Deutsche Zeitschrift für Onkologie 2016; 48(01): 29-34
DOI: 10.1055/s-0042-103525
Praxis
© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Brustkrebs und Umweltbelastungen: Erkennen, verstehen, vermeiden

Gudrun Kemper
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26 April 2016 (online)

 

Zusammenfassung

Umweltbelastungen als Ursache von Brustkrebs werden bereits seit vielen Jahrzehnten erforscht. Medizin und Gesundheitspolitik sehen bisher Diagnostik und Therapie im Vordergrund. Auswirkungen von Umweltbelastungen, Chemikalien und hier insbesondere hormonell wirksamen Stoffen auf die Krankheitsentstehung finden dagegen wenig Beachtung. Hormonbelastete Ernährung und hormonell wirksame Schadstoffe in der Arbeitswelt begünstigen die Entstehung von Brustkrebs. Bereits die Schwangerschaft wird im Zusammenhang mit der Entstehung als kritisches Zeitfenster gesehen. Die Auswirkungen von Umweltbelastungen auf die Gesundheit von Mädchen werden im Zusammenhang mit weiteren Brustkrebs begünstigenden Faktoren betrachtet. Frauen sind über die Zusammenhänge nicht ausreichend informiert. Um die komplexen Krankheitsursachen zu beeinflussen, wären nicht nur Änderungen in der Chemikaliengesetzgebung erforderlich. Frauen bräuchten konsequentes Engagement medizinischer Fachgesellschaften. Auf gesundheitspolitischer Ebene müsste das Handlungsfeld Vermeidung von Brustkrebs definiert werden.


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Summary

Environmental factors as a cause of breast cancer are already researched for many decades. Medicine and health politics still consider diagnostics and therapy as main focus, whereas in Germany, the impacts of environmental factors, chemicals and especially hormonally active substances on pathogenesis have little attention. Hormone-contaminated diet and hormonally active toxic substances at work places of women contribute to the development of breast cancer. Pregnancy in context with the development of breast cancer is seen as a critical time window yet. The impact of environmental burden on the health of girls is viewed in connection with other breast cancer promoting factors. In Germany, the information for women on the connection between breast cancer and the environment is insufficient. In order to influence the complex causes of breast cancer, not only changes in chemicals legislation are required. Women’s health in Germany needs a more consistent involvement of medical societies to the issue. Health politics has to define the field of action concerning breast cancer prevention clearly.


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Einleitung

Ein Anstieg der Brustkrebsraten wird seit den 1940er-Jahren beobachtet [19]. Für den Anstieg von Brustkrebsdiagnosen mit verantwortlich ist u. a. der verstärkte Einsatz des Mammographie-Screenings [19], aber auch die höhere Lebenserwartung von Frauen heute [6]. Es erkranken zunehmend aber auch jüngere Frauen. Im Umgang mit Brustkrebs in Medizin und Gesundheitspolitik stehen Diagnostik und Therapie ganz im Vordergrund. Prävention, also mögliche Ansätze zur Vermeidung von Brustkrebs hingegen wird vernachlässigt. Dies wird auch damit begründet, dass die Ursache für Brustkrebs nicht geklärt sei [7].

Doch bereits in den 1960er-Jahren gab es Hinweise aus Studien zu Zusammenhängen zwischen Umwelteinflüssen und Brustkrebs [19]. Manchen Umweltbelastungen setzen wir uns freiwillig aus, anderen nicht. Umweltbelastungen ohne Einverständnis sind Unrecht, besonders, wenn sie zu schwerer Krankheit und sogar Tod führen können. Das gilt natürlich auch dann, wenn Betroffene von einer Exposition nichts wissen oder sie nicht spüren.

