versterben an den Folgen der innerhäuslichen Biomasseverbrennung
jährlich 250 000 – 400 000 Kinder und 20 000 – 155 000 Frauen [3]
[4].
Risikoabschätzungen
Die innerhäusliche Verbrennung von Biomasse erhöht das Risiko von Kindern < 5 Jahre
beträchtlich (OR: 1,78; 95 %CI: 1,45 – 2,18 bis 3,52 (95 %CI:1,94 – 6,43) [5]. Ähnliche Risikoabschätzungen liegen für die COPD und das Lungenkarzinom bei Frauen
zwar nicht vor, jedoch treten in den entsprechenden Regionen diese Erkrankungen zu
bis zu 75 % bei nicht-rauchenden Frauen auf. Auch für die Tuberkulose kann, analog
zu den Erkenntnissen, dass Zigarettenrauchen die Erkrankungswahrscheinlichkeit erhöht,
vermutet werden, dass die Verbrennung von Biomasse einen wichtigen Risikofaktor darstellt.
Interventionen zur Reduktion von Pneumonien durch Biomasse-Verbrennung bei Kindern
2011 erschienen im Lancet die Ergebnisse einer umfänglichen Interventionsstudie (RESPIRE
Trial) [6]. Die Studie wurde in Guatemala durchgeführt. 534 Haushalte mit Kindern erhielten
eine mit einem Kamin versehene Kochstelle. Obwohl die durch CO-Hb Messungen kontrollierte
Rauchexposition nur um 50 % zurückging, konnte die Rate schwerer kindlicher Pneumonien
bei Kindern bis zum 18. Lebensmonat um 33 % gesenkt werden (RR: 0,67; 95 %CI: 0,45 – 0,98).
Interventionen zur Reduktion der COPD durch Biomasse-Verbrennung bei Frauen
In einer Studie in Mexiko wurde geprüft, ob eine Kamin-Kochstelle (Patsari-Ofen) die
COPD bei 552 Frauen vermindern kann [7]. Die Nutzung des neuen Ofens war mit nur 50 % gering. Allerdings konnte nach einem
Jahr bei den Nutzerinnen ein Reduktion giemender Atemgeräusche (rate ratio for wheez:
0,29; 95 %CI 0,11 – 0,77) und eine Verminderung des FEV1-Abfalls (31 ml versus 62 ml,
p = 0,01) gezeigt werden.
Präventionsinitiative
Die „Global Alliance for Clean Cookstoves“ (http://cleancookstoves.org/) ist eine Private-Public-Partnershhip Organisation innerhalb der WHO, die sich seit
dem Jahre 2010 des Problems durch die Förderung der Entwicklung neuer Koch- und Heizsysteme
angenommen hat und bisher mehr als 300 neuartige Herd- und Ofen-Systeme, die den Bedürfnissen
und Möglichkeiten der jeweiligen Region entsprechen, untersucht und getestet hat.
Im Folgenden lässt sich Walbaum darüber aus, dass es bedauerlicherweise kein statistisches
Material über die Verbreitung der chronischen Bronchitis und des Lungenemphysems gibt.
Dann schließen sich Walbaums Erkenntnisse zur Tuberkulose an:
„Eine Krankheit aber ist es, die ganz besonders zahlreiche Opfer in unserer Gegend
fordert, das ist die Tuberkulose. Die Beobachtungen zahlreicher Aerzte bestätigen,
dass die Schwindsucht in Holstein, Hannover und Oldenburg (die Küstenstriche ausgenommen),
ferner in Westfalen häufiger vorkommt als im übrigen Deutschland. Und auch in der
Schlockow’schen Arbeit „Verbreitung der Tuberculose in Deutschland“ (veröffentlich
im III. und IV. Hefte der Zeitschrift des königlich preussischen statistischen Bureaus)
wird statistisch nachgewiesen, dass in Hannover und Rheinland-Westfalen die meisten
Todesfälle an Tuberkulose vorkommen. In den am meisten befallenen Kreisen dieser Provinzen
ist die Tuberkuloseanfälligkeit zum Teil 6 mal so gross als in den am meisten verschonten
Kreisen Preussens und Pommerns.
Die Tuberkulose forderte unter übrigens gleichen Bedingungen um so mehr Todesfälle,
je dichter die Bevölkerung wohnt, und doch hat der dichtest bevölkerte Kreis Preussens
nämlich Beuthen in Oberschlesien bei 628 Einwohnern auf den Quadratkilometer eine
Tuberkuloseziffer von nur 216 (Todesfälle auf 100 000 Einwohner), während die Hannover’schen
Kreise Fallingbostel, Rotenburg, Harburg und Meppen mit etwa nur 20, 21, 24 und 25
Einwohnern auf den Quadratkilometer Tuberkuloseziffern von 417, 539, 615 und 638 haben
(Todesfälle auf 100 000 Einwohner) (F. A. Schlockow). Die Provinz Hannover ist beinahe
auch der einzige grössere Teil des Landes, wo das platte Land eine grössere Schwindsuchtshäufigkeit
darbietet als die Städte.
Das platte Land hat zum Beispiel im Regierungsbezirk Stade ein plus über die Städte
von 102, im Regierungsbezirk Hannover um 106 (alles auf 100 000 Einwohner).
Schlockow vermag für dies alles keine Erklärung zu geben. Findet sich der Tuberkelbacillus
an und für sich hier häufiger als anderswo? Wohl kaum. Ich glaube vielmehr, dass unter
anderem die grosse Diele des niedersächsischen Bauernhauses mit ihrem ewigen Rauch
die übergrosse Schwindsuchtsfrequenz mit bedingt.
Bevor ich nun des Näheren hierauf eingehe, sei es mir gestattet, die Frage nach der
Aetiologie der Tuberkulose kurz zu erörtern. […]“
Es folgen nun sehr knappe, aber prägnant formulierte Ausführungen über den Diskurs,
ob es sich bei der Tuberkulose um eine reine Infektionskrankheit handelt oder ob die
„Erblichkeit“ eine Hauptrolle bei der Tuberkulose-Entstehung spielt. Walbaum stellt
im Folgenden die damals vertretenen Positionen dar und kommt letztlich zu folgendem
Schluss:
„Nun, dieser einseitige Standpunkt, der nur die Erblichkeit für Tuberkulose gelten
lässt, ist wohl kaum ernstlich mehr vertreten.
