Daher freuen wir uns sehr über die Bereitschaft von Prof. Dr. Christian Kratz, Universitäts-Kinderklinik
der MH Hannover, die Aufgabe des Spartenherausgebers für die Pädiatrische Onkologie
und Hämatologie zukünftig zu übernehmen und begrüßen ihn hiermit herzlich in dieser
wichtigen neuen Aufgabe! Ein neuer Fokus der pädiatrischen Onkologie in der Klinischen
Pädiatrie wird sicherlich die verstärkte Publikation etablierter Therapieempfehlungen
im Sinne von Register-Protokollen sein. Wir möchten alle Kolleginnen und Kollegen
herzlich dazu einladen, entsprechende Manuskripte einzureichen!
Im Februar wurde in Berlin der Deutsche Krebskongress 2016 – diesmal unter erheblicher
Beteiligung pädiatrisch-onkologischer Kolleginnen und Kollegen mit insgesamt 51 Vorträgen
und 29 Posterpräsentationen – mit einem Besucherrekord von mehr als 11 000 Teilnehmern
erfolgreich durchgeführt. Als Kongresspräsidentin hatte ich dazu das Motto der „P4-Medizin“ gewählt, das auch in der pädiatrischen Onkologie von besonderer Aktualität und Wichtigkeit
ist und daher hier kurz beleuchtet werden soll. Der Begriff der P4-Medizin wurde bereits
vor einigen Jahren von dem amerikanischen Biologen Leroy Hood geprägt und enthält
die Kernworte präventiv, prädiktiv, personalisiert und partizipativ, die den Wechsel
von einer reaktiven zu einer mehr proaktiven und individualisierten Medizin beschreiben
sollen. Die P4 Krebsmedizin verfolgt die folgenden Ziele:
-
die möglichst frühe Erkennung einer Krebserkrankung, um eine erfolgreiche Therapie
zu ermöglichen
-
die Aufteilung von Patienten in biologisch ähnliche Gruppen, die die Auswahl einer
gezielten und möglichst optimalen Behandlung erlauben
-
die Reduktion von Nebenwirkungen durch frühe Analysen des individuellen Ansprechens
auf Medikamente
-
die verbesserte Identifikation molekularer Zielstrukturen für die Entwicklung neuer
Medikamente
-
die Reduktion von Zeit, Kosten und Versagensquoten klinischer Studien
-
den Wechsel von reaktiver Medizin zu effizienter Prävention
Prädiktiv
Die prädiktive Medizin fokussiert sich dabei darauf, das individuelle genetische Risiko für eine Krebserkrankung
noch vor dem Auftreten klinischer Symptome zu erkennen, um aufzuklären oder präventive
Interventionen zu ermöglichen. Erste Daten aus molekularen Analysen kindlicher Tumorrezidive
weisen darauf hin, dass bei ca. 10% der Kinder Veränderungen von Krebsprädispositionsgenen
in der Keimbahn vorliegen. Da diese Zahl wesentlich höher ist als erwartet, ist es
ein wichtiges Anliegen der GPOH, zeitnah eine große Kohorte von Kindern mit einer
Krebs-Erstdiagnose systematisch durch eine genomweite Analyse des Erbgutes zu untersuchen,
um diese Zahl zu validieren und ggf. Konsequenzen für eine veränderte Krebsfrüherkennungsstrategie
in den betroffenen Familien zu ziehen. Geplant ist die flächendeckende Untersuchung
aller Kinder mit einer Krebserkrankung über den Zeitraum von 2 Jahren in ganz Deutschland.
Präventiv
Unter Krebsprävention verstehen wir sowohl die Krebsvorbeugung durch gesunde Lebensführung, die in der Kindheit natürlich von ganz besonderer Wichtigkeit auch im Hinblick auf
viele Krebserkrankungen des Erwachsenenalters ist, als auch die Krebsvorsorge durch effiziente Früherkennungsprogramme, die in der pädiatrischen Onkologie bislang weniger im Vordergrund stehen. Umso wichtiger
ist in der pädiatrischen Onkologie die Tertiärprävention – die Früherkennung eines
Rezidivs und von Spätfolgen im Rahmen strukturierter Nachsorgeprogramme für Überlebende
einer kindlichen Krebserkrankung.
Personalisiert
Das Schlagwort „Personalisiert“ steht wie kein anderes für die Hoffnung auf einen durchschlagenden Fortschritt in
der Krebstherapie. Jede Person und jeder individuelle Tumor ist genetisch einzigartig.
Diese Einzigartigkeit muss bei der Auswahl der richtigen Therapie berücksichtigt werden.
In der personalisierten Krebstherapie geht es darum, auf der Basis molekularer Analysen
des Tumorgewebes ausgewählte Patientengruppen mit Medikamenten zu behandeln, die auf
das genetische Profil ihrer Zellen zugeschnitten sind. Personalisierte Therapieansätze
bedeuten einen fundamentalen Wandel in der systemischen Krebstherapie: im Unterschied
zur weitgehend empirischen Ära der Chemotherapie steht bei der personalisierten Krebstherapie
die Entwicklung biologisch rationaler Therapien im Vordergrund. Eine enge Interaktion
von Grundlagenforschern und Klinikern ist hierfür unabdingbar.
Ein wegweisendes Beispiel einer solchen personalisierten Medizin ist in Deutschland
sicherlich das Anfang 2015 gestartete INFORM-Register (INFORM steht für Individualized Treatment For Relapsed Malignancies in Childhood)
der pädiatrischen Onkologie: https://www.dkfz.de/de/inform/ueber-inform.html.
