ergopraxis 2016; 9(05): 30-32
DOI: 10.1055/s-0042-105115
ergotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Hausaufgaben entstressen – Wunstorfer Konzept in der Praxis

Rebekka Wildenmann-Henkel
,
Elisabeth Seitz

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Publication Date:
06 May 2016 (online)

 

Schon allein das Wort „Hausaufgaben" löst bei dem neunjährigen Lukas Stress aus, und er verweigert sich. Seine Ergotherapeutin orientiert sich am Wunstorfer Konzept und vermittelt den stark führenden Eltern: Weniger ist manchmal mehr. Mit Erfolg.


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Rebekka Wildenmann-Henkel und Elisabeth Seitz

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Rebekka Wildenmann-Henkel (rechts), Ergotherapeutin seit 1994 und Kunsttherapeutin. Seit 8 Jahren in eigener Praxis in Osnabrück mit den Schwerpunkten Pädiatrie, Psychosomatik und Biofeedback. Klientenzentrierung ist ihr in allen Fachbereichen wichtig. Ebenso die Weiterentwicklung der Ergotherapie, die ihrer Meinung nach nur durch evidenzbasiertes, strukturiertes und alltagsorientiertes Arbeiten möglich ist. Elisabeth Seitz (links), Ergotherapeutin seit 2014 und Mitarbeiterin in der Praxis Wildenmann-Henkel. Spezialisiert hat sie sich auf Pädiatrie und Neurofeedback.

Weniger ist manchmal mehr – zu diesem Ergebnis kommt eine Längsschnittstudie bei Schweizer Sechstklässlern über elterliches Engagement bei Hausaufgaben [1, 2]. Laut einer Pressemitteilung der Universität Tübingen erweist „es sich als besonders günstig für den Lernfortschritt der Kinder, wenn Eltern sich wenig einmischten, aber dennoch zur Unterstützung des Lernprozesses zur Verfügung standen“. Oft ist leider das Gegenteil der Fall: Viele Eltern mischen sich zu stark in die Hausaufgaben ein und erzeugen dadurch ein Kontrollgefühl bei den Kindern. Dadurch entstehen Fronten, oder sie verhärten sich sogar. Wie man eine solch verfahrene Situation wieder auflösen kann, zeigt die geglückte Umsetzung des Wunstorfer Konzeptes nach Britta Winter bei Lukas[ * ] [3]

Zu viele Hausaufgaben und zu wenig Anerkennung

Lukas ist neun Jahre alt und besucht die vierte Klasse. Die Empfehlung für die weiterführende Schule steht an. Von Seiten der Schule ist Lukas durch ein hohes Hausaufgabenpensum und strengere Benotung wachsendem Druck ausgesetzt. Zudem findet er, dass er zu wenig Anerkennung von der Lehrerin bekommt. In der Familie ist das Thema Hausaufgaben stark belastet. Schon allein das Wort löst bei Lukas Verweigerungshaltungen und bei den Eltern Anspannung aus. Es folgen Diskussionen und Streit. Ein Fall für die Ergotherapie.

Die behandelnde Ergotherapeutin arbeitet bei Lukas nach dem Wunstorfer Konzept, einem klientenzentrierten, betätigungsorientierten und alltagsnahen Therapiekonzept. Es kombiniert moderne ergotherapeutische Modelle wie das CMOP-E mit evidenzbasierten Interventionen wie dem CO-OP. Anhand des COPM und im Sinne des Top-down-Ansatzes benennt, gewichtet und bewertet der Klient selbst die für ihn bedeutsamen Betätigungen. Darauf aufbauend erfolgen Betätigungsanalyse und Formulierung der Therapieziele.

Die gemeinsame Zielformulierung fördert die aktive Mitarbeit aller Parteien und erhöht die Zufriedenheit


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Unterschiedliche Erwartungen klären

Die Erstgespräche finden zunächst getrennt für Eltern und Kind statt. Für Lukas nutzt die Ergotherapeutin das COPMa-kids sowie den Selbsteinschätzungsbogen Child Occupational Self Assessment (COSA). Durch die Trennung werden die unterschiedlichen Erwartungen und Unterschiede in der Bewertung zwischen Eltern und Kind deutlich. Als sehr wichtig (7-10) formulieren die Eltern im COPM:

  • → Lukas nimmt eine Verweigerungshaltung bei Hausaufgaben ein.

  • → Das harmonische Miteinander ist sehr belastet.

  • → Lukas hat Versagensängste und wenig Selbstvertrauen in seine Fähigkeiten. Vor Schulbeginn klagt er oft über Bauchschmerzen, leidet unter Erschöpfung, Lustlosigkeit und Müdigkeit.

Lukas hingegen äußert:

  • → Papa gibt mir zu viele Zusatzaufgaben, und ich habe keine Zeit mehr für meinen Freund.

  • → Ich möchte bei den Hausaufgaben häufiger eine Pause machen. Die Performance der daraus abgeleiteten Betätigungsprobleme liegt für Lukas und seine Eltern bei 3-5, die Zufriedenheit bei 1-3.