Durch die epochemachenden Entdeckungen von Robert Koch, dem Forscher wie Klebs und
andere vorgearbeitet hatten, ist der Tuberkelbacillus unzweifelhaft als Erreger der
Tuberkulose festgestellt worden, und in keine phthisischen Lunge, und in keiner phthisischen
Darmaffection oder sonstigen tuberkulösen Prozessen fehlt der Tuberkelbacillus. Dass
er sich bei manchen Erkrankungen, die gegen eine Masseneinwanderung mehr geschützt
sind wie bei gonitis tuberculosa oder tuberc. Lymphomen u. a. in geringerer Anzahl
findet, ist ja nur natürlich. Diese Orte sind eben nicht mit der Luft in so grosser
offener Verbindung wie zum Beispiel die Lunge. Ebenso ist es auch erklärlich, dass
sich die Tuberkelbacillen erst dann nachweisen lassen, wenn die tuberkulösen Processe
weiter fortgeschritten sind und für die physikalischen Untersuchungen sich bereits
ausgesprochene Resultate ergeben. Denn erst dann wird eine genügende Menge oder überhaupt
sputum expectorirt, das die Tuberkelbacillen enthält. […]“
Im Folgenden geht Walbaum abwägend darauf ein, dass er zwar von der These der Erblichkeit
der Tuberkulose nichts hält, jedoch Suszeptibilitätsfaktoren anerkennt.
Bemerkenswert ist die Diskussion von Walbaum über die mögliche genetische Basis der
Tuberkulose. Diese Diskussion war vor der Entdeckung des Erregers durch Robert Koch
im Wesentlichen durch die Konstitutionslehre bestimmt. Walbaum schlägt sich hier aber
eindeutig auf die Seite der Infektiologie und betont den Charakter der Erkrankung
als den einer Infektionserkrankung. Dies hindert ihn aber nicht zu diskutieren, dass
es möglicherweise zusätzliche individuelle Faktoren gibt, die die Erkrankung begünstigen.
Er greift hier einer Diskussion über die „Erblichkeit der Tuberkulose“ voraus, die
insbesondere während der NS-Zeit in der Pneumologie heftig geführt wurde. Ausgehend
von Zwillingsforschungen durch K. Diehl [8] und O. Verschuer [9] wurde der Faktor der Erblichkeit betont und fand auch Eingang in die menschenverachtende
Praxis der Zwangssterilisation von an Tuberkulose erkrankten Patienten [10]. Die in der NS-Zeit geführte Debatte war überschattet von eugenischen und rassehygienischen
Gesichtspunkten, weil sie die Ausrottung der suszeptiblen Bevölkerungsanteile als
ein erstrebenswertes Ziel ansah.
1944 veröffentlichten Kallmann und Reisner [11] in den USA ebenfalls eine große Zwillingsforschungsstudie zur Tuberkulose, die im
Wesentlichen zu ähnlichen Ergebnissen wie die Untersuchungen von Diehl und Verschuer
kam. Es zeigte sich, dass die gemeinsame Erkrankung an Tuberkulosen bei monozygoten
Zwillingen in 66,7 % der Fälle vorkam, wohingegen bei dizygoten Zwillingen eine gemeinsame
Erkrankung nur bei 23 % auftrat. In der nun folgenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung
ergab sich die Frage, inwieweit die Erkrankung an Tuberkulose einen genetischen Hintergrund
hat.
Weltweit wird diese Forschung zurzeit sehr intensiv betrieben [12]. Wir können heute davon ausgehen, dass die Erkrankung an Tuberkulose in erheblichem
Maße auch die genetische Vulnerabilität des Wirtes betrifft [13]. In der Vergangenheit wurden sowohl genetische Defekte (z. B. hinsichtlich der Interferon-gamma-Produktion)
als auch Genloci identifiziert, die sich bei infizierten und erkrankten Personen signifikant
häufiger finden als bei nicht infizierten und gesunden Personen [14]. Hinweise haben sich auch für Genloci ergeben, die offenbar einen Schutz gegenüber
der Infektion und der Erkrankung vermitteln [14].
Nach dieser Theoriediskussion kommt Walbaum auf sein eigentliches Thema zurück, auf
den Zusammenhang zwischen der hohen Tuberkulose-Prävalenz und dem niedersächsischen
Bauernhaus:
„Indem ich, folgend der Ansicht der meisten Forscher und fussend auf den Beobachtungen
eigener Praxis, den tractus respiratorius als die Haupteingangspforte für die Bacillen
ansehe, komme ich wieder auf unser niedersächsisches Bauernhaus zurück und auf sein
offenes Herdfeuer.
Davon dass durch dasselbe und seine stete Rauchentwicklung Tuberkulose direkt erzeugt
wird, kann natürlich keine Rede sein; wohl aber glaube ich, dass es der Ansiedelung
von Tuberkelbacillen günstig vorarbeitet.
Denn es ist eine von der Wissenschaft allgemein anerkannte Thatsache, dass die Einnistung
und Vermehrung der Bacillen entschieden gefördert wird durch eine Laesion, eine nicht
völlige Intaktheit der Schleimhaut. Es steht fest, dass mechanische Insulte der Schleimhaut
unserer Atmungsorgane die Entstehung der Lungentuberkulose wesentlich begünstigt.
Dies kann dadurch geschehen, dass die Schwellung der Schleimhaut die Einlagerung des
Bacillus erleichtert, oder der in Folge des chronischen Catarrhs eintretende Schwund
des Flimmerepithels bewirkt, dass die Bacillen nicht wieder nach aussen expectorirt
werden, wie es bei normaler Schleimhaut anzunehmen ist. Ferner ist möglich, dass die
Laesion der Schleimhaut den Bacillen direkt den Eintritt in die Gewebe der Lymphbahnen
erleichtert.