Obwohl bereits seit vielen Jahrzehnten versucht wird, Brustkrebs wirksam zu bekämpfen, erkranken heute nicht weniger, sondern mehr Frauen an Brustkrebs. Weniger als die Hälfte der Brustkrebserkrankungen kann durch die bisher bekannten Risikofaktoren erklärt werden [16]. Die in Deutschland durchgeführten MARIE-Studien [17] haben bekannte Risiko- und Schutzfaktoren wie Ernährung und Bewegung, Hormoneinnahme, Phytoöstrogene, Strahlung, reproduktive Faktoren, Vitamin D, Biomarker und Rauchen untersucht und sich dabei auch mit möglichen genetischen Unterschieden und ihren Auswirkungen auf Brustkrebs befasst. Im Ergebnis geht man davon aus, dass bei ca. 50 % der Brustkrebserkrankungen ein Zusammenhang mit reproduktiven Faktoren wie z. B. dem Alter bei der ersten Menstruation, der Anzahl der Schwangerschaften usw. besteht [18]. In gewissem Maße schützend zeigten sich, wie bereits in anderen Forschungsarbeiten, eine höhere Anzahl von Geburten, Stillen und körperliche Aktivität ([Tab. 1]). Die Auswirkungen von Umweltbelastungen wurden in den Arbeiten jedoch nicht berücksichtigt.

Tab. 1: Multifaktorielle Entstehung von Brustkrebs.

Einflussfaktoren/Schutzfaktoren

alphabetisch sortiert, ↑bedingt Brustkrebs begünstigende Faktoren, ↓bedingt vor Brustkrebs schützende Faktoren

↑ Adipositas

Bewegung

↑ Alkoholkonsum

Ernährung

↑ Bewegungsmangel

frühe erste Schwangerschaft

↑ Chemikalienbelastung

Schwangerschaften

↑ elektromagnetische Strahlung

Sonnenlicht, Vitamin D

↑ Ernährung

Stillen

↑ Expositionen am Arbeitsplatz

↑ früh einsetzende Pubertät

↑ frühe Menarche

↑ Genmutation

↑ Hormoneinnahme

↑ keine voll ausgetragene Schwangerschaft

↑ medizinische Strahlung durch CT, Röntgen, Mammographie

↑ Nachtarbeit, Nachtlicht

↑ Rauchen

↑ späte Menopause

↑ späte Schwangerschaft

↑ Stress

↑ Strahlentherapie des Oberkörpers

↑ zunehmendes Lebensalter


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Ohne Ursachensuche keine Prävention

Auf der Suche nach den Ursachen von Brustkrebs befassen sich mehrere Forschungs- und Brustkrebsorganisationen in Großbritannien und den USA schwerpunktmäßig mit den Auswirkungen von Umweltbelastungen auf die Krankheitsentstehung. Sie gehen davon aus, dass es vielfältige Zusammenhänge gibt. Der Anstieg der Erkrankungsraten und zunehmende Umweltbelastungen sind parallele Entwicklungen. Eine Vielzahl von Forschungsarbeiten weisen wie in einem Puzzle, das bis heute nicht vollständig zusammengesetzt ist, die Risiken nach.

Die Reduzierung von toxisch wirkenden Umweltbelastungen, insbesondere hormonell wirksamen Chemikalien, steht bei diesen Organisationen ganz oben auf der Liste der Forderungen. Im Oktober 2008 hat der US-amerikanische Kongress das Gesetz zur Erforschung von Brustkrebs und Umwelt verabschiedet [2]. Das Gesetz, das bereits verschiedene Vorläufer hatte, ist nicht zuletzt aufgrund erheblichen Drucks von Seiten der Frauengesundheitsorganisationen entstanden.


