Hintergrund
Stellenwert deutender Techniken Deutende Therapietechniken sind ein wichtiger Bestandteil der psychodynamischen Psychotherapieverfahren
(tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und analytische Psychotherapie). Irrtümlich
wird hieraus oft geschlossen, dass sie auch die häufigste psychodynamische Intervention
darstellen. Im therapeutischen Alltag sind jedoch klärende, reflektierende, bestätigende,
konfrontierende und viele andere Interventionen eher die Regel. In diesem Sinn wurde
„Einsicht“ als zentrales Element der therapeutischen Wirkung inzwischen durch weitere
Wirkaspekte wie die „korrigierende Erfahrung“ oder schlicht das Erleben von Unterstützung
ergänzt.
Was ist Deutung? Deuten im engeren Sinne heißt, den vermuteten, meist unbewussten Sinn, die Quelle
und die Vorgeschichte eines bestimmten problematischen Erlebens und Verhaltens bewusst
zu machen und dadurch die Art und Weise und die Ursachen dieses Erlebens und Verhaltens
aufzuklären. Aus diesem Gedanken entstanden im Laufe der Zeit bestimmte Deutungsfoki
(z. B. Widerstandsdeutung in Bezug auf zentrale Veränderungsängste; Deutungen in Bezug
auf unbewusste pathogene Überzeugungen usw.). Eine besondere Rolle spielen dabei immer
schon Deutungen, die sich auf Aspekte der therapeutischen Beziehung richten, also
Übertragungsdeutungen.
Was ist Übertragung? Aus psychodynamischer Sicht steht ein Patient seinem Therapeuten oft so nahe wie
in der Kindheit seinen Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen. Daraus ergibt
sich, dass sich in der therapeutischen Beziehung beim Patienten Erwartungen, Wünsche,
Vorstellungen und Gefühle einstellen, die auch sonst in seinem Leben – vor dem Hintergrund
prägender Primärbeziehungen – eine Rolle spielen. Dieses Phänomen wird als Übertragung
bezeichnet. Ausmaß und Intensität der Übertragung werden u. a. durch das Setting
beeinflusst: Je höher die Frequenz der Sitzungen und je weitergehend die persönliche
Zurückhaltung des Therapeuten, desto stärker soll sich eine Übertragung entwickeln.
Die Entwicklung einer Übertragung ist natürlicher Bestandteil therapeutischer Beziehungen
und insofern Voraussetzung für einen Deutungsprozess.
Im Ergründen der Übertragung können also unbewusste Motive, die z. B. mit Symptombildungen
oder schwierigen Beziehungsmustern zusammenhängen, besser verstanden werden. Diese
können im Idealfall im Deutungsprozess im Sinne einer Problemaktualisierung geklärt
und aufgelöst werden.
Der Prozess der Übertragungsdeutung
Welche Übertragungen sollten thematisiert werden? Meist wird vorgeschlagen, dass Übertragungen in psychodynamischen Therapien nur dann
explizit thematisiert werden sollten, wenn sie störend, z. B. negativ oder stark verzerrend
erscheinen. Die „mild unanstößige positive Übertragung“ (Freud) selbst gilt eher als
Voraussetzung für eine gelingende Therapie und wird deshalb meist nicht thematisiert.
Oft sind aber die Inszenierungen (Enactments) komplexer innerer Fantasiewelten im
Kontakt mit den Therapeuten so bedeutsam, dass schwierige therapeutische Beziehungsaspekte
früher oder später in allen Therapien relevant werden – nicht nur in psychodynamischen.
Übertragungsdeutungen im Therapiealltag Im Grunde enthalten Therapeutenäußerungen zur therapeutischen Beziehung immer Elemente
von Übertragungsdeutungen:
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Am Anfang der Arbeit mit der Übertragung können z. B. Mutmaßungen über abgewehrte
Befürchtungen oder Wünsche stehen („Sie fürchten, dass ich etwas ganz bestimmtes
von Ihnen erwarte und versuchen deshalb, möglichst nur gut Durchdachtes zu berichten“).
So kann zunächst deutlich werden, dass Abwehrprozesse in Gang sind, die es zu klären
und zu verstehen gilt. Das Augenmerk richtet sich damit zunächst auf die Frage: Wie
und was vermeidet ein Patient (auch in der therapeutischen Beziehung)?
