Ökonomische Aspekte der komplexen medizinischen Kur
Komplexe medizinische Kuren können sowohl aus gesundheitspolitischer als auch aus
volkswirtschaftlicher Sicht Interesse beanspruchen. Am Beispiel der Verhältnisse in
Österreich kann gezeigt werden, dass das Kurwesen einen nicht zu unterschätzenden
ökonomischen Faktor darstellt [1].
Die durchgeführten Heilverfahren lassen sich in solche unterscheiden, welche im Rahmen
der Prävention bzw. Gesundheitsvorsorge (GV) als Heilverfahren-Kur (HV-Kur) bezeichnet
werden, als auch jene im Rahmen der Rehabilitation bzw. Wiederherstellung, die daher
Heilverfahren-Rehabilitation (HV-Rehab) genannt werden. Wie aus der [Abb. 1] hervorgeht, hat die Zahl der erledigten Anträge auf Heilverfahren an die Sozialversicherungsträger
im Zeitraum von 2002 bis 2012 genauso kontinuierlich zugenommen, wie die Zahl der
genehmigten Anträge und die Einweisung in eine stationäre Behandlung. Von den insgesamt
über 260 000 Einweisungen in stationäre Behandlung im Jahr 2012 entfiel mehr als die
Hälfte auf Kuraufenthalte ([Abb. 2]).
Abb. 1 Entwicklung der Zahl von Heilverfahren im Zeitraum 2002–2012.
Abb. 2 Verteilung von Heilverfahren in Österreich im Jahr 2012.
Die [Abb. 3a und 3b] zeigt die Entwicklung der stationären Heilverfahren (HV-Kuren) im Rahmen der Gesundheitsvorsorge
(GV) in Österreich in den Jahren 2005 bis 2014 – Gesamtergebnis und nach Indikationen.
Abb. 3a Entwicklung der im Auftrag der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) durchgeführten
stationären Heilverfahren (HV-Kuren) im Rahmen der Gesundheitsvorsorge (GV) in Österreich
2005–2014. Gesamtergebnis. (Quelle: Pensionsversicherungsanstalt, MED-DB-Onlinestatistik
zu Stand 16.03.2015)
Die [Abb. 4] definiert die Entwicklung der stationären (HV-REHAB) und ambulanten Rehabilitation
in Österreich in den Jahren 2005–2014. Die [Abb. 5] präsentiert die Entwicklung der durchgeführten stationären Rehabilitation (HV-REHAB)
im selben Zeitraum nach Indikationen. Die [Abb. 6] zeigt die Entwicklung der ambulanten Rehabilitation in den Jahren 2007–2014 ebenfalls
nach Indikationen. Die Daten wurden von der Pensionsversicherung (PVA), Abteilung
Statistik und Controlling (HSCO) in Wien zur Verfügung gestellt.
Abb. 3b Entwicklung der im Auftrag der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) durchgeführten
stationären Heilverfahren (HV-Kuren) im Rahmen der Gesundheitsvorsorge (GV) in Österreich
2005–2014 nach Indikationen. (Quelle: Pensionsversicherungsanstalt, MED-DB-Onlinestatistik
zu Stand 16.03.2015)
Abb. 4 Entwicklung der im Auftrag der PVA durchgeführten stationären (HV-REHAB) und ambulanten
Rehabilitation in Österreich 2005–2014. Gesamtergebnis. (Quelle: Pensionsversicherungsanstalt,
MED-DB-Onlinestatistik zu Stand 16.03.2015)
Abb. 5 Entwicklung der im Auftrag der PVA durchgeführten stationären Rehabilitation (HV-REHAB)
in Österreich 2005–2014 nach Indikationen. (Quelle: Pensionsversicherungsanstalt,
MED-DB-Onlinestatistik zu Stand 16.03.2015)
Abb. 6 Entwicklung der im Auftrag der PVA durchgeführten ambulanten Rehabilitation in Österreich
2007–2014 nach Indikationen. (Quelle: Pensionsversicherungsanstalt, MED-DB-Onlinestatistik
zu Stand 16.03.2015)
Die Auslastung der 116 Kureinrichtungen in Österreichs betrug im Jahr 2013 74%. 14,3%
der Gesamtübernachtungen in Österreich betrafen im Jahr 2013 den Kurtourismus. Allerdings
zeichnet sich für das Kurwesen eine Änderung der Entwicklung ab, als die Zuweisungen
zu Rehabilitationsaufenthalten zulasten der Kuraufenthalte zunehmen.