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Die Zusammenhänge zwischen Brustkrebs und Umwelt identifizieren

Parallel zum Anstieg der Brustkrebsraten sind Umwelt- und Chemikalienbelastungen kontinuierlich angestiegen. Jedes Jahr kommen unzählige neue Stoffe hinzu, oft ohne dass Grundsätze des vorsorgenden Gesundheitsschutzes Berücksichtigung finden. In der Folge sind Frauen heute Chemikalien ausgesetzt, von denen viele im Verdacht stehen, Brustkrebs zu begünstigen. Wir finden sie in Gegenständen des täglichen Bedarfs, in Nahrungsmitteln und Verpackung, in der Arbeitswelt und im Haushalt, in Natur und Luft. Sie werden auf den Markt gebracht, vielfach ohne Testung auf Unbedenklichkeit für die Gesundheit.

Als Beleg für die Wirkung von Umweltbelastungen werden u. a. Migrationsstudien herangezogen. Die höchsten Brustkrebsraten finden sich in den am meisten industrialisierten Ländern der Erde. Asien und Afrika sind auf dem Wege der Industrialisierung. Die Brustkrebsraten steigen dort inzwischen ebenfalls stark an. Wenn Frauen aus Ländern mit niedriger Brustkrebsinzidenz in Länder mit hoher Inzidenz auswandern, erreichen sie innerhalb einer Generation das höhere Risiko ihres neuen Lebensumfeldes.


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Hormone, Hormontabletten, endokrine Disruptoren (EDCs)

Das Verständnis der Zusammenhänge über die Wirkungsweise von Hormonen führte dazu, künstlich hergestellte Hormone als wichtigsten Umweltfaktor und Ursache für Brustkrebs ins Visier zu nehmen [19]. Hormonell wirksame Chemikalien sind körperfremde Substanzen. Sie sind in der Lage, den Hormonhaushalt von Frauen negativ zu beeinflussen und zu stören. Deswegen werden sie auch als endokrine Disruptoren (EDCs) bezeichnet.

Die Internationale Krebsforschungsbehörde IARC stuft Östrogene, unabhängig davon ob sie synthetisch hergestellt wurden oder natürlich vorkommen, als Karzinogen bei Mensch und Tier ein. Künstlich hergestellte Chemikalien, die in der Umwelt breit verteilt nahezu allgegenwärtig sind, können wie Östrogene wirken und mit den körpereigenen Hormonen interagieren, sie verdrängen und ersetzen. Weil Hormone, insbesondere Östrogene, das Wachstum von Zellen im Brustgewebe stimulieren, wird bereits länger vermutet, dass die Lebenszeitexposition gegenüber Östrogenen ein Indikator für das Brustkrebsrisiko ist [19].

Eine Hormontherapie, hormonell wirksame Verhütungsmittel und verschiedene andere hormonell wirksame Medikamente erhöhen das Brustkrebsrisiko nachweislich. Wie sich hormonelle Einflüsse als Ursache von Brustkrebs bemerkbar machen, zeigen nicht nur die im Jahr 2002 veröffentlichten Ergebnisse der Women’s Health Initiative Study zur Hormonersatztherapie: Unter Einnahme der synthetisch hergestellten Hormone gab es mehr Brustkrebserkrankungen als in der Gruppe der Frauen, die solche Hormone nicht eingenommen hatten.

Als Frauen in den USA, alarmiert von den Studienergebnissen, scharenweise ihre Hormonersatztherapie abbrachen, kam es dort zu dem bis dahin stärksten Abfall der Brustkrebsrate. Es waren nicht Veränderungen bei Diagnostik und Behandlung, sondern das Weglassen einer ärztlich verordneten Therapie, die zu diesem Erfolg führte [15]. Bei uns wird aktuell wieder oft beschwichtigt und auch mehr oder weniger „sanft“ geworben, z. B. wenn es um Hormoneinnahme in den Wechseljahren geht [3].