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Selbstverständlich kann es auch auf der anderen Seite wichtig sein, positive Aspekte
wunschgeprägter Übertragung zu erarbeiten, z. B. im Sinne der sicheren und hilfreichen
Bindung an Therapeuten („Es tut Ihnen gut, hier nicht kritisiert zu werden, das ist
etwas, das Sie sich sicherer fühlen lässt“).
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Weitere Möglichkeiten, mit Aspekten der therapeutischen Beziehung zu arbeiten, sind
z. B. die genaue Klärung von Affekten der Patienten und deren Kausalität im Kontakt
(„Als ich dies so gesagt habe, hatte ich den Eindruck, dass Sie sich ärgern …“).
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Ein weiterer Schritt ist die Mentalisierung des Erlebens des Therapeuten („Was hatten
Sie gedacht, wie es mir damit gehen würde?“)
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und die Thematisierung von Ambivalenzen („Sie sind hin und her gerissen, ob Sie mir
mehr davon erzählen sollen, weil Sie fürchten, dann verwende ich das gegen Sie.“).
Die klassische Übertragungsdeutung besteht darin, für Patienten einen emotional erlebbaren
Bezug herzustellen zwischen einer aktuellen Konfliktsituation, einer biografisch früheren
Konfliktkonstellation und Elementen der aktuellen Übertragungssituation. Damit werden
diese, sozusagen in einem „Dreiklang“, in eine plausible und für den Patienten direkt
erlebbare Beziehung gesetzt. Diese ideale Konstellation hat u. E. einen wichtigen
klinischen Wert.
Arbeit „in“ und „an“ der Übertragung
Unterscheidung nach Körner Eine interessante Begriffsklärung nahm vor einigen Jahren Jürgen Körner vor, der
zwischen der therapeutischen Arbeit „an“ und „in“ der Übertragung unterschied (aktualisierte
Diskussion bei [Körner 2014]):
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„An“ der Übertragung meint hier v. a. ein (traditionelles?) Vorgehen, bei dem am Ende
dem Patienten mithilfe des beobachtenden Therapeuten die Unangemessenheit seiner
„falschen“ Verknüpfungen“ deutlich wird („Sie erleben mich jetzt wie Ihren Vater,
und genauso wie bei ihm wehren Sie sich auch gegen meine Vorschläge“).
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„In“ der Übertragung zu arbeiten bedeutet für Therapeuten, die Beobachtungsposition
zu verlassen und zugewiesene Rollen teilweise zu übernehmen, um dann mit dem Patienten
die gemeinsamen Anteile an der schwierigen Interaktion (also auch Elemente der Gegenübertragung)
zu verstehen („Einerseits haben Sie Recht, wenn Sie bei mir Ärger bemerkt haben, andererseits
wäre es gut, zu schauen, was da vorher zwischen uns geschehen ist und wie es hätte
anders laufen können“).
Beide Aspekte sind wichtig In seinem Rückblick betont Körner, dass dem Arbeiten „an“ der Übertragung die wichtige
Rolle zukäme, auf den Wiederholungsaspekt eines Verhaltens hinzuweisen. Die Arbeit
„in“ der Übertragung erlaubt u. E. auf der anderen Seite eine stärkere Berücksichtigung
der Patientenwahrnehmung und vermeidet unangemessene Allwissenheit und andere Gefahren
einer zu starken „Expertenhaltung“.
Welche Patienten profitieren von Übertragungsarbeit?
In der traditionellen Literatur wurde bisher davon ausgegangen, dass Übertragungsarbeit
v. a. für Patienten mit höherem Strukturniveau geeignet ist. Neuere Forschungen haben
aber ergeben, dass – im Gegenteil – neurotische Patienten auf Übertragungsdeutungen
tendenziell aversiv reagieren (vielleicht sind die Übertragungsdeutungen hier aber
auch schon Ausdruck einer misslingenden therapeutischen Beziehung?), während Patienten
mit Strukturschwäche häufig positiv darauf ansprechen – wahrscheinlich im Sinne eines
intensiven interpersonellen Lernens (siehe z. B. Übersicht bei [Høglend 2014]). Dieser scheinbare Widerspruch macht deutlich, dass es vermutlich darauf ankommt,
in welcher Haltung Übertragungsthemen angesprochen werden. Hier ist die Unterscheidung
von konflikt- und strukturbezogenem Herangehen wichtig, die die Voraussetzungen auf
Seiten der Patienten berücksichtigt.