Wie Haber [1] in einer Studie ausführt, stellt das Kurwesen im Rahmen der österreichischen Wirtschaftsleistung
und Beschäftigung einen, im Verhältnis zur geringen absoluten Größe aufgrund der engen
Abgrenzung dieses Bereichs, nicht zu unterschätzenden ökonomischen Faktor mit volkswirtschaftlicher
Bedeutung dar. So beträgt der Anteil des Kurwesens an der gesamten Wertschöpfung 0,13,
und 0,09% der Arbeitsplätze sind österreichweit direkt oder indirekt auf das Kurwesen
zurückzuführen.
Aus verschiedenen, nicht zuletzt ökonomischen Gründen, erlangt neben der kurativen
klinischen Medizin zunehmend die Prävention (Gesundheitsvorsorge) und Rehabilitation
(Wiederherstellung) Bedeutung. Diese Entwicklung eröffnet auch der komplexen medizinischen
Kur neue Chancen. Balneologische Kuren können einerseits, was die Wirkungen der natürlichen
ortsgebundenen Heilvorkommen anlangt, nach naturwissenschaftlichen Kriterien beurteilt
werden, die während einer Kur durchgeführten gesundheitsförderlichen Interventionen
beschränken sich andererseits aber nicht nur auf die wiederholte Anwendung des natürlichen
Kurmittels. Kureffekte und Kurerfolg sind das Resultat verschiedener, sogenannter
unspezifischer und spezifischer Maßnahmen, die in ihren Auswirkungen nicht getrennt
voneinander betrachtet werden dürfen. Ein Verständnis der gesundheitlich erwünschten
Wirkung von Kuren bedarf daher nicht nur einer reduktionistisch naturwissenschaftlichen
Denkungsweise, sondern muss auf dem Verständnis systemtheoretischer Grundlagen beruhen.
Der medizinische Wert der komplexen balneologischen Kur kann auf dieser intellektuellen
Grundlage verstanden werden und der Kur auch weiterhin ihren Stellenwert im Gesundheitssystem
sichern. Dies erscheint angesichts der ökonomischen Bedeutung der Kur gerechtfertigt.
Wesensmerkmale der komplexen medizinischen Kur
Einleitend sei zu den in Österreich verwendeten Begriffen der Heilverfahren-Kur im
Rahmen der Gesundheitsvorsorge und als Heilverfahren-Rehabilitation im Rahmen der
Wiederherstellung Folgendes festzuhalten:
Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge (Heilverfahren als Kur) dienen für den Sozialversicherungsträger
Pensionsversicherung, auf deren statistische Zahlen als größter Sozialversicherungsträger
Österreichs zugegriffen wurde, bei Berufstätigen der Erhaltung der Leistungsfähigkeit.
Bei Pensionsbeziehern soll der Eintritt der Pflegebedürftigkeit vermieden oder der
Status der Pflegebedürftigkeit verbessert werden bzw. erhalten bleiben.
Maßnahmen der Wiederherstellung (Heilverfahren als Rehabilitation) dienen der Erhaltung
oder Wiedergewinnung der Fähigkeit zur Berufsausübung und zur aktiven Teilnahme am
normalen Leben in Familie und Gesellschaft.
Ein stabiler Krankheitszustand und eine abgeschlossene Krankenbehandlung sind Voraussetzung
für den Rehabilitationsbeginn.
Komplexe medizinische Kuren stellen eine Maßnahme der Gesundheitsförderung dar, die
vor allem in Europa, in anderen Formen aber auch auf anderen Kontinenten, zu den traditionellen
medizinischen Verfahren gezählt werden können.
Der Begriff der Komplexität kann im Zusammenhang mit der medizinischen Kur aus verschiedenen
Blickwinkeln betrachtet und definiert werden. Eine dieser Betrachtungsebenen bezieht
sich auf die Mehrzahl unterschiedlicher Reize mit therapeutischer Relevanz, die während
einer Kur zur Anwendung gelangen und in ihrer Gesamtheit den Kureffekt ausmachen.