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Unser hormonbelastetes Obst und Gemüse

Zum Beispiel Ernährung: Bereits die „Mutter der Umweltbewegung“ Rachel Carson beschrieb in den 1950er-Jahren, wie synthetisch hergestellte Chemikalien, die toxisch und/oder hormonell im Körper von Lebewesen wirken und eine Vielzahl von gesundheitlichen Störwirkungen haben, sich im Fettgewebe dauerhaft anreichern und akkumulieren. Hormonelle Schadstoffe gehören nicht in Nahrungsmittel. Deswegen wäre es so wichtig, sich „bio“ ernähren zu können, mit Lebensmitteln aus ökologisch kontrolliertem Landbau, die unbelastet von hormonell wirksamen Chemikalien sind. Pestizide kann man nicht abwaschen.

Von der Frage der Kosten abgesehen: 96,3 % der Produkte unseres Lebensmittelmarktes sind Nicht-Bio-Produkte. Das Wirtschaftswachstum bei dem verbleibenden kleinen Anteil der Bioprodukte liegt, dem gefühlten „Bio-Boom“ zum Trotz, zurzeit bei lediglich 4,8 % [13] ([Abb. 1]). Das heißt: Die meisten Frauen können nicht auf schadstoffärmere Nahrungsmittel ausweichen.

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Abb. 1: Nicht einmal 5 % unserer Lebensmittel stammen aus biologisch kontrolliertem Anbau. Foto: Thieme Verlagsgruppe.

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Hormonell wirksame Schadstoffe am Arbeitsplatz

Chemische Belastungen betreffen Frauen in besonderem Maße. Dies gilt auch für Belastungen am Arbeitsplatz, die Brustkrebs begünstigen können. Die Brustkrebsforschung hinkt in diesem Bereich hinterher. Branchen, in denen es zu einer vermehrten Exposition von hormonell wirksamen Chemikalien kommen kann, sind u. a. Landwirtschaft, Automobilindustrie, Kunststoffherstellung (z. B. auch durch Acryl, Nylon, Rayon), Metallarbeit und Produktion von Lebensmittelkonserven, Lebensmittelverpackung, Textilindustrie, Textilreinigung und Textilhandel, Friseurgewerbe (hier sind Krebsrisiken für unterschiedliche Lokalisationen nachgewiesen, da mit hautdurchgängigen Chemikalien gearbeitet wird, [Abb. 2]), Nagelstudios und Gesundheitsberufe (z. B. durch Anästhetika, Narkosemittel, Zytostatika, Desinfektionsmittel). Als Indikator für ein erhöhtes Krebsrisiko bei Beschäftigten in diesen Industrien werden Chromosomenschäden, die sich bei den weiblichen Beschäftigten vermehrt nachweisen ließen, gesehen.

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Abb. 2: Friseurinnen arbeiten mit hormonell wirksamen Chemikalien. Foto: iStockphoto.

Im Resultat führt die Chemikalienbelastung dazu, dass sich viele dieser krank machenden Substanzen im Körper von Frauen, in der Brust und in der Brustmilch, im Blut, Fettgewebe etc. nachweisen lassen. Auch Laborstudien weisen darauf hin, dass diese Chemikalien die Entstehung von Brustkrebs begünstigen bzw. vorhandene Krebszellen zum Wachsen bringen können [1], [20]. Die Arbeitnehmerkammer Bremen hat eine Berechnung vorgestellt, wonach in Deutschland jährlich rd. 3.400 Brustkrebserkrankungen auf Belastungen am Arbeitsplatz zurückzuführen sein könnten. Frauen mit Brustkrebs werden von ihren behandelnden Ärztinnen und Ärzten zwar zu Lebensstil und Reproduktionsgeschichte befragt, doch Chemikalienbelastungen im Beruf sind meistens kein Thema.

Bisher wird die Krankheit als Berufskrankheit grundsätzlich nicht anerkannt. Frauen mit entsprechenden beruflichen Belastungen sind vor Gericht bisher gescheitert. Ärztinnen und Ärzte sollten mit ihren Patientinnen dennoch gemeinsam prüfen, ob im einzelnen Verdachtsfall an die Berufsgenossenschaft gemeldet wird. Erst wenn Brustkrebs über die Öffnungsklausel (§ 9 Abs. 2 SGB VII) „wie eine Berufskrankheit“ anerkannt wird, besteht die Hoffnung, dass die Behörden aktiv werden.