Darf man sich da nun wundern in einer Gegend so hohe Schwindsuchtsziffern anzutreffen,
wo so unendlich viele laedirte Lungen sind, in der es Ortschaften giebt, wo kaum ein
Haus existirt, das nicht mindestens einige Individuen mit chronischem Bronchialcatarrh
präsentirt. […]
Aber nicht allein der offene Herd mit seinen Rauchwolken ist anzuklagen; zugleich
mit ihm müssen wir die Schlafstätten unseres Bauernhauses nennen, jene bereits oben
erwähnten Butzen. Das Volk in seinem wirklichen Leben darf man nicht nach den Kirchdörfern
[…] beurteilen, da ist schon manches mehr ausgeputzt und die Butze in ihrer ursprünglichen
Gestalt mehr in den Hintergrund gedrängt. Auf die Nebendörfer muss man gehen, da sieht
man noch überall die Butzen mit ihren Hohlräumen unten, die angefüllt sind mit halbvermoderten
Kartoffeln, alten Lumpen und Unrat. Auch das Bettstroh, auf dem die Leute schlafen,
ist oft in einem Zustande, der Ekel erregt. Bis es verfault und stinkend geworden
ist, lassen sie es manchmal liegen und selbst nach Geburten, wenn das Stroh mit Fruchtwasser
und Blut durchtränkt ist, entschliesst man sich ungern zur Erneuerung. Als Kuriosum
mag Erwähnung finden, dass ich neulich unter einer solchen Butze eine Hündin mit ihren
Jungen entdeckte.
Diese Räume, die ein einigermassen hygienisch denkender Mensch sich scheut als Schlafstätten
zu bezeichnen, sie dienen hier fast den meisten Menschen dazu. Wenn ich auch sie für
die Tuberkuloseerkrankungen mit verantwortlich mache, so geschieht das einerseits,
weil sie als solche bereits durchaus gesundheitswidrig sind, andererseits, weil ich
glaube, dass sie eine Unzahl von Tuberkelbacillen beherbergen und so direkt als Infectionsherd
gelten können.
Als Hauptträger der Infection ist wohl ohne Zweifel das sputum der tuberkulös erkrankten
Menschen anzusehen. Die grosse Contagiosität des sputums ist bereits von Tappeiner
durch Tierexperimente im Jahre 1877 nachgewiesen, indem er bei Hunden mit zerstäubtem
sputum Inhalationstuberkulose erzeugte. […]“
Nun geht Walbaum auf die damals durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchungen ein,
bei denen die Übertragung der Tuberkulose durch Staub dargestellt worden ist:
„Das sputum bildet demnach die Hauptgefahr für die Umgebung des Phthisikers, aber
auch nur wenn es Gelegenheit zum Vertrocknen hat.
Nun denke man sich jene Butzen, in denen der Schwindsüchtige mit seinem Schweiss und
Auswurf liegt. Ueberall wird derselbe hingeworfen, auf die umgebenden Wände, den Fussboden
und unter die Decke, mitten unter die Gesunden wochen-, monate-, jahrelang. Dazu kommt
dann noch, dass Frau und Kinder oft des Nachts das Bett mit dem tuberkulösen Manne
teilen müssen und gezwungen sind, die bacillenhaltige Luft Nacht für Nacht einzuatmen.
Gründlich gereinigt werden diese Höhlen nur äusserst selten, früher nur wennʼs Hochzeit
gab und ein neues Brautbett kam, jetzt zwar häufiger, aber weniger intensiv. Wenn
wirklich einmal eine strenge Desinfectionsordnung eingeführt ist bei der Tuberkulose
– und hoffentlich wird die Zeit nicht mehr ferne sein – solche Räume dürften kaum
zu desinfiziren sein. Die Erfahrung lehrt, dass selbst in dem saubersten Schlafzimmer
der saubersten und gesundesten Menschen früh morgens ein unangenehmer Geruch sich
bemerklich macht, der auf organische Zersetzungen zurückzuführen ist. Und die exacte
Untersuchung ergiebt, dass die Menge der organischen Substanzen zunimmt im Verhältnis
zur Zahl der Insassen und mit der Dauer des Aufenthaltes. Nun trete man einmal früh
morgens, wozu man als Arzt oft genug Gelegenheit hat, vor solch eine Butze, die an
einem engen und niedrigen Zimmer angebracht und der jegliche Ventilation fehlt, –
der Qualm, der Dunst, den man da einzuatmen hat, ist eben nicht zu beschreiben. Und
wenn man auch chemisch und mikroskopisch die Luft in den Schulen, Auditorien, Krankenhäusern,
ja selbst den Dreschdielen untersucht hat, an die Butzenluft hat sich noch keiner
herangewagt.
Und doch atmen auf dem platten Lande bei uns Hunderte von Familien solchen Dunst und
Qualm ein Jahr aus und ein ihr ganzes Leben hindurch. Da darf es kaum Wunder nehmen,
dass die Schwindsucht bei uns so grosse Opfer fordert, dass selbst die gesundesten
Männer der Krankheit schliesslich zum Opfer fallen, wenn sie, wie stets, mit dem tuberkulösen
Weibe die Lagerstatt teilen. Desgleichen die Kinder!
Denn gerade bei dieser Krankheit ist – leider – die Sorglosigkeit sehr gross, die
Furcht vor der Ansteckung sehr gering; sonst müsste die eigene Ueberlegung und ein
wenig Nachdenken die Menschen vorsichtiger gemacht haben. Und nicht nur in Bezug auf
die Behandlung der Kranken, die Reinhaltung derselben und die Entfernung der infectiösen
sputa. Als weiteres Moment muss ich die Art der Eheschliessung erwähnen, die in höchst
leichtsinniger Weise ohne Rücksicht auf die zukünftige Familie stattfindet. Einerseits
ist es hier üblich, möglichst innerhalb der Verwandtschaft zu heiraten aus rein materiellen
Gründen, auf dass Hab und Gut nicht in fremde Familien übergehe oder in zu viele Teile.
So findet man äusserst häufig, dass Männer, die ihre erste Frau verloren, deren Schwester
heiraten oder Blutsverwandte höherer Grade. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn ich
behaupte, dass fast das halbe Kirchspiel Scheessel auf diese Weise verwandt ist. Dass
durch solche Generationen hindurch gepflegte Verwandten-Heiraten mit der Zeit ein
geschwächtes Geschlecht heranwächst, das dem Kampf mit der Krankheit weniger gewachsen
ist, erscheint wahrscheinlich. Aber weit schlimmer ist es, dass bei dieser Art von
Heiraten jede Rücksicht auf die Gesundheit beider Eheleute zurücktritt vor rein materiellen
Gründen. Es ist gar nichts Neues hier, dass ein Mann, der seine Frau an der Phthisis
verloren hat, die phthisische Schwester und nach deren Tod die dritte Schwester heiratet.