Dieser Kureffekt manifestiert sich dann nicht nur in einer messbaren Verbesserung
einzelner Parameter und Symptome, sondern z. B. auch im Hinblick auf psychologische
Faktoren wie Befinden, Schlafqualität, subjektive Stressbelastung usw. [2]
[3]
[4]
[5]
[6]. Einer Mehrzahl von therapeutischen Reizen steht somit eine Mehrzahl von therapeutisch
erwünschten Effekten gegenüber. In der klinischen Medizin, die auf einer naturwissenschaftlichen
Basis beruht, geht es nicht selten um einfache Ursache-/Wirkungsbeziehungen, wie sie
dem Postulat eines experimentellen Ansatzes entsprechen. Das sich daraus ergebenden
Kausalitätsprinzip fordert den Nachweis, dass eine bestimmte Ursache bzw. therapeutische
Maßnahme mit dem gemessenen Effekt in einer direkten und kausalen Beziehung steht.
Daraus kann abgeleitet werden, dass dieses Prinzip für komplexe Therapieverfahren
und komplexe Reaktionen nicht angewendet werden kann. Aus diesem Grund ist der für
die Naturwissenschaft typische reduktionistische Ansatz für eine Erklärung der komplexen
Kur nicht optimal.
In der Balneologie herrscht weitgehend Einstimmung darüber, dass die therapeutisch
erwünschten Effekte nicht die einfache und direkte Folge der Reizeinwirkung sind,
sondern auf den physiologischen Reaktionen des Organismus beruhen. Die Balneotherapie
wird daher als Reiz-Reaktionstherapie bezeichnet und den regulationstherapeutischen
Verfahren zugeordnet. Bei therapeutischen Verfahren dieser Art ist es nicht möglich,
isoliert einzelne physiologische Regulationen zu beeinflussen, weil die physiologischen
Regulationen des Organismus eine netzwerkartige Struktur [7]
[8]
[9]
[10]
[11]
[12]
[13] aufweisen. Sie zeigen eine wechselseitige funktionelle Abhängigkeit und weisen Charakteristika
von komplexen Systemen auf [14]
[15]
[16]
[17]. Solche Systeme weisen auch eine Abhängigkeit von Umweltbedingungen und zeitlichen
Aspekten auf. Diese Abhängigkeiten rechtfertigen in sachlicher Hinsicht die verschiedenen
unspezifischen Therapiefaktoren der Kur und begründen die Zeitdauer, die für Kuren
angesetzt wird. Im Zusammenhang mit der Kurdauer ist auch auf die Bedeutung adaptationsphysiologischer
Vorgänge für den Kureffekt hinzuweisen, wie dies vor allem von Hildebrandt [18] betont wurde.
Alle für die Kur und ihre Wirkung relevanten exogenen und endogenen Faktoren werden
auch bei systemtheoretischen Betrachtungen komplexer therapeutischer Systeme wie der
TCM oder Ayurveda als Modell der Erklärung ihrer Effektivität herangezogen. Dabei
wird jedoch wenig berücksichtigt, dass gerade bei komplexen gesundheitsförderlichen
Systemen der kulturelle Aspekt eine nicht unerhebliche Rolle spielen kann. Ein gesundheitsförderliches
Verfahren wie es die komplexe balneologische Kur darstellt, steht jedoch auf dem Boden
der Tradition in den europäischen Ländern und ist daher in der Lage, auch den kulturellen
Aspekt von Gesundheit und Krankheit, wie er für westliche Denkungsweise typisch ist,
zu berücksichtigen.
Es erscheint daher gerechtfertigt, mögliche Zusammenhänge zwischen der komplexen medizinischen
Kur und systemtheoretischen Erkenntnissen zu erörtern. Das Ergebnis dieser Erörterung
könnte vielleicht auch einen Beitrag zum besseren Verständnis der Kur und deren Wirkungsgrundlagen
in der Medizin leisten.
Systemtheorie in der Medizin
Wie bereits erwähnt, beruht die klinische Medizin auf naturwissenschaftlichen Denkgrundlagen.
Diese Denkgrundlagen weisen einen reduktionistischen Ansatz auf, der sich durch die
Forderungen nach einfachen Ursache-/Wirkungsbeziehungen und nach experimentellen Wirkungsnachweisen
manifestiert. Nach Ansicht von Ahn et al. [10] ist der Reduktionismus in der klinischen Medizin durch folgende Faktoren gekennzeichnet:
-
dem Fokus auf einzelne, dominante Faktoren
-
der Betonung der Homöostase
-
durch eine ungenaue Risikomodifikation
-
durch additive Behandlungen
Es kann als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, dass die Bemühungen der Medizin
der Wiederherstellung der Homöostase gelten. Darunter ist die Rückkehr eines Parameters
in einen statistisch definierten und statischen Normalbereich zu verstehen. In Übereinstimmung
damit steht die Tatsache, dass die naturwissenschaftlich-klinische Medizin sich auf
die Annahme gründet, wonach der menschliche Organismus als eine Art von Maschine aufgefasst
werden kann. Störungen sind in einer derartigen „Maschine“ immer lokalisiert und spezifisch.