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Schwangerschaft als Zeit besonderer Verletzlichkeit

Die pränatale Entwicklung ist eine der sensibelsten Phasen für dauerhafte Gesundheitsschäden. Es besteht der begründete Verdacht, dass durch die Exposition des Ungeborenen gegenüber Chemikalien während der Schwangerschaft schwerwiegende Krankheiten, u. a. Brustkrebs, verursacht werden können [5]. Im September 2013 haben deswegen die beiden wichtigsten US-amerikanischen Fachgesellschaften für Gynäkologie und Reproduktionsmedizin (American College of Obstetricians and Gynecologists und American Society for Reproductive Medicine) eine Stellungnahme zur Exposition Schwangerer mit hormonell wirksamen Schadstoffen veröffentlicht. Die Fachgesellschaften warnen darin vor irreversiblen Langzeitschäden. Auch Brustkrebs gehört auf die Liste dieser Langzeitschäden.

Eine Untersuchung der Daten von Schwangeren aus den Jahren 1959 bis 1967, die Mitte Juni 2015 veröffentlicht wurde, zeigt beispielsweise, dass Frauen, die pränatal einer erhöhten Konzentration des Pestizids DDT ausgesetzt waren, im Erwachsenenalter viermal häufiger an Brustkrebs erkrankt sind [4]. Dies ist nur ein Beispiel für die Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen, die in diese Richtung weisen.

Hormonell wirksame Schadstoffe im Alltag begünstigen Brustkrebs. Die Schwangerschaft wird dabei als eines der „kritischen Zeitfenster“ verstanden, in dem es eine besondere Verletzlichkeit gibt. Obwohl Frauen, die eine Schwangerschaft planen, und bereits schwangere Frauen besser informiert werden müssten, fehlt eine entsprechende Initiative der Fachgesellschaften bei uns bisher. Dabei wäre es einfach, zumindest erste Schritte in Angriff zu nehmen und die Frauen selbst besser zu informieren. Gut verständliche Informationsmaterialien zu diesem Themenkomplex stellt Women in Europe for a Common Future bereit. Sie könnten über gynäkologische Praxen breit gestreut werden, um den Wissensstand zu verbessern. Darüber hinaus sind dringend politische Weichenstellungen erforderlich, um Umweltbelastungen abzubauen.


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Mädchengesundheit und Hormone

Der Beginn der Pubertät bei Mädchen beinhaltet die Aktivierung eines Signalwegs, der im Gehirn seinen Anfang nimmt. Die Eierstöcke nehmen ihre Arbeit auf. Die Brustentwicklung (Thelarche) setzt ein. Nach weiteren Signalen folgt schließlich ein bis zwei Jahre später das Einsetzen der Menstruation (Menarche). Um 1860 lag das durchschnittliche Alter bei Menarche in Deutschland bei 16,4 Jahren. Es sank auf 12,2 Jahre im Jahr 1994 und ist seitdem weiter gesunken [12] ([Abb. 3]).

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Abb. 3: Die Pubertät setzt immer früher ein: Ihre erste Menstruation erleben Mädchen bereits mit 12 Jahren. Foto: Image State.