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Ziele gemeinsam festlegen

Gemeinsam mit dem Jungen und seinen Eltern formuliert die Ergotherapeutin drei Ziele für die nächsten 30 Einheiten. Lukas benennt das erste Therapieziel, die Eltern das zweite und die Therapeutin das dritte. Das fördert eine aktive Mitarbeit aller Parteien und führt in der Regel zu einer größeren Zufriedenheit im Therapieprozess:

  1. Lukas besucht mindestens einmal pro Woche seinen Freund, und sein Vater gibt ihm keine Zusatzaufgaben mehr.

  2. Lukas arbeitet bei den Hausaufgaben gut mit und bleibt bei der Aufgabe, bis diese vollständig zu Ende geführt ist.

  3. Lukas führt Aufgaben selbstständig durch und kontrolliert sie eigenständig anhand einer Checkliste.


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Konflikte analysieren

Eine Videoanalyse deckt weitere wesentliche Faktoren der Konfliktsituation auf und dient bei Lukas dazu, die aufgestellten Ziele zu verdeutlichen: Die Ergotherapeutin filmt, wie Lukas und sein Vater eine Hausaufgabensituation in der Praxis durchspielen. Nach der Analyse führt die Therapeutin dem Vater die Sequenz vor, um ihm sein Verhalten und die daraus resultierenden Reaktionen zu verdeutlichen: Der Vater legt ein stark führendes und forderndes Verhalten an den Tag, das Tempo und Struktur der Hausaufgabenbearbeitung vorgibt. Lukas wird dadurch in eine Passivhaltung gedrängt, die alsbald in eine Totalverweigerung mündet. Deutlich wird das sowohl durch Äußerlichkeiten – er setzt eine Kapuze auf – als auch durch Ausbrüche totaler Resignation: „Ich mach's eh wieder falsch!“


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Alle ins Boot holen

Während der folgenden Therapiesitzungen sind ein oder beide Elternteile als stille Beobachter dabei und erhalten so „nebenbei“ Anregungen und Strategien, wie sie ihr Kind besser unterstützen und ihm helfen können. Daneben betont diese Art der Therapieführung die gemeinsame familiäre Verantwortung und hilft bei der Generalisierung, also der Umsetzung der erlernten Strategien in das alltägliche Umfeld.

Der Therapieablauf erfolgt stets ritualisiert. Dadurch werden die Einheiten für das Kind vorhersehbar und geben ihm Sicherheit. Zudem tragen die Rituale dazu bei, das Erregungsniveau zu regulieren und so die Lern- und Handlungsvoraussetzungen des Kindes zu verbessern. Die Therapie mit Lukas umfasst folgende Rituale:

  1. Klatschritual zur Begrüßung (ABB. 1)

  2. Zentrierungsübung, um die Konzentration auf den eigenen Körper zu lenken (ABB. 2)

  3. Wiederholung der Regeln für die Therapiestunde

  4. Alltagscheck: Reflexion über den Alltag und die bisher erarbeiteten Strategien und Tricks

  5. Trainingsphase: Anpassung/Erarbeitung neuer Strategien/Tricks

  6. Reflexionsphase: Feedback zur Therapiestunde und die Einhaltung der Regeln, Fortschritte betonen und das Übungsprogramm für die kommende Woche wiederholen

  7. Elterngespräch: mit einem Selbstreflexionsbogen ermitteln, inwieweit die Umsetzung einer Strategie geklappt hat

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ABB. 1 Das Klatschritual zur Begrüßung heißt „Jetzt geht's los“.
Abb.: R. Wildenmann-Henkel
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ABB. 2 Sich ganz auf den Körper konzentrieren, gelingt mit dieser Übung.
Abb.: R. Wildenmann-Henkel

Die Reflexionen unterstützen die Generalisierung nachhaltig, da sie die Prozesse für den Klienten transparent machen. Die Therapiesitzung wird durch die gemeinsame Dokumentation abgerundet, die den Klienten aktiv am Behandlungsprozess beteiligt und dessen Kooperation positiv beeinflusst. Therapeutin und Klient blicken dann gemeinsam zurück auf die Einheit, fassen zusammen, welches Ziel sie verfolgt und erreicht haben, und formulieren die Hausaufgaben.


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Intervention gespickt mit Tricks

Das Wunstorfer Basistraining dient der Erarbeitung sogenannter Tricks, die das Kind dabei unterstützen, seine Therapieziele zu erreichen. Es eignet sich für Kinder von 6-14 Jahren und enthält Strategien zur Verbesserung von Aufmerksamkeitsleistungen, Selbstregulation und Handlungssteuerung. Das Ziel: im Alltag besser teilhaben können. Bei Lukas kommen folgende Tricks zum Einsatz:

Eltern und Kind tragen die Verantwortung für einen erfolgreichen Transfer in den Alltag.

