Psychiatr Prax 2016; 43(02): 69-70
DOI: 10.1055/s-0042-102279
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Öffnen wir die Türen …

Letʼs Open the Doors …
Karl H. Beine
St. Marien-Hospital Hamm, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Lehrstuhl für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Witten/Herdecke
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Prof. Dr. med. Karl H. Beine
St. Marien-Hospital Hamm, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Lehrstuhl für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Witten/Herdecke
Knappenstraße 19
59071 Hamm

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
08. März 2016 (online)

 

Noch sinnfälliger, als in der deutschen Krankenhauspsychiatrie, lässt sich Exklusion kaum praktizieren: Psychisch kranke Menschen, die nach dem Betreuungsrecht oder PsychKG im Krankenhaus untergebracht sind, landen fast ausnahmslos hinter verschlossenen Stationstüren. Und dabei reden wir über eine beeindruckende und ansteigende Anzahl von Einzelschicksalen: Rund 1,2 Mio. Behandlungsepisoden wurden im Jahr 2012 wegen einer psychischen Erkrankung in Deutschlands Kliniken durchgeführt [1]. In ca. 11,3 % der Fälle geschah das zwangsweise mit richterlichem Beschluss [2].

Zwischen 1992 und 2012 sind die Zwangseinweisungen in Deutschland um rund zwei Drittel gestiegen – von 83 235 auf 137 872. In den psychiatrischen Kliniken sind die Abläufe eingespielt: In den meisten Gerichtsbeschlüssen wird die Notwendigkeit einer „geschlossenen Unterbringung“ festgestellt. Und wo sonst sollte man eine geschlossene Unterbringung „vollziehen“ – wenn nicht hinter geschlossenen Türen. Wenig in den Blick gerät dabei, dass die allermeisten Unterbringungsgesetze es längst der Krankenhauspsychiatrie überlassen, mit welchen Mitteln eine gerichtlich angeordnete Unterbringung mit Freiheitsentzug realisiert wird. Der Gesetzgeber schreibt die geschlossenen Stationen jedenfalls nicht vor [3].

Gleichwohl hält die deutsche Krankenhauspsychiatrie an ihrem eingeschliffenen Automatismus fest: Unterbringung gleich geschlossene Station. Und diese geschlossenen Stationen sind in der Regel belegt mit Menschen, die – krankheitsbedingt – wenig Möglichkeiten haben, das Befinden ihrer Mitpatienten zu erkennen oder gar zu berücksichtigen, sondern die eigenen kranken Impulse ausleben. Lautstarke Erregungszustände, Suizidalität, erschreckende Selbstbeschädigungen, krasses Benehmen und fremdaggressives Verhalten sind auf geschlossenen Stationen keine Seltenheit [4]. Daraus lässt sich zwanglos ableiten, dass eine derartige Umgebung von Neuankömmlingen und Besuchern nicht primär als ein Ort empfunden wird, der sich auf Beistand und Helfen spezialisiert hat. Es ist im Gegenteil eine häufige Beobachtung, dass eine derartige Umgebung dazu reizt, auch noch die letzten Hemmungen fallenzulassen. Auslöser von Gewalt sind nicht selten die geschlossene Stationstür selbst und die restriktiv/autoritäre Verweigerung von Wünschen [5].

Überwiegend glauben wir aber dennoch, dass geschlossene Stationen unverzichtbar sind. Am häufigsten ist zu hören, dass geschlossene Stationen das Suizid- und Weglaufrisiko verringern würden. Dabei stützt sich die Praxis der geschlossenen Stationen kaum auf fundierte Erkenntnisse und Erfahrungen. Es gibt für geschlossene Stationen keine Evidenzbasierung [6]. Aber, dass sie funktionieren kann, die Pflichtversorgung mit offenen Türen, das wissen wir seit mehr als 20 Jahren [7]. Leider sind diese Erfahrungen bis heute nicht systematisch evaluiert worden und so ist es bei viel zu wenigen Regionen und Kliniken geblieben, die mit offenen Türen arbeiten [8].