Mädchen kommen heute durchschnittlich früher in die Pubertät. Östrogenartig wirkende Chemikalien werden für das frühe Einsetzen der Pubertät mitverantwortlich gemacht. Durch die früh einsetzende Pubertät verkürzt sich die Zeit der Kindheit, mit vielfältigen Auswirkungen auf die Gesundheit für das gesamte weitere Leben von Mädchen. Es geht dabei nicht nur um Brustkrebs, sondern auch um Allergien, Diabetes, Adipositas, Verhaltensveränderungen, polyzystisches Ovarialsyndrom (PCOS) oder spätere Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Die früh einsetzende Pubertät ist bereits lange als etablierter Risikofaktor für Brustkrebs bekannt. Verfrühte Pubertät steht im Zusammenhang mit erhöhter Östrogenexposition, die für sich genommen ebenfalls das Brustkrebsrisiko erhöht. Höhere Kalorienaufnahme, Bewegungsmangel bei Mädchen und das daraus resultierende höhere Körpergewicht spielen ebenfalls eine Rolle. Durch die früh einsetzende Pubertät und den Umstand, dass die meisten Frauen heute später Mutter werden, verlängert sich der Zeitraum bis zur ersten voll ausgetragenen Schwangerschaft, die schützend wirken könnte. Das Vorhandensein von hormonell wirksamen Chemikalien von der Säuglingszeit an trägt zugleich zur sich im Körper kumulierenden Hormonbelastung während der gesamten Lebenszeit bei.

Bisher nicht geklärt ist, ob es sich bei der Entwicklung zur früh einsetzenden Pubertät um einen sog. nicht beeinflussbaren Risikofaktor handelt oder ob mit Wissensaufbau bei Eltern, Schulen, Behörden etc. und daraus resultierenden Veränderungen der Verhältnisse der Trend zur frühen Pubertät zumindest gestoppt oder wieder umgekehrt werden könnte [21].

Um sich über hormonell wirksame Chemikalien besser informieren zu können, hat das Silent Spring Institute eine Datenbank (Mammary Carcinogens Review Database) aufgebaut, in der 216 Chemikalien nachgewiesen sind. Diese sind bereits in behördlichen Registern verzeichnet, weil sie im Verdacht stehen, Brustkrebs zu verursachen. Diese Chemikalien müssen durch ungefährliche ersetzt werden. Viele der hormonell wirksamen Chemikalien sind jedoch noch gar nicht behördlich erfasst, obwohl die Hinweise, dass auch sie zu einer Erhöhung der Brustkrebsraten beitragen, ernstgenommen werden müssen.


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Komplexität und offene Fragen im Brustkrebspuzzle

Die Vorstellung, dass wir die Ursachen von Brustkrebs nicht kennen, ist einfach zu simpel. Frauen sind vielfältigen Umweltbelastungen ausgesetzt. Mehrfachbelastungen und Interaktionen sowie epigenetische und hormonelle Zusammenhänge haben Auswirkungen auf die Entstehung der Krankheit. Auch wenn es nicht leicht ist, dies zu untersuchen, so ist es doch unverzichtbar, um Risiken in Gänze zu verstehen. Der Effekt von hormonellen Schadstoffen in sehr geringen Mengen („low-dose effect“) kann gravierender sein als bei höherer Dosis. Dies gilt besonders für Organismen, die noch in der Entwicklung sind, wie Ungeborene und Kinder.

Zeitpunkt, Zeitdauer und Art der Exposition spielen eine ebenso große Rolle wie die Dosis. Zellen im Brustgewebe von Frauen sind während ihrer gesamten Entwicklungszeit, beginnend in der frühen Schwangerschaft bis nach dem Ende der ersten voll ausgetragenen Schwangerschaft und dem Ende der ersten Stillzeit, verletzlich gegenüber Krebs verursachenden Effekten von Hormonen, Chemikalien und Strahlung.

Bisher ist es nicht gelungen, eine einzelne, monokausale Ursache für Brustkrebs zu finden. Brustkrebs ist eine komplexe Erkrankung, bei der eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren zum Tragen kommt. Jede Brustkrebserkrankung ist anders, es gibt unterschiedliche Tumortypen, individuelle Risiken und Behandlungsansätze. Anstatt nach einer einzigen Ursache zu suchen, muss eine Reihe von unterschiedlichen, oft interagierenden Faktoren, die das Brustkrebsrisiko beeinflussen, mehr zur Kenntnis genommen werden. Die Ursachen sind wie ein komplexes Netzwerk, in dem die Exposition gegenüber hormonellen Schadstoffen und individuelle genetische Ausprägungen, Ernährung, Lebensstil und Reproduktionsgeschichte zusammenwirken.

