ergopraxis 2016; 9(04): 12-13
DOI: 10.1055/s-0042-101519
wissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Die Diagnosenzählerin – Sandra Leineweber

Nora Sieweke

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
08. April 2016 (online)

 

Die zweithäufigste psychische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter ist eine Störung im Sozialverhalten. Sandra Leineweber untersuchte in ihrer Bachelorarbeit, ob sich dieses Verhältnis in den Gruppen des Ergotherapeutischen Sozialkompetenz-Training (EST) niederschlägt bzw. mit welchen Diagnosen die Kinder tatsächlich daran teilnehmen.


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Sandra Leineweber ...

... ist 1992 in Mainz geboren, in einem kleinen Ort namens Uelversheim aufgewachsen und lebt heute in Idstein. Dort studierte sie bis Juli 2015 Ergotherapie und aktuell Therapiewissenschaften im Masterstudiengang an der Hochschule Fresenius. Der Beruf hatte es Sandra Leineweber schon lange zuvor angetan: Als Jugendliche begleitete sie ihre kleine Schwester häufig zur Ergotherapie.

Schon vor Abschluss des Studiums, aber mit Examen in der Tasche begann Sandra Leineweber, in einer ergotherapeutischen Praxis in Niederhausen zu arbeiten, in der sie auch heute noch im Fachbereich Pädiatrie tätig ist. Bereits während des Studiums engagierte sie sich ehrenamtlich für den DVE, zunächst in der BundesSchüler- und -Studierendenvertretung, inzwischen als Schatzmeisterin für die DVE Landesgruppe Hessen. Neben all ihren Projekten hat die Ergotherapeutin auch ihre Work-Life-Balance im Blick: In ihrer Freizeit tanzt sie Zumba, spielt Querflöte in einem kleinen Orchester oder entspannt beim Lesen.

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Abb.:B. Leineweber

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Die Bachelorarbeit

Während eines Praktikums wurde Sandra Leineweber auf das Ergotherapeutische Sozialkompetenz-Training (EST) aufmerksam. Dabei erfuhr sie, wie hilfreich und wirksam dieses Programm für Kinder und deren Eltern sein kann. Das Programm richtet sich unter anderem an Kinder mit einer Störung im Sozialverhalten (SSV). Es dient dazu, die sozialen Kompetenzen von Kindern zu fördern, ihre Einschränkungen zu reduzieren und ihre Lebensqualität zu erhöhen.

Eine SSV ist die zweithäufigste psychische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter. Laut Bundespsychotherapeutenkammer beginnen jedoch nur wenige der Kinder eine ambulante Behandlung wie Ergotherapie. Das bestätigen auch die Entwicklerinnen des EST, Stefanie Otte-Löcker und Berit Menke. Ihrer Erfahrung nach nehmen nur wenige Kinder mit einer diagnostizierten Störung im Sozialverhalten am EST teil. Zudem sei zu beobachten, dass verordnende Ärzte die SSV häufig als „Entwicklungsstörung“ klassifizieren.

Sandra Leineweber überprüfte im Rahmen ihrer Bachelorarbeit den Widerspruch zwischen dem hohen Vorkommen der SSV und den Expertenmeinungen, um diesen Sachverhalt mithilfe von quantitativen Daten wissenschaftlich zu untermauern. Daraus ergaben sich folgende Fragestellungen: Wie hoch ist der Anteil an Kindern mit einer SSV innerhalb des EST? Und wie groß ist der Anteil der am EST teilnehmenden Kinder ohne diagnostizierte SSV, welche die Diagnosekriterien der SSV nach ICD-10 erfüllen?

Für die Datenerhebung verschickte Sandra Leineweber via E-Mail einen Online-Fragebogen an 390 Ergotherapeuten, die das EST 2014 anleiteten. Davon nahmen 32 Personen an der Untersuchung teil. Damit standen der Ergotherapeutin für ihre Bachelorarbeit die Daten von 417 Kindern zur Verfügung, die insgesamt 597 Diagnosen aufwiesen.

Kinder mit Störungen im Sozialverhalten profitieren vom EST.


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Ergebnis

Sandra Leineweber fand heraus, dass entgegen der Experteneinschätzungen die SSV im Jahr 2014 die am häufigsten diagnostizierte Störung bei den von ihr untersuchten EST-Teilnehmern darstellte. Zusammen mit anderen Erkrankungen, die zu den Verhaltensauffälligkeiten gehören, nehmen die SSV (Diagnoseschlüssel F91) somit die deutliche Mehrheit ein. Den zweiten Rang besetzen „andere Entwicklungsstörungen“ (F88), gefolgt von ADHS (F90). Daran schließen sich die „Störung im Kindesalter“ (F93) und die „kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen“ (F92) an.

In der Summe nimmt somit die SSV mit 63,53 % den größten Anteil ein. Dem gegenüber steht die nicht diagnostizierte SSV mit 36,47 %. Dazu zählen Erkrankungen, die den Diagnosekriterien der SSV entsprechen.


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Fazit

  • → Der große Anteil der nicht diagnostizierten SSV bei Erfüllung der Diagnosekriterien ist auf fehlerhafte Einschätzungen der verordnenden Ärzte zurückzuführen, ebenso ist nicht auszuschließen, dass ein Teil der befragten Ergotherapeuten die Diagnosekriterien nicht berücksichtigt haben.

  • → Die Ergebnisse bestätigen die Relevanz der SSV und damit die hohe Bedeutung des EST als therapeutisches Programm.

  • → Sandra Leineweber gibt zu bedenken, dass nur wenige Ergotherapeuten, die 2014 das EST anleiteten, an der Umfrage teilnahmen. Sie empfiehlt daher eine erneute größere Umfrage, um die aktuelle Diagnoseverteilung zu überprüfen.

  • → Da die Veröffentlichung des EST erst wenige Jahre zurückliegt, ist mit einer zunehmenden Bekanntheit und Anwendung zu rechnen.


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Fragen an Sandra Leineweber

Was war Ihre größte Herausforderung während des Studiums?
Studium, Freunde, Familie und meine Hobbys unter einen Hut zu bekommen.

Welche drei Eigenschaften braucht man als „gute“ Ergotherapeutin?
Nur drei? Kommunikationsfähigkeit, Empathie, Kreativität, fundiertes Wissen und natürlich Spaß an der Arbeit.

Wohin würden Sie gerne einmal reisen?
Nach Ägypten! Ich würde unheimlich gerne mal die Pyramiden sehen.

Was sind Ihre Pläne und Wünsche für die Zukunft?
In erster Linie wünsche ich mir, gesund zu bleiben, um meinen Beruf weiterhin ausüben zu können. Außerdem wünsche ich mir noch viele eindrucksvolle Momente mit meinen Klienten in der Praxis und dass ich mir noch einiges an Wissen aneignen und wertvolle Erfahrungen sammeln kann.

Bachelorarbeit

Leineweber S. Ergotherapeutisches Sozialkompetenz-Training (EST) bei Kindern mit einer Störung des Sozialverhaltens. Bachelorarbeit an der Hochschule Fresenius Idstein; 2015


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Abb.:B. Leineweber