Als psychiatrisch tätiger Arzt werde ich im Jahr 2016 auf 34 Berufsjahre in der (Pflicht-)Versorgungspsychiatrie zurückblicken können: Die ersten 17 Jahre habe ich mit geschlossenen Stationen gearbeitet und danach 17 Jahre mit stets offenen Türen. Es sind die eigenen klinischen Erfahrungen, die meine Überzeugung von der Überlegenheit der Psychiatrie mit offenen Türen haben wachsen lassen. Gestärkt wird diese Position durch einige Untersuchungsergebnisse, die darauf hindeuten, dass eine Psychiatrie mit offenen Türen die überlegene Versorgungsform ist. So untersuchten Lang et al. die Entweichungsrate einer Akutstation an der Berliner Charité. Im Rahmen eines Pilotversuches wurde die gleiche Akutstation über jeweils 6 Monate offen bzw. geschlossen geführt. Während des offenen Halbjahres entwichen deutlich weniger Patienten als im geschlossenen Zeitraum. Die Anzahl der Gewaltzwischenfälle nahm signifikant ab [9]. Anscheinend geschehen die meisten Entweichungen von geschlossenen Stationen im Rahmen genehmigter Ausgänge [10]. Die wenigen vorhandenen Daten stützen nicht die vorwiegend gelebte Praxis der automatisierten Unterbringung von gerichtlich eingewiesenen Patienten auf geschlossenen Stationen.

Grundvoraussetzung für den Therapieerfolg bei psychisch kranken Menschen ist allemal das Vertrauen, das ein Patient in seine Therapeuten hat. Dieser Prozess der Vertrauensbildung, der hängt natürlich auch von der räumlichen Umgebung ab und von Einflüssen wie Lärm, Hektik, Helligkeit, Übersichtlichkeit, Freundlichkeit, Gelassenheit, Ordnung und davon, dass ein Patient Respekt und Wertschätzung in der Begegnung empfindet und dass er ein wirkliches Interesse an seiner Notlage spürt.

Das Szenario einer geschlossenen Station rückt – schon allein durch den Türschluss – den ordnungspolitischen Auftrag der Psychiatrie in den Vordergrund. An dieser dominierenden Ausgangsbedingung ändern auch bauliche Großzügigkeiten, therapeutisch orientierte Teams und erst recht die verschleiernde Rede von den „geschützten Stationen“ wenig. Alle wissen, die Türen sind verriegelt und Patienten ebenso wie Besucher müssen ein- und ausgeschlossen werden. Der mit dem Türschluss besiegelte Entzug der Freiheit für den Patienten und der mit dem Türschloss besiegelte Sicherungsauftrag an die Mitarbeiter prägt die Beziehungen – mit folgenreichen Konsequenzen.

Sobald die Tür ins Schloss gefallen ist, hat ein Mensch nicht nur sein Selbstbestimmungsrecht verloren, sondern die geschlossene Tür lässt ihn spüren, dass ihm nicht mal mehr jemand erklären muss, warum er Rechte verloren hat. Selbst wenn diese Auseinandersetzung tatsächlich stattfindet, muss ein Patient sie zwangsläufig weniger als Hilfsangebot empfinden, wenn sie hinter geschlossenen Stationstüren stattfindet. Für psychisch kranke Menschen, denen aus guten Gründen Grundrechte vorübergehend entzogen werden müssen, vergrößern zusätzliche strukturelle Machtdemonstrationen, z. B. durch den Türschluss, die ohnehin schon vorhandene Verständnislosigkeit, Wut, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Gerade ein untergebrachter Patient ist aber besonders angewiesen auf Hilfe und Ermutigung, auf authentische und tragfähige therapeutische Begegnungen und auf ebenso kompetente wie hartnäckige psychotherapeutische Interventionen, um seine Einsichtsfähigkeit und seine verantwortliche Selbstbestimmung zu stärken.