[…]
Schliesslich muss ich noch insofern das niedersächsische Bauernhaus angreifen, als
in den meisten Fällen das Vieh und insbesondere die Kühe in gemeinsamen Räumen mit
den Menschen leben, nämlich auf der grossen Diele. Es ist heute allgemein anerkannt,
dass die sogenannte Perlsucht der Rinder mit der menschlichen Tuberkulose vollkommen
identisch ist und auch hierfür der Tuberkelbacillus Koch als Krankheitserreger anzusehen
ist. Untersuchungen von Bang, Hirschberger und anderen ergaben, dass die Milch von
perlsüchtigen Kühen, auch ohne dass Euter-Tuberkulose besteht, im Stande ist, eine
echte Tuberkulose beim Menschen zu erzeugen. Und die Perlsucht kommt weit öfter vor,
als man denkt und bislang anzunehmen geneigt war, und der Procentsatz wird noch grösser
sein, wenn die behördlichen Anordnungen in der Beziehung erst strenger sind oder wenigstens
strenger gehandhabt werden. Da nun also für die Perlsucht auch der Tuberkelbacillus
als Infectionserreger gilt, so fragt sich, wie derselbe in den tierischen Organismus
hineingelangt, besonders wie die Erkrankung in einem Viehbestand auftritt. Es ist
hier vielfach das gemeinsame Vorkommen von menschlicher und tierischer Tuberkulose
in einem Haushalt beobachtet worden; das findet man viel häufiger als isolierte Perlsucht
bei im Uebrigen gesunden häuslichen Verhältnissen. In letzterem Falle ist sie gewiss
stets von aussen eingeschleppt worden durch Ankauf einer Kuh, die bereit perlsüchtig
war, ohne gerade schon objective Zeichen dafür zu bieten. Die acquirirte Perlsucht
bei einer bislang gesunden Kuh kann, glaube ich, besonders auf zweierlei Weise vorkommen.
Einmal ist es möglich, dass die Infection durch die Menschen erfolgt, die täglich
mit dem Vieh in Berührung kommen, nämlich durch Knechte und melkende Mägde. Da die
Tuberkulose unter den Bewohnern hier so häufig ist, findet man demgemäss auch unter
dem Dienstpersonal oft tuberkulös erkrankte Menschen. Diese sind in der Ejection ihrer
sputa keineswegs vorsichtig, glauben vielleicht sogar es zu sein, wenn sie sich desselben
in der Nähe des Viehs entledigen. Wie leicht es da vorkommen kann, dass sputum unter
das Heu und anderes Futter gemischt wird, und von den Kühen in getrocknetem Zustand
inhalirt oder sofort dem Digestionstractus einverleibt wird, liegt auf der Hand. Andererseits
kann auch an den sehr oft laedirten und des schützenden Epithels beraubten Eutern
durch sputum tragende Hände der tuberkulösen Milchmädchen Tuberkulose, echte Impftuberkulose,
erzeugt werden. Mit der perlsüchtig erkrankten Kuh, von deren Krankheit dann oft nichts
bekannt ist, ist aber wiederum eine grosse Gefahr für die Milch consumirenden Besitzer
gegeben. Und besonders für die Kinder. Die Mütter sind hier nur verhältnismässig selten
in der Lage, ihr Kind selbst zu stillen, ausschliesslich fast nie; einesteils aus
sozialen Gründen: es mangelt ihnen an Zeit, weil sie selbst mit verdienen und einen
grossen Teil des Tages auswärtig sein müssen; anderenteils weil durch die immerwährende
anstrengende Thätigkeit die Milch nur spärlich in den Brüsten sich sammelt oder bald
nach dem Wochenbett ganz versiegt. Dann wird als bester Ersatz die Kuhmilch herangezogen.
Zum Teil aus Nachlässigkeit, meist aus Unwissenheit wird die Milch aber nicht gekocht,
sondern oft nur bis zur Trink-Temperatur gewärmt. Wie leicht da Milch consumirt werden
kann, die Tuberkelbacillen enthält, ist leider nur zu evident. Und die grosse Säuglingssterblichkeit
insbesondere an tuberkulösen Darmaffectionen, die bis 25 % der Gesamtsterblichkeit
beträgt, redet nur zu deutlich, um der Gefahr der Infection durch Milch nicht ernstlich
widersprechen zu können.
Dass eine directe Infection von tuberkulösen Kühen auf die Menschen stattfinden kann
dadurch, dass solche Kühe die Mägde belecken, oder durch Berührung mit tuberkulös
afficirten Eutern, liegt desgleichen wohl im Bereich der Möglichkeit. Jedenfalls ist
zuzugeben, dass durch die Isolierung des Viehs von den menschlichen Wohnungen in eigene
Ställe und eine strengere Fernhaltung tuberkulös erkrankter Knechte und Mägde von
denselben resp. genaue Innehaltung geeigneter Desinfectionsvorschriften der Gefahr
der durch Milch acquirirten Darmtuberkulose wohl entgegen zu arbeiten wäre. –
Soll ich zum Schluss noch erwähnen die Brunnen, die oft geradezu inmitten von Düngerhaufen
und Pfützen angelegt sind oder dicht an die Viehställe grenzen! Soll ich erwähnen,
dass ein grosser Teil der Abfallwässer aus der Küche und die Dejectionen von Menschen
und Vieh oft direct in unmittelbarer Nähe dieser Brunnen hinaus befördert werden!
Doch das ist nichts speciell Eigentümliches für unsere Gegend, sondern findet sich
auch überall dort, wo Armut, Nachlässigkeit und Unverstand Hand in Hand gehen, das
zu thun, was möglichst wenig den Forderungen der Hygiene entspricht.
