physiopraxis 2016; 14(05): 46-47
DOI: 10.1055/s-0042-104913
therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Chronifizierungsrisiko bei Rückenschmerzen einschätzen – STarT Back Tool

Hannu Luomajoki

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Publikationsdatum:
20. Mai 2016 (online)

 

Das STarT Back Tool ist ein einfacher und validierter Fragebogen, der das Chronifizierungsrisiko von Patienten mit Rückenschmerzen einschätzt. Das Tool teilt die Patienten in drei Risikogruppen ein und hilft Therapeuten bei der Entscheidung, welche Maßnahmen sie in der Therapie planen.


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Hannu Luomajoki

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Prof. Dr. Hannu Luomajoki ist Dipl.-Physiotherapeut (OMT) und leitet den Masterstudiengang Muskuloskelettale Physiotherapie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW in Winterthur, Schweiz. Er ist in der Schweizer Interessengemeinschaft Physiotherapie Rehabilitation (IGPTR) aktiv, die sich für die Verbreitung physiotherapeutischer Assessments starkmacht.

Rückenschmerzen kommen zwar häufig vor, doch meist verschwinden sie innerhalb von zwei bis vier Wochen wieder – unabhängig davon, ob Therapie gemacht wurde oder nicht. Das große Problem ist jedoch das Chronifizierungsrisiko: Zehn Prozent der Patienten entwickeln chronische Rückenschmerzen und verursachen 90 Prozent der Kosten, die bei Rückenschmerzen anfallen [1]. Nach heutigem Wissensstand sind vor allem psychosoziale Faktoren maßgeblich an der Chronifizierung beteiligt. Dazu zählen unter anderem das Angstvermeidungsverhalten, das Katastrophisieren sowie Depressionen. Da chronische Rückenschmerzen die Gesundheitssysteme der westlichen Welt am meisten finanziell belasten [1], ist es entscheidend, wie man Patienten mit hohem Chronifizierungsrisiko früh identifizieren kann.

Patienten mit Rückenschmerzen und einem hohen Chronifizierungsrisiko müssen frühzeitig identifiziert werden.

Die Anamnese ist eine Möglichkeit, die psychosozialen Faktoren aufzudecken. Ein validiertes Assessment wäre der Örebro Musculoskeletal Pain Questionnaire (ÖMPQ). Er besteht aber aus 50 Fragen mit einem relativ komplexen Ratingsystem und ist daher vielen Therapeuten im Praxisalltag zu zeitaufwendig und umständlich.

Der Punktescore zeigt das Chronifizierungsrisiko an

Alternativ lassen sich die Risikofaktoren für eine Chronifizierung von Rückenschmerzen mit dem STarT (Subgroups for Targeted Treatment) Back Tool erfassen. Das SBT ist ein einfaches, schnelles Assessment, das bereits in zwölf Sprachen validiert ist – seit 2015 auch in der deutschen Version [4, 5]. Eine englische Forschergruppe um Jonathan C. Hill an der Keele University in Großbritannien hat es im Rahmen einer Studie mit 850 Patienten mit Rückenschmerzen entwickelt [6]. Das SBT besteht aus neun Aussagen, denen der Patient zustimmt oder widerspricht. Stimmt der Patient allen Aussagen zu, erreicht er neun Punkte, was dem höchsten Chronifizierungsrisiko entspricht.

Die ersten vier Aussagen beziehen sich auf die Rückenschmerzen und fragen ab, wie sehr sich der Patient durch sie im Alltag behindert fühlt. Eine Aussage lautet beispielsweise: „Während der vergangenen zwei Wochen habe ich mich wegen der Rückenschmerzen langsamer als üblich angezogen.“ Die restlichen fünf Aussagen klären das Angstvermeidungsverhalten, die mögliche Katastrophisierung und eventuelle Depressionen über Aussagen wie „Im Allgemeinen hatte ich keine Freude an den Dingen, die ich sonst gerne mache“. Bei der neunten Aussage: „Insgesamt, wie störend waren Ihre Rückenschmerzen in den vergangenen zwei Wochen?“, gibt der Patient „überhaupt nicht“, „wenig“, „mäßig“, „stark“ oder „äußerst stark“ an. Für eine der ersten drei Antworten erhält er keinen Punkt. Einen Punkt bekommt der Patient, wenn er eine der beiden letztgenannten Antwortoptionen ankreuzt.

Hat der Patient das SBT ausgefüllt, zählt der Therapeut die Punkte zusammen und ordnet den Patienten einer der drei Risikogruppen zu (SBT SCORING SYSTEM.).