Auch wenn für einzelne Belastungen im Alltag und am Arbeitsplatz ihre ungünstige Wirkung bei der Entstehung von Brustkrebs belegt ist, sind weiterhin viele Fragen des Brustkrebspuzzles offen. Die Rolle, die Viren bei der Brustkrebsentstehung spielen könnten, ist nicht abschließend erforscht. Zum Zeitpunkt der Diagnose ist unbekannt, ob die Krankheit behandelt werden muss oder nicht. Wir wissen, dass einige Brustkrebserkrankungen überflüssigerweise behandelt werden. Bisher kann nicht unterschieden werden, welche Frau eine Behandlung braucht und welche überbehandelt wird. Auslassversuche bei invasiven Karzinomen werden allerdings nicht empfohlen.

Wir wissen nicht, ob die Krankheit metastasieren wird oder nicht. Warum wissen wir nicht, was bei Brustkrebs zu Metastasen, dem eigentlichen Problem der Krankheit, führt? Es spricht vieles dafür, dass es die gleichen Belastungen sind, die die Krankheit ausgelöst haben und schließlich wiederum das Fortschreiten begünstigen können. Für die zugrunde liegenden hormonellen Einflüsse scheint dies jedenfalls so zu sein.

Und es gibt weitere Fragen: Warum sind die Erkrankungsraten in verschiedenen Regionen unterschiedlich? Warum können wir die verfügbaren Informationen über das, was Frauen in ihrer Umgebung krank macht, nicht in den richtigen Zusammenhang bringen? Warum fließt nur ein marginaler Anteil der Forschungsmittel in die Erforschung der Ursachen von Brustkrebs? Warum wenden sich Nationaler Krebsplan und gesundheitsziele.de in Deutschland nicht prioritär Prävention zu? Und warum können diese unbeantworteten Fragen nicht geklärt werden?


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Wie kann es weiter gehen? Umweltbelastungen abbauen, Vermeidung priorisieren

Es ist notwendig, sich intensiver mit vielen auf den ersten Blick praktischen Gewohnheiten und Produkten im Alltag von Frauen zu befassen. Der Aufbau von nicht ideologisch beeinflusstem, evidenzbasiertem Wissen ist unverzichtbar, nicht nur für die Wissenschaft, auch für Frauen. Es ist gegenwärtig notwendig, sehr genau hinzuschauen und ggf. einzelne Belastungen, Inhaltsstoffe oder Verpackungsmaterialien zu recherchieren und vorsorglich zu vermeiden, solange die Politik Verbote nicht durchsetzt. Die Chemikaliengesetzgebung ist einer der springenden Punkte, wenn es um den vorsorglichen Abbau von Belastungen geht. Wirksame politische Vertretung von Verbraucherinneninteressen ist hier notwendig.

Ein Gesetz zur Erforschung von Zusammenhängen zwischen Brustkrebs und Umweltbelastungen gibt es, anders als in den USA, bei uns bisher nicht. Im Juni 2015 verabschiedete der Deutsche Bundestag das Präventionsgesetz. Laut Bundesgesundheitsminister Gröhe ist es Ziel des Gesetzes, „Krankheiten zu vermeiden, bevor sie überhaupt entstehen. Deshalb müssen wir die Umgebung, in der wir leben, lernen und arbeiten, so gestalten, dass sie die Gesundheit unterstützt – in der Kita, der Schule, am Arbeitsplatz und im Pflegeheim“ [8].