Ich glaube, zu der Schlussfolgerung berechtigt zu sein, dass unser niedersächsisches
Bauernhaus fast in jeder Beziehung eine grosse Gefahr für seine Bewohner, Menschen
und Vieh, bildet; dass es wohl an der Zeit ist, dass die Aufmerksamkeit und das Interesse
der in Betracht kommenden Behörden sich diesem zwar historisch und culturell höchst
interessanten aber durchaus ungesunden Wohnhaus in dem Maasse zuwendet, als ihnen
daran liegen muss, ein gesundes und widerstandsfähiges Geschlecht erstehen zu sehen
und zu erhalten. Die gesunde und menschenwürdige Wohnung ist die grundlegende Bedingung
für das Wohl der Familie, für die leiblich wie geistig gesunde Erziehung des heranwachsenden
jungen Geschlechts. […]“
Walbaums Dissertation ist mit Abbildungen versehen, für deren Entstehen er dem Apotheker
von Roden aus Scheeßel dankt und dazu die Anmerkung macht:
„NB. In Wirklichkeit sieht alles viel weniger anziehend aus. Schmutz, Unordnung etc.
sind leider nicht zu photographieren.“ (Walbaum 1897, S. 30)
(Die Faksimiles erhielten wir dankenswerterweise von der Universitätsbibliothek Jena
2006)
Das Promotionsverfahren
([Abb. 6] und [Abb. 7])
Abb. 6 Das Titelblatt der Dissertation.
Abb. 7 Das Literaturverzeichnis der Dissertation (Seite 5 der Dissertation).
August Walbaums Dissertation wurde der „Löblichen Facultät“ der Universität Marburg
vorgelegt, die ihrerseits Gutachten anforderte.
Hauptgutachter war der „Geheimrath“ Emil Behring, und in der Abbildung 8 findet sich
das Faksimile des Gutachtens
[2]
. Es ist besonders in der heutigen Zeit bemerkenswert, mit welcher Ernsthaftigkeit
der zweifelsohne vielbeschäftigte Wissenschaftler die Bitte um ein Gutachten beantwortet.
Bereits zwei Tage (sic!) nach der Beauftragung sendet Emil Behring das Gutachten zurück
[3] ([Abb. 8])
Abb. 8 Das Faksimile des Gutachtens von Prof. Dr. Emil Behring, Universitätsarchiv Marburg,
Hessisches Staatsarchiv Marburg; Signatur 307 c Nr. 3231 (Übersetzung: Prof. Dr. med.
Michael Amthor und Johanna Amthor, Bothel; Dr. Robert Kropp, Fulda):
Marburg 20. Juni 1897
Löblicher Facultät
beehre ich mich die Doctor-Arbeit des praktischen Arztes Herrn August Walbaum ganz
ergebenst vorzulegen. Ich bitte Herrn Geheimrath Behring mit seinem Votum voranzugehen.
Kochel, Decan.
Anbei 5 Photographien
Die Arbeit des p. Walbaum kann ich zur Annahme als Doctor-Dissertation sehr empfehlen.
In sehr anerkennenswerther Weise hat der Verfasser in eigener ärztlicher Thätigkeit
Beobachtungen angestellt über die Lebensweise der ländlichen Bevölkerung eines Theiles
von Hannover und in fesselnder Darstellung die Übelstände dieser Lebensweise inbezug
auf den Gesundheitszustand überhaupt und speziell in Bezug auf die Respirationsorgane
geschildert. Seine Arbeit bietet mehr als bloß eine wohnungshygienische Skizze. Sie
geht zwar aus von der Schilderung des niedersächsischen Bauernhauses unter Berücksichtigung
der Bodenverhältnisse und des Klimas in näherer und weiterer Umgebung; sie verdichtet
sich aber sehr bald zu einer sorgfältigen Analyse der gesammten gesundheitlich wichtigen
Lebensgewohnheiten der Bewohner und gipfelt in dem Mahnruf, die erschreckliche Mortalität
und Morbidität infolge tuberkulöser Infektion durch geeignete Reformen zu beschränken.
Im einleitenden Theile namentlich vermißt man vielfach die Quellenangaben für statistische
und andere Behauptungen. Verf. scheint aber gute allgemein-medizinische Kenntnisse
zu besitzen, u. er hat dieselben sehr geschickt benutzt zur allseitigen Beleuchtung
der Beziehungen, welche zwischen der großen Tuberkulose-Sterblichkeit u. der Wohnungs-
u. Lebensweise der Dorfbewohner im Bezirk seiner praktischen Thätigkeit bestehen.
Die vorliegende Arbeit ist sehr lesenswerth u. sie verdient größere Verbreitung nicht
bloß unter Medizinern, sondern auch unter Behörden u. in gebildeten Laienkreisen.
22 /6 /97 E. Behring
Emil von Behring, 1901 nobilitiert, erhielt in diesem Jahr als medizinischer Wissenschaftler
den erstmals verliehenen Nobelpreis für „Physiologie oder Medizin“ (1901).
Somit konnte August Walbaum aus Scheeßel in Hannover sich rühmen, als Gutachter seiner
Dissertation einen Nobelpreisträger gehabt zu haben. Dies können und konnten in der
deutschen Medizingeschichte nur wenige Promovierte.
Zweiter Teil : Biografische Notizen
Dr. August Walbaum (1868 – 1938), praktischer Arzt und Geburtshelfer in Scheeßel,
und seine Familie
Inge Hansen-Schaberg und Karsten Müller-Scheeßel
Wilhelm Ludwig Hermann August Walbaum wurde am 24. April 1868 als einziger Sohn des Fabrikanten Justus Georg Heinrich
August Walbaum (1827 – 1919) und seiner Ehefrau Hermine Dorothee Louise Charlotte Walbaum geborene Neander (1849 – 1935) in Burgdamm, Kreis
Blumenthal, geboren und getauft[4]. Sein Großvater Dr. Hermann Neander war Arzt in Dorum, Ritterhude und Lesum. Dass
er Jude war, wurde für seinen Enkel in der NS-Zeit belastend. August Walbaum nahm
sich am 2. Januar 1938 das Leben. Der Suizid zog in der Nachkriegszeit eine Auseinandersetzung
um Entschädigungsansprüche der Hinterbliebenen nach sich, die bis 1961 dauerte. Dokumentiert
ist das in einer 179 Blatt starken Akte des Amts für Wiedergutmachung in Hamburg,
die Fragen zum Umgang mit der NS-Vergangenheit aufwirft.