Es handelt sich in der ersten Phase zunächst um eine Machbarkeitsstudie, in der die
erforderliche Logistik molekularer Analysen optimiert und die Sammlung molekularer
und klinischer Daten als Basis für eine zukünftige klinische Studie aufgebaut wird.
Bislang wurde an>260 Kindern mit einem Erkrankungsrezidiv untersucht, in wieweit das
molekulare Profil eines Tumors hinsichtlich der Identifizierung von Mutationen und
anderer genetischer Veränderungen informativ ist und dazu beitragen kann, eine gezielte
Behandlung auszuwählen. Bislang zeigten sich in etwa 2/3 der Proben medizinisch potentiell
relevante genetische Veränderungen. Unter dem Dach der GPOH sind deutschlandweit 11
Studiengruppen und>50 Rekrutierungszentren am INFORM-Register beteiligt. Koordiniert
wird INFORM von Wissenschaftlern des DKFZ, des Universitätsklinikums Heidelberg sowie
der Charité in Berlin. Im Rahmen der Registerstudie geben die INFORM-Forscher keine
Therapieempfehlungen, sondern lediglich die molekularen Informationen weiter. Nach
Abschluss der Register-Phase soll in einer klinischen Studie nach dem Arzneimittelgesetz
in mehreren Behandlungsarmen geprüft werden, ob ausgewählte Kombinationen von individualisierten
Therapien bessere Heilungserfolge erzielen als die konventionelle Behandlung.
Partizipativ
Das Motiv des informierten, selbstbestimmten und in jeder Hinsicht aktiv an relevanten
Entscheidungen teilnehmenden Patienten hat in den letzten Jahren besonders in der
Onkologie an Wichtigkeit gewonnen und wird unter dem Schlagwort „partizipativ“ zusammengefasst. In diesem Themenfeld werden auch in der pädiatrischen Onkologie
die folgenden Fragen adressiert: welche Maßnahmen eignen sich für ein individuelles
„Empowerment“ der Patienten und ihrer Eltern? In welcher Hinsicht sind Patienten und
Patienteneltern heute aktiver, selbstbestimmter oder besser informiert als früher?
Was erwartet der aufgeklärte Patient bzw. seine Eltern von seinem Kinderonkologen?
Welchen ethischen und regulatorischen Herausforderungen gilt es zu begegnen? Wie wird
sich die personalisierte Medizin auf die Gesundheitskompetenz und die Selbstbestimmung
des Patienten auswirken?
Zusätzlich zu den genannten „4 P“ ergeben sich in der Krebsmedizin noch 3 weitere
„P“:
Präzise
Die Krebsbehandlung erfolgt nicht nur in der systemischen Krebsmedizin zunehmend zielgenau.
„Präzisionsmedizin“ beschreibt auch sehr gut die aktuellen Entwicklungen in der Strahlentherapie,
wie die Protonentherapie und die Schwerionentherapie. Ebenso machen neue chirurgische
Techniken wie die Fluoreszenz-gestützte Mikrochirurgie die operative Behandlung von
Tumoren zunehmend präzise. Besonders bei der operativen Entfernung von Hirntumoren
müssen die Neurochirurgen sehr exakt arbeiten, damit die Patienten möglichst wenig
neurologische Folgeschäden davontragen.
Palliativ
Eine wichtige Säule der kinderonkologischen Therapie stellen auch die Kinderpalliativteams
dar. Sie betreuen aktiv und umfassend Kinder, Jugendliche und deren Familien, wenn
die Erkrankung das Leben frühzeitig begrenzt. Zum Team gehören Kinderonkologen und
Kinderpflegekräfte mit Fachweiterbildung in Palliativmedizin sowie Sozialpädagogen,
Psychologen und Seelsorger mit „palliative care“ Ausbildung. Hauptziel einer kinderonkologischen
Palliativversorgung ist eine umfassende Betreuung im ambulanten/stationären Bereich,
die auf die Bedürfnisse und Ressourcen der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien
eingeht. Durch effiziente Symptomkontrolle soll ein hohes Maß an Lebensqualität und
Selbstbestimmung erhalten werden. Zudem soll eine Betreuung in der vertrauten häuslichen
Umgebung der Patienten und ihrer Familien sichergestellt werden.
Psychosoziale Versorgung
Heute sind psychosoziale Mitarbeiter an mehr als 70 kinderonkologischen Zentren in
Deutschland, Österreich und der Schweiz tätig. Sie beraten, begleiten, unterstützen
und intervenieren. Sie geben den Betroffenen Anleitungen und ggf. therapeutische Hilfestellungen.
Ihre Aufgaben liegen dabei in der Stützung der vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen
sowie in der Bewältigung, Bearbeitung und Verhinderung von Belastungen und Problemen
der Familien. Die Art der Hilfestellung orientiert sich dabei an den Erfordernissen,
Bedingungen und Wünschen des Einzelnen und seines Umfeldes. Die psychosoziale Versorgung
ist ein essentieller und anerkannter Teil der Behandlung onkologisch und hämatologisch
erkrankter Kinder.
Die „P4+3 – Medizin“ wird in den kommenden Jahren sicherlich auch weiterhin einen hohen Stellenwert in
der Versorgung kinderonkologischer Patienten haben. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen
beim Lesen der interessanten Beiträge in dieser Ausgabe der Klinischen Pädiatrie!