Es ist daher eine konsequente Schlussfolgerung, dass auch pathologische Vorgänge lokalisiert
und spezifisch sind, wobei davon einzelne Teile oder Systeme des Organismus betroffen
sein können. Dies stellt auch die Grundlage der Subspezialisierung in der klinischen
Medizin dar. Andererseits muss aber zur Kenntnis genommen werden, dass der Organismus
als Ganzes funktioniert und daher auch als Ganzes behandelt werden muss [12].
Erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich ein Verständnis für die
Funktionsweise komplexer Systeme und lieferte so ein Gegenmodell zur Annahme lokalisierter
und spezifischer maschineller Störungen. Komplexität kann in verschiedenen Varianten
auftreten. Als besonders brauchbar für das Verständnis komplexer biologischer Vorgänge
hat sich das Modell von neuronalen Netzwerken erwiesen, welches auch durch parallele
Verarbeitungsprozesse charakterisiert ist. Solche Verarbeitungsprozesse treten nicht
nur bei neuronalen Vorgängen auf, sondern finden sich auch zwischen den Liganden und
Rezeptoren im endokrinen und immunologischen System. Daraus kann abgeleitet werden,
dass im Organismus nicht verschiedene voneinander unabhängige Netzwerke vorhanden
sind, sondern dass ein ausgedehntes Netzwerk psychoneurologische, immunologische und
endokrine Regulationssysteme umfasst [12]. Eine Konsequenz daraus ist, dass ein Fehler innerhalb dieses Netzwerks nicht systemspezifisch
ist, sondern sich innerhalb des gesamten Organismus ausbreitet. Es müssen daher 2
unterschiedliche Arten von pathologischen Prozessen unterschieden werden, die jedoch
miteinander in Beziehung stehen: in einem dieser beiden Prozesse können funktionelle
Störungen Fehlern spezifischer Strukturen und Systemen zugeschrieben werden, im anderen
ist der gesamte Organismus betroffen [12]. Dieser Typ eines pathologischen Prozesses rechtfertigt den Einsatz von therapeutischen
Systemen mit verschiedenen Ansatzpunkten, wie die auch für eine komplexe medizinische
Kur zutrifft.
Die im vorhergehenden Absatz geäußerten Überlegungen können auch durch weitere Erkenntnisse
unterstützt werden. Die Kontrolle bzw. Regulation physiologischer Funktionen wird
durch sogenannte negative Feedbacks ausgeübt. Aus konventioneller Sicht werden diese
Feedbacks als voneinander unabhängig betrachtet. Die Hypothese eines „intelligenten“
Organismus [12] geht jedoch von der Vorstellung einer Einbettung aller endogenen physiologischen
Kontrollsysteme in ein Netzwerk aus. In einem solchen Fall sind die Parameter des
Kontrollsystems nicht fixiert, sondern das Netzwerk kann die Parameter des Kontrollsystems
in einer Art beeinflussen, die adaptiv für die koordinierte Regulation des Organismus
ist. Kontrollsysteme die in ein Netzwerk eingebettet sind haben daher andere Eigenschaften
als isolierte Netzwerke. Sie kontrollieren Reaktionsmuster und nicht einzelne Variable
und deshalb kann sich das gesamte Kontrollsystem ändern, wenn die verschiedenen Kontrollparameter
modifiziert werden. Dies stellt auch die Grundlage für die „Lernfähigkeit“ eines komplexen
Systems dar, wodurch das System effektiver reagieren kann, als ein sich selbst regulierendes
System.
Viele so genannte homöostatische Systeme wie z. B. die Thermoregulation oder die Regulation
von Hormonkonzentration im Plasma sind ihrer Natur nach nicht homöostatisch sondern
homöodynamisch. Sie variieren gesetzmäßig über die Zeit. Um eine homöodynamische Kontrolle
zu erzielen, muss das Referenzkriterium einer Kontrollschleife sich über die Zeit
verändern und das kann dadurch erreicht werden, dass das Referenzkriterium das Ergebnis
des Netzwerks ist. Es existiert eine klare Koordination zwischen verschiedenen Regelkreisen,
am auffallendsten ist jedoch jene, die interne und externe Vorgänge bzw. Funktionen
kontrolliert. Externe Ereignisse wie z. B. jene die während einer medizinischen Kur
einwirken, rufen adaptive physiologische Reaktionen hervor und diese Reaktionen haben
psychologische und verhaltensbeeinflussende Folgen. In diesem Zusammenhang kann erwähnt
werden, dass Hildebrandt [18] immer schon auf den Zusammenhang zwischen Kur und physiologische Adaptation hingewiesen
hat.