Lebens- und Berufsgeschichte August Walbaums
Aus dem der Dissertation beigefügten Lebenslauf geht Folgendes hervor (Walbaum 1897,
S. 31): Schulunterricht erhielt August Walbaum bis zum 14. Lebensjahr in der Rektorschule
seines Heimatortes Burgdamm, danach besuchte er von 1882 bis 1888 das Gymnasium in
Bremen. Nach dem Abitur ging Walbaum zunächst im April 1888 an die Universität Tübingen,
um ein Theologie-Studium aufzunehmen und als einjährig Freiwilliger zu dienen. Im
April 1891 entschloss sich Walbaum das Studienfach zu wechseln und schrieb sich, vielleicht
beeinflusst durch seinen Großvater, in die Medizinische Fakultät in Marburg ein. Dort
absolvierte er im Oktober 1892 die ärztliche Vorprüfung, er ging dann während des
Sommersemesters 1894 nach München und danach nach Berlin, um im April 1895 nach Marburg
zurückzukehren. Dort bestand Walbaum im Wintersemester 1895/96 die ärztliche Staatsprüfung
und am 12. Mai 1896 das Examen Rigorosum. Die Publikation seiner Dissertation erfolgte
im Juli 1897, offenbar finanziell durch die mütterliche Verwandtschaft in Russland
unterstützt. Das wird zum einen an der Widmung deutlich: „Meiner lieben Tante, der
Frau Wilhelmine Neander zu St. Petersburg, in dankbarer Verehrung gewidmet“ (Walbaum
1897, Vorblatt). Zum anderen ist belegt, dass die väterliche Fabrik „fallierte“ (Akte,
Bl. 48).
Angeregt wurde die Dissertation August Walbaums zu dem Thema „Das niedersächsische
Bauernhaus und seine Gefahren in gesundheitlicher Beziehung“ durch den Kgl. Kreisphysicus
San.-Rat Dr. Dietrich Röhrs in Rotenburg in Hannover, der „ein ausgezeichneter Kenner
der hygienischen Verhältnisse hiesiger Gegend ist“ (Walbaum 1897, S. 7). Hinzu kam
die eigene Anschauung, denn er war, weil er seine Eltern unterstützen musste (Akte,
Bl. 48), bereits als praktischer Arzt und Geburtshelfer zunächst vertretungsweise
und dann in eigener Praxis ab 1897 in Scheeßel bei Rotenburg tätig. Ein Jahr später
wurde er zum Kreisimpfarzt für die Gemeinden Fintel und Scheeßel ernannt (Rotenburger
Anzeiger v. 24. Mai 1898), und 1903 zog er in das von ihm erbaute Haus an der Bremer
Str. 7 in Scheeßel, in dem auch seine Praxis und zudem als zusätzliche Einnahmequelle
ein Erholungsheim untergebracht waren.
Anhand der Hausliste für 1906 im Gemeindearchiv Scheeßel ist nachzuvollziehen, dass
er dort mit seiner Ehefrau Emilie Martha Amalie geborene Pape (1876 – 1961), seinen Eltern und den 1903 und 1906 geborenen
Kinder Kurt und Otto und mit einem Hausfräulein, einem Kutscher, einer Dienstmagd
und einem Kindermädchen lebte. Der Hausherr war ein passionierter Geiger, die Hausfrau
spielte Klavier und sang. Sie führten laut Gästebuch ein offenes Haus, in dem neben
Familienangehörigen regelmäßig auch Sommergäste aus Hamburg und Bremen gern verweilten,
auch wegen der Hauskonzerte. Allerdings müssen die Eheleute sich auseinandergelebt
haben, denn 1916 fand die Scheidung statt. Bereits am 2. August des gleichen Jahres
ging August Walbaum in Bremen eine zweite Ehe mit Meta Emma Meyer ein, aus der vier Kinder hervorgingen. Von Meta Walbaum stammen die Hinweise,
dass er „wegen u. A. im Krieg 1914 nicht eingezogen“ wurde und ca. 1918 Bahnkassenarzt
wurde (Akte, Bl. 48 R).
([Abb. 9])
Abb. 9 Dr. August Walbaum, 1920er Jahre, im Besitz von Henrich Walbaum, Rotenburg.
Anlässlich seines 25. Jubiläums erscheint im Rotenburger Anzeiger eine Würdigung seiner
Verdienste: „Am gestrigen Tage waren 25 Jahre verflossen, als Herr Dr. med. Walbaum
hier seine ärztliche Praxis begann. Viele durften in dieser langen Zeit seinen ärztlichen
Beistand erfahren und nicht nur als Arzt, sondern auch als Mensch haben ihn alle schätzen
lernen“ (Rotenburger Anzeiger v. 3. Januar 1922). Seine durch weitere Zeitungsberichte
belegte Teilnahme an Wohltätigkeitsveranstaltungen, an zahlreichen Konzerten und Chorveranstaltungen
und bei der Gestaltung des Passionsgottesdienstes deuten auf eine sehr gute Integration
in Scheeßel hin. Darauf geht auch Meta Walbaum in ihrer Erklärung vom 20. Mai 1959
ein, wenn sie zu Protokoll gibt, dass ihr Mann „41 Jahre lang in Scheeßel als Arzt
ansässig und unter der Bevölkerung sehr beliebt war. Anfeindungen kamen ja nicht aus
der Bevölkerung als solcher, sondern lediglich aus Parteikreisen.“ (Akte, Bl. 95)
Zudem betont sie, dass im Ort im Allgemeinen nicht bekannt gewesen sei, „daß mein
Mann jüdischer Abstammung war. Im übrigen hat man sich darum, insbesondere in Bauernkreisen,
auch gar nicht gekümmert. Nur ganz Wenige werden diese Tatsache gekannt haben, denn
bis 1933 hat sich niemand darum gekümmert.“ (Akte, Bl. 94)
Das Jahr 1933 bedeutete einen tiefen Einschnitt in das Leben August Walbaums, denn
er hatte seine Ablehnung des Nationalsozialismus nicht verheimlicht und soll beispielsweise
nie den Hitler-Gruß entboten haben. Vor allem aber musste er bei seinen beiden Söhnen
aus der ersten Ehe in unterschiedlicher Weise erleben, welche persönlichen Folgen
die NS-Zeit hatte. Der erstgeborene Sohn Kurt, der zum Holzbildhauer ausgebildet worden
war, jedoch wegen Eigen- und Fremdgefährdung seit 1926 in der „Heil- und Pflegeanstalt
Tannenhof“ lebte, wurde als „Erbkranker“ eingestuft. Auf Antrag des Anstaltsleiters
wurde er „wegen Schizophrenie“ im Dezember 1934 zwangssterilisiert, nachdem die Beschwerde
der Mutter zurückgewiesen worden war (Akte des Gesundheitsamtes Lüneburg). Der zweite
Sohn, der Arzt Dr. Otto Walbaum, machte 1925 Abitur in Lüneburg, studierte in Göttingen
und München, war Verbindungsstudent und wurde 1930 in Göttingen zum Dr. med. promoviert.