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Behandlung nach dem SBT orientiert sich an Risikogruppe

Anhand des Chronifizierungsrisikos kann der Therapeut die Behandlung planen. Bei Patienten mit niedrigem Risiko empfehlen Hill und Kollegen, dass der Therapeut sie physisch untersucht, die Befunde erklärt und sie beruhigt [2]. Zudem soll er sie darüber informieren, dass der Rückenschmerz nichts Schlimmes ist, und ihnen empfehlen, den Alltag normal zu bewältigen und aktiv zu bleiben. Für eine schnelle Besserung genügt laut der Studie bei dieser Patientengruppe eventuell eine einmalige Beratung. Bei den Patienten mit mittlerem Risiko ist laut Hill und Kollegen hingegen eine Serie von bis zu sechs Mal evidenzbasierter Physiotherapie vorgesehen. Diese kann Manuelle Therapie, Übungen und individuelle Beratung beinhalten. Ziel ist es, dass der Patient Selbstmanagementstrategien erlernt. Bei Patienten mit hohem Risiko ist intensive Physiotherapie, die sich an verhaltenstherapeutischen Prinzipien und Techniken orientiert, nötig. Hill und Kollegen empfehlen eine psychologische Unterstützung.

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SBT Scoring System: Erreichen Patienten ≤ 3 Punkte, haben sie ein geringes Chronifizierungsrisiko. Bei ≥ 4 Punkten zählt der Therapeut das Ergebnis der Fragen 5 bis 9 zusammen. Erreichen die Patienten hierbei ≤ 3 Punkte, besteht ein mittleres Risiko, bei ≥ 4 Punkten ein hohes.
Abb.: Keele University, funded by Arthritis Research UK

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Behinderung im Alltag nimmt durch das SBT ab

Bei der Studie von Hill und seiner Gruppe bekamen die Patienten entweder eine auf ihr Chronifizierungsrisiko abgestimmte Therapie oder eine herkömmliche Behandlung, die Manuelle Therapie und Übungen, aber keine speziellen verhaltenstherapeutischen Maßnahmen enthielt [2]. Die Patienten, bei denen sich die Behandlung nach dem SBT richtete, verbesserten sich nach einem Jahr signifikant in Bezug auf ihre Behinderung im Alltag. Sie hatten sich im Roland and Morris Disability Questionnaire (PHYSIOPRAXIS 7-8/08) nach einem Jahr im Schnitt um 4,3 Punkte verbessert, während die Patienten, welche die herkömmliche Behandlung erhielten, nur um 3,3 Punkte besser wurden. Die Kosten, die beispielsweise durch die Behandlung und krankheitsbedingten Fehltage am Arbeitsplatz entstanden, waren bei der SBT-Gruppe zudem zwölf Prozent geringer. Eine weitere Studie hat den positiven Effekt der Behandlung nach dem SBT untermauert [3]. Die klinische Erfahrung zeigt, dass die Ergebnisse des SBT und des ÖMPQ eine hohe Korrelation aufweisen. Da das SBT jedoch deutlich schneller geht, bietet er sich sehr viel eher für den Einsatz in der Praxis an.


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Jeder Patient erhält so viel Therapie wie nötig

Das SBT eignet sich für die primäre Versorgung von Patienten mit Rückenschmerzen. Da die Patienten im deutschsprachigen Raum oft zuerst zum Arzt gehen, müsste bereits dieser das Tool einsetzen, um das Chronifizierungsrisiko festzustellen und die Behandlung optimal zu planen. Spätestens in der Physiotherapie sollte das SBT zum Einsatz kommen.

Eine logische, wünschenswerte Folge aus der Risikobewertung mit dem SBT wäre eine Umverteilung der Therapiekapazität: Viele Patienten mit Rückenschmerzen würden durch das SBT vermutlich deutlich weniger Therapie erhalten. So wären auf der anderen Seite Kapazitäten für die Patienten mit hohem Risiko frei, die intensive Betreuung und Physiotherapie benötigen. Da diese Patienten von einer multidisziplinären Behandlung profitieren, ist es wichtig, dass der Therapeut beispielsweise mit Ärzten und Psychologen vernetzt ist, um die Patienten gegebenenfalls weiterleiten zu können.

Das SBT lässt sich einfach und schnell in der Behandlung anwenden. Wichtig ist aber, das Ergebnis im Kontext der Anamnese und eigenen Erfahrung zu sehen, um nicht blind dem Assessment zu folgen.

Das kostenlose Tool verlangt kein spezielles Training. Doch es empfiehlt sich, sich vor dessen Anwendung detailliert damit auseinanderzusetzen. Eine gute Möglichkeit hierfür bietet die Internetseite des SBT (www.keele.ac.uk/sbst/startbacktool). Hier findet sich unter „Translation“ auch die deutsche Version. Eine internationale Forschergruppe hat die validierte deutsche Übersetzung publiziert [4, 5]. Die Reliabilität ist angemessen, der Kappa-Wert liegt bei 0,7 [5]. Werte zwischen 0,41 und 0,60 gelten als „mittelmäßige Übereinstimmung“, Werte zwischen 0,61 und 0,80 als „beachtliche Übereinstimmung“. So eignet sich auch die deutsche Version, um psychosozial besonders belastete Patienten zu identifizieren und in der Therapie gezielt zu begleiten.


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SBT Scoring System: Erreichen Patienten ≤ 3 Punkte, haben sie ein geringes Chronifizierungsrisiko. Bei ≥ 4 Punkten zählt der Therapeut das Ergebnis der Fragen 5 bis 9 zusammen. Erreichen die Patienten hierbei ≤ 3 Punkte, besteht ein mittleres Risiko, bei ≥ 4 Punkten ein hohes.
Abb.: Keele University, funded by Arthritis Research UK