Mit dem Hinweis auf die Bedeutung der physiologischen Adaptation als einer möglichen
Grundlage der Wirkung von medizinischen Kuren wird auch der Zeitfaktor angesprochen.
Wie dies auch für andere Verfahren mit einem systemischen Ansatz und für jene Verfahren
zutrifft, die der Gruppe der Reiz-/Reaktionstherapien zugeordnet werden können, spielt
dabei der Zeitfaktor eine wesentliche Rolle. Ein gemeinsames Kennzeichen aller dieser
Verfahren ist, dass Serien von im Einzelnen eher subtilen Reizen unterschiedlicher
Art eingesetzt werden, wobei die erwünschten therapeutischen Reaktionen keine unmittelbare
Folge dieser Reize sind. Durch diese Reize sollen vielmehr physiologische Reaktionen
im Organismus von therapeutischer Relevanz ausgelöst werden. Dabei ist zu berücksichtigen,
dass komplexe Systeme empfindlich gegenüber den Ausgangsbedingungen sind. Dabei können
Reize mit geringer Intensität große Effekte erzielen [9]. Diese Aussage kann zur Erklärung der Tatsache herangezogen werden, dass die im
Rahmen einer Kur eingesetzten therapeutischen Anwendungen mit zumeist geringer Reizintensität
letztlich doch zu messbaren und nachhaltigen Effekten führen.
Die Entwicklung der therapeutisch relevanten Reaktionen benötigt Zeit. Diese Tatsache
wird als sachliche Begründung der Zeitdauer für medizinische Kuren aber auch für andere
Verfahren die auf dieser Basis arbeiten, herangezogen. Hayes et al. [19] weisen darauf hin, dass ein dynamisches System als ein Set von Elementen aufgefasst
werden kann, die interagieren und sich kontinuierlich über die Zeit entwickeln. Veränderungen
können dabei diskontinuierlich auftreten und weisen eine nicht-lineare Charakteristik
auf. Es erscheint nicht unberechtigt hierin einen Zusammenhang mit der oft beschriebenen
Kurverlaufsdynamik mit mehr oder weniger gesetzlichen Verbesserungen und Verschlechterungen
des individuellen Befindens und Gesundheitszustandes zu sehen, die in der Balneologie
auch mit dem Begriff Kurkrisen beschrieben werden.
Wie dies von Goldberger [8] betont wird, weisen physiologische Systeme in Gesundheit und Krankheit eine außerordentliche
Breite im Hinblick auf das zeitliche Verhalten und von strukturellen Mustern auf,
die einem Verständnis Widerstand entgegensetzen, welches auf linearen Denkmustern,
reduktionistischen Strategien und der klassischen Homöostase beruhen.
Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, dass es sich beim menschlichen Organismus
um ein hochkomplexes System handelt und eine Betrachtungsweise einzelner Bestandteile
dieses Systems der Realität nicht gerecht wird. So sprechen Goldberger et al. [17] von einer „verstörenden“ Komplexität als kennzeichnender aber schwer fassbarer Eigenschaft
physiologischer Systeme. Diese Komplexität ist zurückzuführen auf die Interaktion
von Myriaden struktureller Einheiten und regulatorischer Rückkoppelungsschleifen,
die sich über einen weiten Bereich von zeitlichen und räumlichen Skalen erstrecken
und den Organismus in die Lage versetzen, auf die alltäglichen Anforderungen zu reagieren
und sie zu bewältigen [17].
Komplexität kann aber nicht nur dem gesamten Organismus zugeordnet werden, sondern
manifestiert sich bereits auf zellulärer Ebene durch ungefähr 25 000 Gene, die für
100 000–300 000 Proteine kodieren, etwa 1 000 Metaboliten und eine nicht definierbare
Zahl von verschiedenen Proteinen sowie funktionellen RNA-Molekülen. Die Zahl der zellulären
Komponenten, die im intrazellulären Netzwerk fungieren, übersteigt 100 000. Die Zahl
der funktionell relevanten Interaktionen in diesem Netzwerk ist noch weit höher [13].