  • → Punktepläne und Regeln, zum Beispiel „Lukas bleibt an seinem Schreibtisch sitzen, bis die Aufgabe zu Ende ist“. Diese Regeln sind für Lukas und seinen Vater irgendwo sichtbar angebracht, damit sich jeder an die Absprachen erinnern kann. Nach der Hausaufgabenzeit bekommt Lukas für jede eingehaltene Regel einen Belohnungspunkt. Positives Verhalten wird somit gestärkt und negative Erlebnisse der Vergangenheit werden abgelöst.

  • → Checklisten oder Arbeitsschrittkarten, die eine Handlung in kleine Schritte unterteilen. Lukas listet beispielsweise auf, welche Schritte nötig sind, um eine Aufgabe sorgfältig und selbstständig zu kontrollieren. Ob er also eine Aufgabe noch einmal durchgelesen und die Fehler leserlich korrigiert hat, kann er als erledigt abhaken. Das macht ihn strukturierter, unabhängiger und nimmt ihm die Angst vor Fehlern.

  • → Signalkarten helfen, eine Aufgabe konzentriert von Anfang bis Ende zu bearbeiten, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und Störreize auszublenden (ABB. 3, S. 30). Die Symbole Auge, Ohr oder Hand erinnern das Kind an Verhaltensregeln, die für eine Aufmerksamkeit wichtig sind. Das Auge bedeutet zum Beispiel „Ich sehe gut hin“, das Ohr steht für „Ich höre gut zu“ und die Hand heißt „Stopp, ich lasse mich nicht ablenken“. Bezugspersonen können das Kind bei Nichteinhaltung der Regeln auf die jeweilige Regel hinweisen, indem sie die Bedeutung der Symbole wiederholen und gleichzeitig an den Nutzen der Regeln erinnern. In Kombination mit einem Punktesystem kann man die Motivation durch Lob oder Punktabzüge weiter erhöhen.

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ABB. 3 Die Signalkarten für Auge, Ohr und Hand erinnern an Regeln wie „Ich höre gut zu“.
Abb.: R. Wildenmann-Henkel

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Alle sind gefragt

Eltern und Kind tragen die Verantwortung für einen Transfer in den Alltag. Im konkreten Fall setzen sie die in der Therapie erarbeiteten Regelpläne und Checklisten zu Hause ein Anhand eines Systems kann Lukas Punkte sammeln, die später gegen ein gesetztes Ziel oder einen Wunsch eingetauscht werden können. Für 20 Punkte darf er zum Beispiel mit seinem Vater Eis essen gehen.


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Situation heute

Nach 14 Therapieeinheiten liefert eine erneute Befragung deutliche Verbesserungen: Die Performance liegt bei 7, die Zufriedenheit ebenfalls. Lukas zeigt dank des Punkte-/Regel- plans deutlich seltener Verweigerungsverhalten. Die Tricks im Alltag muss er noch generalisieren. Er besucht regelmäßig seinen Freund und hat lediglich hin und wieder vor Klassenarbeiten Bauchschmerzen. Zudem ist das Miteinander in der Familie harmonischer geworden. Die Hausaufgabensituation hat sich entspannt, und die Familienmitglieder nehmen mehr Rücksicht aufeinander.

Das Wunstorfer Konzept ist durch seinen klientenzentrierten und betätigungsorientierten Ansatz sehr alltagsnah. Dies trägt wesentlich zur Motivation der Klienten und aufgrund vergleichsweise kurzer Behandlungszeiten auch zur Verschreibungsmotivation der Ärzte bei. Diese schätzen die planbare Behandlungsdauer, die Einbindung aller Beteiligten und den evidenzbasierten Therapieansatz. Das Trick-Training stellt eine umfangreiche Materialsammlung bereit, die auf sensomotorisch-perzeptiven, kognitiven sowie lern- und verhaltenstheoretischen Strategien basiert und differenzierte, flexible Therapien ermöglicht.


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* Name von der Redaktion geändert




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Rebekka Wildenmann-Henkel (rechts), Ergotherapeutin seit 1994 und Kunsttherapeutin. Seit 8 Jahren in eigener Praxis in Osnabrück mit den Schwerpunkten Pädiatrie, Psychosomatik und Biofeedback. Klientenzentrierung ist ihr in allen Fachbereichen wichtig. Ebenso die Weiterentwicklung der Ergotherapie, die ihrer Meinung nach nur durch evidenzbasiertes, strukturiertes und alltagsorientiertes Arbeiten möglich ist. Elisabeth Seitz (links), Ergotherapeutin seit 2014 und Mitarbeiterin in der Praxis Wildenmann-Henkel. Spezialisiert hat sie sich auf Pädiatrie und Neurofeedback.
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ABB. 1 Das Klatschritual zur Begrüßung heißt „Jetzt geht's los“.
Abb.: R. Wildenmann-Henkel
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ABB. 2 Sich ganz auf den Körper konzentrieren, gelingt mit dieser Übung.
Abb.: R. Wildenmann-Henkel
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ABB. 3 Die Signalkarten für Auge, Ohr und Hand erinnern an Regeln wie „Ich höre gut zu“.
Abb.: R. Wildenmann-Henkel