Während der NS-Zeit war er von November 1933 bis Herbst 1937 Rottenführer der SA.
Im Fragebogen der Military Government of Germany, den er am 23. September 1946 ausfüllte
und unterschrieb, gibt er an, dass er aus rassischen Gründen – sein Urgroßvater sei
nicht arisch gewesen – Nachteile erlitten habe: Nichtzulassung zum Amt für Volksgesundheit
sowie Nichtverleihung eines Dienstgrades beim DRK. Im schriftlichen Entnazifizierungsverfahren
des Hauptausschusses in Stade heißt es am 7. Juni 1949 schließlich: „Der Betroffene
wird in die Gruppe der Entlasteten (Kat. V) eingestuft.“ (Entnazifizierungsakte)
Meta Walbaum und die Auseinandersetzung um Entschädigungsansprüche
Grundlage für die Entschädigungszahlungen war Meta Walbaums wiederholt abgegebene
Erklärung, dass ihrem Mann aus rassischen Gründen die Praxis genommen werden sollte
und er keinen Ausweg mehr gesehen und sich deshalb das Leben genommen habe. Bescheinigt
wurde der Suizid von dem Arzt Dr. H. Rotermund in Scheeßel am 27. Februar 1950 (Akte,
Bl. 7). Nach dem Inkrafttreten des Bundesergänzungsgesetzes vom 18. September 1953
wandte sich die Hamburger Sozialbehörde an Meta Walbaum mit dem Hinweis, dass eine
Änderung der Entschädigungszahlung zu ihrem Gunsten evtl. eintreten könnte, und empfahl
ihr, einen Antrag auf Prüfung zu stellen (Akte, Bl. 33a). Sie nahm das Angebot an
und erklärte am 12. Januar 1956 detailliert ihre persönliche und finanzielle Situation
seit dem Tod ihres Mannes (Akte, Bl. 49): Sie habe das Grundstück und Haus in Scheeßel
verkauft, ein neues Haus in Hamburg Volksdorf erbaut und eine monatliche Rente für
sich und ihre Kinder in Höhe von 300 Reichsmark von der Ärztekammer erhalten. Diese
Zahlungen seien 1944 plötzlich eingestellt worden, sodass sie sich habe verschulden
und schließlich 1949 das Haus habe verkaufen müssen. Vom Juli 1949 ab habe sie eine
Sonderhilfsrente und auch wieder Zahlungen von der Ärztekammer und ab März 1950 auf
der Grundlage des Bundesentschädigungsgesetzes eine Kapitalentschädigung und eine
Witwenrente erhalten.
Drei Jahre später, Anfang 1959, setzen umfangreiche Recherchen ein, ob August Walbaum
tatsächlich durch „nationalsozialistische Drangsalierung“ (Akte, Bl. 2) in den Tod
getrieben worden ist. Es ist aus der Akte nicht genau ersichtlich, wer den Anstoß
zur Überprüfung gegeben hat, es scheint aber einen Hinweis aus der Bezirksregierung
in Stade gegeben zu haben.
Am 20. Mai 1959 kommt es zur Verhandlung, in der Meta Walbaum umfangreiche Erklärungen
abgibt, um den Nachweis zu führen, dass ihr Mann sich nicht aus gesundheitlichen Gründen
getötet hat. Sie erwähnt, dass ihr Mann 1935 wegen eines Blasenleidens im Joseph-Stift
in Bremen in stationärer Behandlung war, dass es jedoch keine Krebserkrankung gewesen
sei und dass er sich 1937 für ca. drei Monate im Sanatorium Dr. Benning in Oberneuland,
einer Nervenheilanstalt, aufgehalten habe, denn „er war mit den Nerven völlig herunter
und hat sich in die Krankheit geflüchtet, da er infolge seiner Abstammung nicht wußte,
wie es weiter gehen würde.“ (Akte, Bl. 94) Sie räumt zwar ein, dass ihr Mann in der
Ausübung seines Berufs „keinerlei Beschränkungen“ unterlag, erzählt dann aber den
folgenden Zwischenfall: „Ein Patient meines Mannes, namens E g g e r s, der Sattler
war, […] sagte meinem Mann, daß es nunmehr soweit sei und daß die Juden ausgeschlossen
werden würden. Eggers war Mitglied der SA oder irgendeiner anderen n.s. Organisation.“
(Akte, Bl. 95) Er habe ihrem Mann auch gesagt, „daß in Parteikreisen bekannt sei,
daß mein Mann irgendwie jüdischer Abstammung sei. Woher diese Leute das wußten, ist
mir nicht bekannt.“ (Akte, Bl. 95)
Meta Walbaum gibt auch zu Protokoll, dass sie 1938 versucht habe, den Selbstmord August
Walbaums zu vertuschen: „Mein Mann hat vor seinem Tode mir öfters Andeutungen gemacht,
daß er evtl. beabsichtige, aus dem Leben zu scheiden, um uns, d. h. mir und seinen
Kindern, etwas zu retten. Ich mußte ihm für diesen Fall versprechen, mit niemandem
darüber zu reden, und deshalb habe ich in der Todesanzeige auch von ‚langem Leiden‘
gesprochen.“ (Akte, Bl. 95)
Neben der Verhandlung finden weitere Überprüfungen statt. Dazu gehören Nachforschungen
bei den Ärzten, bei denen August Walbaum damals in Behandlung gewesen ist, und bei
der Ärztekammer und auch die Anfrage an das Landratsamt Rotenburg, ob „Unterlagen
über die seinerzeitigen Vorgänge vorhanden sind“ (Akte, Bl. 93). Nach der Antwort
vom 30. Mai 1959, weder im Landkreis noch in Scheeßel sei bekannt, dass Walbaum Jude
gewesen sei und auf Grund von NS-Verfolgung aus dem Leben geschieden sei (Akte, Bl.