Typische Eigenschaften von komplexen, adaptiven und nicht linearen Systemen sind [7]:
-
sie sind ganzheitliche Systeme
-
sie verändern sich über die Zeit
-
sie sind charakterisiert durch Emergenz, Verbindung und wechselseitige Verursachung
-
Emergenz ist eine Funktion von ganzheitlichen Systemen und nicht durch die Eigenschaften
einzelner Teile vorhersagbar
-
Selbstorganisation
-
Verbindung zwischen Stabilität und Flexibilität.
Komplexe adaptive Systeme sind offene Systeme, die sich an die Umwelt adaptieren und
mit ihr interagieren. Sie sind ein zusammenhängendes und selbst organisierendes Ganzes
mit emergenten Eigenschaften, die größer sind als die Summe der Teile. Die Effekte
komplexer medizinischer Kuren beruhen auf einer Mehrzahl von Faktoren, die von außen
appliziert werden mit dem Ziel, einen therapeutisch erwünschten Effekt im Organismus
zu erzielen. Seit langer Zeit wird dabei zwischen unspezifischen und spezifischen
Maßnahmen unterschieden. Den unspezifischen Maßnahmen wird dabei die Funktion zugeschrieben,
die Voraussetzung für das Wirksamwerden der spezifischen therapeutischen Maßnahmen
zu verbessern. Dies bedeutet aber auch eine Kategorisierung der beiden Gruppen von
Maßnahmen, wobei den spezifischen Maßnahmen die eindeutig höhere Bedeutung für den
Kurerfolg zugeschrieben wird. Damit in Zusammenhang können auch Bemühungen gesehen
werden, kurtherapeutische Maßnahmen auf einzelne definierte und spezifische Anwendungen
zu beschränken und alle anderen Faktoren einer komplexen Kur als unwesentlich für
den Kureffekt zu beurteilen. In der klinischen Medizin ist es üblich, therapeutische
Effekte ausschließlich aus dem Blickwinkel spezifischer und vorhersagbarer Reaktionen
in einem System zu beurteilen. Globale Reaktionen werden als systemisches Rauschen
betrachtet, dem keine therapeutische Bedeutung zukommt. Systemtheoretische Betrachtungen
stellen allerdings das Konzept von spezifischen und unspezifischen Effekten in Frage.
In einem komplexen System von Beziehungen mit einer praktisch unbegrenzten Vielzahl
von möglichen Feedback-Schleifen und Reaktionen auf eine Reizeinwirkung auf das System,
können komplexe adaptive Reaktionen auf verschiedenen Ebenen auftreten, die unvorhersagbar
und emergent sind. Es kann daher die Schlussfolgerung gezogen werden, dass innerhalb
eines Systems alle Effekte spezifisch sind [7].
Eine Konsequenz aus der Anerkennung der Tatsache, dass komplexe Kuren aus systemtheoretischer
Sicht betrachtet und beurteilt werden sollten, hat auch Auswirkungen auf Forschungsdesigns,
die geeignet sind, die Effekte solcher gesundheitsförderlicher Verfahren wissenschaftlich
zu untersuchen und zu untermauern. Umfassende Angaben zu solchen Forschungsdesigns
finden sich u. a. bei Melchart [20] sowie bei Vicent und Furnham [21]. Zu dieser Thematik kann noch hinzugefügt werden, dass die derzeit in der Wissenschaft
vorherrschende Sichtweise und die damit zusammenhängenden Untersuchungsmethoden beträchtliche
Limitierungen aufweisen, wenn sie auf komplexe und dynamische Prozesse bezüglich Gesundheit
und Krankheit beim Einzelnen, in Familien und bei Populationen angewendet werden [7].
Die komplexe Kurmedizin steht einerseits auf dem Boden der Naturwissenschaft, ihre
Effekte können aber mit einem reduktionistischen Denkansatz nicht ausreichend beschrieben
werden. Andererseits war es die Absicht des vorliegenden Beitrags zu zeigen, dass
für die Beurteilung der Wesensmerkmale der komplexen medizinischen Kur systemtheoretische
Denkansätze adäquat erscheinen. Die komplexe medizinische Kur könnte daher einen Beitrag
zur Integration zweier unterschiedlicher Denkansätze in der Medizin im Interesse der
Patienten leisten.