Ein guter Ansatz, doch bei genauem Hinsehen ist nicht erkennbar, dass sich mit dem Gesetz in der gegenwärtigen Fassung etwas in Sachen Vermeidung von Brustkrebs verbessert. Das Gesetz setzt ganz auf Verhaltensprävention und will „Menschen zu einem gesunden Lebensstil mit ausreichend Bewegung“ bringen [9]. Das wird nicht ausreichen, denn an den Lebensverhältnissen muss sich grundlegender etwas ändern.

Mehr zum Thema

Women in Europe for a Common Future (WECF e.V.) bietet eine Vielzahl von hilfreichen Informationsmaterialien rund um Gesundheit und Chemikalien, Schwangerschaft, Wohnungseinrichtung, Einkauf etc.:

www.wecf.eu

Arbeitspapiere Berufserkrankungen Nr. 3 der Arbeitnehmerkammer Bremen: Arbeits- und berufsbedingte Krebserkrankungen: Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse unter besonderer Berücksichtigung weiblicher Krebsformen. 04/2014. Download:

http://bit.ly/Brustkrebs_Beruf

Silent Spring Institute: Mammary Carcinogens Review Database:

http://sciencereview.silentspring.org/mamm_about.cfm

Janet Gray: State of the Evidence. The Connection between Breast Cancer and the Environment. San Francisco: Breast Cancer Fund; 2010. Download:

http://bit.ly/jangry

Sandra Steingraber: The Falling Age of Puberty in U.S. Girls. What we know, what we need to know. San Francisco: Breast Cancer Fund; 2007. Download:

http://www.breastcancerfund.org/assets/pdfs/publications/falling-ageof-puberty.pdf

Der Gesetzentwurf knüpft in Bezug auf Brustkrebs bei gesundheitsziele.de an. Als Teilziel zu Brustkrebs definiert gesundheitsziele.de seit 2003: „Die Kenntnis über verursachende Faktoren und ihre Zusammenhänge ist verbessert, Versorgungsforschung ist etabliert (Aktionsfeld Forschung).“ Zwar werden ständig neue Forschungsarbeiten veröffentlicht, doch an der Lebenssituation von Frauen hat sich seit 2003 in Sachen Brustkrebsvermeidung nach wie vor nichts zum Besseren hin entwickelt, im Gegenteil. Umweltbelastungen nehmen weiterhin zu. Maßnahmen, Forderungen oder Empfehlungen zur Vermeidung von Brustkrebs wurden bei gesundheitsziele.de bisher nicht entwickelt und entsprechend auch nicht umgesetzt [10]. Das Präventionsgesetz läuft in Sachen Brustkrebs und Primärprävention so zumindest bisher völlig ins Leere.

Der 2008 ins Leben gerufene Nationale Krebsplan in Deutschland wird im Gesundheitsministerium ebenfalls unter der Rubrik Prävention geführt [11]. Doch der Plan hat die Vermeidung von Krebs als Handlungsfeld nicht definiert. Dabei könnte Vermeidung als Handlungsfeld 1 priorisiert werden, noch vor Früherkennung und Behandlung. Vermeidung, auch von Brustkrebs, muss als politische Querschnittsaufgabe verstanden werden [14]. Und Umweltbelastungen müssen dabei im Zusammenhang mit Brustkrebs als mögliche Ziele für Präventionsbemühungen endlich berücksichtigt werden [20].


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Autorenerklärung: Die Autorin erklärt, dass keine finanziellen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen.


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Abb. 1: Nicht einmal 5 % unserer Lebensmittel stammen aus biologisch kontrolliertem Anbau. Foto: Thieme Verlagsgruppe.
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Abb. 2: Friseurinnen arbeiten mit hormonell wirksamen Chemikalien. Foto: iStockphoto.
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Abb. 3: Die Pubertät setzt immer früher ein: Ihre erste Menstruation erleben Mädchen bereits mit 12 Jahren. Foto: Image State.