Als Klinikmitarbeiter werden wir zwangsläufig anders umgehen mit Patienten, die die Klinik nicht verlassen dürfen, wenn für alle Beteiligten klar ist, dass die Tür offen ist. Offene Türen fördern die Bereitschaft, das Weglaufverbot und andere Anforderungen in der kontinuierlichen persönlich/therapeutischen Begegnung zu begründen und durchzusetzen: Notwendige Begrenzungen müssen erklärt und kontinuierlich eingefordert werden. Diese Begründungen und Erklärungen sind bei offenen Türen weitgehend durch die Begegnung, die Diskussion, die Auseinandersetzung und überzeugende Argumente geprägt. Last not least werden die Begründungen anders verstanden, sie belassen untergebrachten Patienten einen größeren Entscheidungsspielraum. Nicht mehr der Patient muss eine einseitige Vorleistung erbringen, damit er die Station verlassen kann, sondern wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen eine therapeutische Leistung erbringen, um den Patienten vom Weglaufen abzuhalten. Der mit der Unterbringung verbundene Freiheitsentzug muss therapeutisch vermittelt werden, wenn alle wissen, dass eine Flucht nicht automatisch an der verschlossenen Tür endet. Diese Art der Begegnung unterscheidet sich erheblich von der Ansage bei geschlossenen Stationstüren: „Sie bleiben jetzt hier.“ Nicht selten ist auf geschlossenen Stationen zu beobachten, dass die Schlüsselgewalt „das Bleiben am Patienten“ und die Auseinandersetzung erschwert. Offene Türen fördern dagegen Qualität und Intensität der Interaktionen zwischen Mitarbeitern und Patienten. Die hoheitliche Attitüde tritt in den Hintergrund zugunsten des Bemühens um eine tragfähige Beziehung zum Patienten. Offene Stationstüren schützen uns Mitarbeiter davor, in unserer Achtsamkeit und in unseren Bemühungen um therapeutische Begegnungen mit den Patienten nachzulassen, weil wir uns auf die verriegelten Türen verlassen. Diese Haltungen und die so gestalteten Interaktionen sind es, die die Atmosphäre und das Klima auf einer Station wesentlich mitbestimmen. Wesentlich mitbestimmt ist damit auch die Vertrauensbildung aufseiten der Patienten. Der glaubwürdig gelebte feste Wille wirklich zu helfen, sich ohne Vorbedingungen auf die Begegnung einzulassen, verringert Feindseligkeit, aggressives Verhalten und Verzweiflung.

Unabhängig vom Setting sind es sicher vorwiegend Menschen mit affektiven Erkrankungen und Schizophrenien, die durch Suizid versterben, die meisten von ihnen außerhalb der Station, während eines Ausgangs [11].

Ein Mensch mit Depressionen ist in einer suizidalen Krise vordringlich darauf angewiesen, dass sich ein kompetenter Arzt oder Therapeut – ohne Zeitdruck – seiner annimmt und den Versuch unternimmt, eine therapeutische Beziehung zu entwickeln. Ein depressiver und suizidaler Mensch ist angewiesen auf Helfer, die seine Verzweiflung erkennen und anerkennen und in der Lage sind, über die therapeutische Beziehung und psychotherapeutische Interventionen Akzeptanz für die Erkrankung und Akzeptanz für die Situation entstehen zu lassen. Dazu sind Ruhe, Kompetenz, Zeit und eine sicherheit- und schutzspendende Atmosphäre notwendig. Erwarten wir eine solche Umgebung wirklich von einer geschlossenen Station? Traurig verzweifelte depressive Menschen, die mit Suizidgedanken und Suizidimpulsen kämpfen, schützen verschlossene Türen nicht – im Gegenteil. Die Gefahr kommt hier von innen und ihr muss begegnet werden in der therapeutischen Auseinandersetzung und durch ununterbrochene persönliche Begleitung. Die abgeschlossene Tür ist dabei eher hinderlich. Der suizidale Mensch wird sie eher als zusätzliche Einengung, als Stigmatisierung und als Ausdruck therapeutischer Resignation empfinden. Die sogenannte Rückverlegung von offenen Spezialstationen – wegen akuter Suizidalität – in geschlossene Einheiten dürfte das Suizidrisiko eher vergrößern denn reduzieren.

Die bisherigen Erfahrungen und der aktuelle Kenntnisstand sprechen dafür, die regelhafte Unterbringungspraxis auf geschlossenen Stationen zu revidieren. Also: Öffnen wir die Türen …


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