105), wendet sich die Hamburger Behörde an die Polizeistation Scheeßel. Sie bittet
um die Befragung des Tischlerobermeisters S., Bürgermeister von 1933 bis 1945, sowie
des Viehkaufmanns H., Ortsgruppenleiter der NSDAP von 1934 bis 1938. Das Ergebnis
lässt sich erahnen: Beide, sagen übereinstimmend aus, dass sie von einer jüdischen
Abstammung Walbaums nichts gewusst hätten, und auch in der NSDAP habe man nichts davon
gewusst. Sie sprechen sich positiv über ihn als Arzt und Mensch aus; H. gibt zudem
zu Protokoll, dass mit seinem früheren Nachbarn Skat gespielt und gekegelt habe (Akte,
Bl. 116 /117).
Nachdem festgestellt wurde, dass der von Meta Walbaum erwähnte Sattlermeister Eggers
nicht mehr lebt, schreibt die Behörde am 17. Juni und am 7. September 1959 an dessen
Sohn, der am 18. September 1959 mitteilt, „dass mein Vater mit Dr. Walbaum ein gutes,
freundschaftliches Verhältnis als Nachbar pflegte. Mein Vater war damals SA-Truppführer
des Reitvereins Scheeßel und wird als guter Nachbar Dr. Walbaum gewarnt haben. Denn
es war bekannt, dass Dr. Walbaum irgendwie jüdischer Abstammung sei. Ich habe in Scheeßel
Erkundigungen eingezogen und man hat es mir heute noch bestätigt. Auch dass Dr. Walbaum
aus rassischen Gründen den Freitod wählte, ist heute noch bekannt. Ich selbst war
seit 1941 Soldat aber ich erinnere mich, dass Dr. Walbaum nicht aus gesundheitlichen
– sondern aus rassischen Gründen freiwillig aus dem Leben schied.“ (Akte, Bl. 125)
Trotz dieser sehr eindeutigen Aussage, die die Verlautbarungen der beiden anderen
Zeitzeugen als unwahr erscheinen lässt, und des Plädoyers des zuständigen Referenten
gegen einen Widerrufsbescheid (Akte, Bl. 126 /127) spricht sich die Oberregierungsrätin
klar für den Widerruf aus, mit der Begründung, dass Meta Walbaum vorsätzlich den Begriff
„Halbjude“ verwendet habe, um einen für sie günstigen Bescheid zu erwirken (Akte,
Bl. 128).
Was sich da im Jahr 1959 ereignete, ist der fast unglaubliche Versuch, Meta Walbaum
als Lügnerin und Betrügerin darzustellen, die durch Falschaussagen Entschädigungsleistungen
zu Unrecht erhalten hat und verpflichtet werden sollte, den Betrag von 81 782,06 DM an
den Hamburger Senat zurückzuzahlen (Akte, Bl. 132). Das Amt für Wiedergutmachung hat
keine Mühen gescheut und akribisch recherchieren lassen, ob der Tod August Walbaums
tatsächlich auf Verfolgungsmaßnahmen zurückzuführen sei, und kommt zu dem Schluss:
„Der Tod ist somit nicht auf Verfolgungsmaßnahmen zurückzuführen, da solche nicht
gegen den Ehemann der Antragstellerin wegen seiner Rasse gerichtet waren.“ (Akte,
Bl. 136). In dem Bescheid des Amtes für Wiedergutmachung, datiert auf den 7. Oktober
1959, der dann allerdings nicht verschickt, sondern behördlicherseits zurückgezogen
wird, wird Meta Walbaum vorgehalten, 1. „daß sie zumindest fahrlässig durch unrichtige
bezw. unvollständige Angaben eine Entscheidung zu ihrem Gunsten herbeigeführt hat,
[…] 2.) zumindest grob fahrlässig unrichtige bezw. irreführende Angaben über Grund
und Höhe des Schadens“ gemacht hat (Akte, Bl. 133). Besonders frappierend ist die
sprachliche Verirrung in dem Bescheid, in dem ihr vorgehalten wird, bewusst die Unwahrheit
gesprochen zu haben, als sie ihren Mann als „Halbjude“ ausgegeben habe: „Der Ehemann
der Antragstellerin war nicht ‚Halbjude‘, d. h. Mischling I. Grades im Sinne der Terminologie
der sogenannten Nürnberger Rassengesetze. Er hatte vielmehr nur einen volljüdischen
Großelternteil und war somit Mischling II. Grades.“ (Akte, Bl. 134) Zudem sei er „–
noch dazu in privilegierter Mischehe lebend –“ keinerlei beruflichen Beschränkungen
ausgesetzt gewesen (Akte, Bl. 135).
Auf der Rückseite des Widerrufsbescheids findet sich jedoch ein handschriftlicher
Vermerk[5], dem zu entnehmen ist, dass es in dem Amt auch Menschen in verantwortlicher Position
und mit Gerechtigkeitsempfinden gegeben hat: „Es bestand Einvernehmen, daß ein Widerruf
nicht gerechtfertigt, schon gar nicht die Rückzahlungsanordnung. Der Antragstellerin
kann nicht nachgewiesen werden, daß sie unrichtige Angaben auch nur grobfahrlässig
gemacht hat. Nach den verschiedenen Zeugenaussagen ist die Möglichkeit, daß der Erbl.
‚Drangsalierungen‘ ausgesetzt gewesen ist, nicht auszuschließen.“ (Akte, Bl. 137 R.)
Schließlich endet die Überprüfung am 2. Februar 1961 in einem Vergleich: „Zur Abgeltung
aller Ansprüche auf Entschädigung wegen Schadens im beruflichen Fortkommen, den der
Erblasser Dr. August Walbaum erlitten hat“, werden 420,– DM plus Zinsen an Meta Walbaum
gezahlt (Akte, Bl. 145), und die regulären Rentenzahlungen werden bis zu ihrem Tode
am 5.11.1963, zuletzt 694,– DM mtl., fortgesetzt.