Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit
Zum ersten Mal wurden – neben Tiermodell-Erfahrungen aus der Grundlagenforschung –
auch
veterinärmedizinische Aspekte der Faszienforschung auf dem Kongress diskutiert. Interdisziplinäre
Zusammenarbeit ergibt Sinn: So werden neue Einsichten ausgetauscht, um bisherige Vorstellungen
und
Therapiemethoden praxisnah zu evaluieren, Ressourcen zu sparen, wissenschaftliche
Arbeit besser zu
fokussieren und ihre Entwicklung erfolgreicher zu machen. Mehr als 180 peer-reviewed
Abstracts wurden dem
Kongresskomitee eingereicht und bildeten eine herausragende Basis zur Gestaltung des
Fachprogramms.
Entwicklung der Faszienforschung
Seit der Publikation des Kongressberichts von 2007 wurden mehr als 10 000 Artikel
in 19 Sprachen in
peer-reviewed Journals veröffentlicht, die sich mit dem Thema Faszienforschung beschäftigen.
Diese
Entwicklung ist nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass in letzter Zeit viele
anatomische und
histologische Strukturen der Faszie re-evaluiert wurden. Gleichzeitig ermöglichen
neu entwickelte
Untersuchungsmethoden wie hochauflösender Ultraschall und bioelektrische Impedanz die Untersuchung des
Fasziengewebes in vivo. Auf dieser Basis ist nun mehr die Darstellung und Beschreibung
der Effekte manueller
Methoden möglich geworden, was ein neues Kapitel in der Faszienforschung bei Mensch
und Tier eröffnet.
Faszien: Was sind sie genau?
Was genau ist denn nun eigentlich diese Bindegewebsmatrix, mit der sich zurzeit so
viele Wissenschaftler und
Forscher beschäftigen? Im Jahr 2007 wurde von Finley und Schleip die erste Definition
anlässlich des 1.
Faszien-Kongresses vorgeschlagen, die 2009 von Huijing und Langevin weiterentwickelt
wurde. Die Faszie
beschreibt demnach kurz gesagt „die Weichteilgewebeanteile des den (menschlichen)
Körper durchziehenden
Binde- und Stützgewebeapparats“. Anders – eher funktionell ausgedrückt – sind es die
kollagenhaltigen
Fasern, die als Grundlage für das Kraft-Übertragungssystem des Körpers via Zugspannung
dienen. Die Vorlage
dieser Vorstellung der dynamischen Verbindung über Zugspannung entstammt dem „Tensegrity“-Konzept –
der Kombination aus Spannung (Tension) und Zusammenhalt (Integrity) – dessen Ursprung
in der Architektur
erarbeitet wurde (▶
Abb.
[
1
]).
Abb. 1 Schematische Darstellung des Tensegrity-Modells. (Quelle: Könneker H, Reiter U. Osteopathie
in der Kleintierpraxis. 1. Aufl. Stuttgart: Sonntag; 2010)
Faszien beschreiben somit nicht nur die Gewebe, die wir auf den ersten Blick als solche
einordnen würden
(wie z. B. Septen, Gelenkkapseln und Aponeurosen), sondern ebenso andere verdichtete
Gewebe im
Spannungsnetzwerk wie z. B. das bronchiale Bindegewebe oder die fibrinöse äußere Schicht
der Bandscheiben.
Um den neuen Erkenntnissen der funktionellen resp. anatomischen Ambivalenz der Faszien
Rechnung zu tragen,
wurde von dem Federal Committee of Anatomical Terminology (FCAT) nun in diesem Jahr
im Rahmen des Kongresses
die Anfrage geäußert, für die neue Ausgabe der Terminologia Anatomica 2016 einen neuen Begriff der
Faszie festzulegen.
Funktion und Bedeutung der Faszien
Angesichts der Tragweite der Erkenntnis über die Funktion der Faszien im Organismus
wird man sicher auch
nicht darum herumkommen, die Funktion und Bedeutung der Faszien auch in der veterinärmedizinischen
Anatomie und Praxis neu einzuordnen. Die westliche Anatomie ähnelte bisher im Wesentlichen
eher einer
„Skalpell Anatomie“, als dass sie funktionelle Komponenten berücksichtigt. Ein Muskel
oder Organ stellt
sich eben auch viel eindeutiger dar, wenn man ihn von jeglichen Verbindungen freipräpariert.
Dass dabei
auch ein sehr großer Anteil seiner Funktion verloren geht, wird durch die neuen Darstellungsmethoden
aus der Anatomie sehr klar. Ein beeindruckendes Beispiel ist der 2015 erschienene Atlas über das
Fasziennetz des Menschen von Frau Dr. Carla Stecco von der Universität in Padua, in
dem der Mensch wie in
einem Taucheranzug aus Bindegewebe dargestellt wird [[8]].
Bemerkenswerterweise handelt es sich auch in der Humanmedizin um den ersten Atlas
dieser Art.
Funktionelle Untersuchungen am Tier, wie sie beispielsweise von Prof. Dr. Martin S. Fischer in
Jena durchgeführt wurden, sind ein eindeutiger Hinweis darauf, dass wir unser bisheriges
Verständnis der
funktionellen Anatomie bzw. der funktionellen Neurologie auch beim Tier überdenken
müssen. In dem neu
erschienenen Lehrbuch zur Lahmheitsdiagnostik von Daniel Koch und Martin S. Fischer
haben diese neuen
Überlegungen bereits Berücksichtigung gefunden. Ebenso gilt es auch, Therapiemethoden
entsprechend den
sich immer wieder neu ergebenden Erkenntnissen anzupassen, denn um mit den Worten
von Tom Myers zu
sprechen: „Fakten haben doch oft eine sehr kurze Halbwertszeit“.
Entsprechend einer vorgestellten Studie beispielsweise, bei der der Einfluss von mechanischen
Therapien auf die Heilung chronischer Tendinopathien untersucht wurde, konnte dargestellt werden,
dass ein kontrolliertes Bewegungsregime auf dem Laufband eine direkte Effektivität
von mechanischen
Stimuli auf den Heilungsverlauf einer Tendinopathie hat. Diese Untersuchung unterstützt
die
Arbeitshypothese, dass Fibroblasten in der Matrix eine zentrale Rolle spielen. Abhängig
von der Bewegung
entstehen offenbar unterschiedliche Strukturen. Für die Klinik bedeutet dies, dass
der Heilungsverlauf zu
einer belastbaren Architektur direkt abhängig von physikalischen Einflüssen zu sein scheint, die
auf das Gewebe einwirken. Zellen in der extrazellulären Matrix werden durch mechanische
Faktoren
beeinflusst, die das Proteinmilieu verändern. Dieses wird von Entzündungsmediatoren
und dem
Krankheitsprozess selbst moduliert, aber auch von den Übungen im Rahmen der Rehabilitation.
Ein
Übungsplan kann demnach degenerativen Prozessen vorbeugen, wobei insbesondere die
zentrische versus
exzentrische Belastung der Muskulatur eine zentrale Rolle zu spielen scheint. Dies
ist für die Erstellung
eines Rehabilitationsplans bei Sehnenverletzungen nicht gerade unwesentlich: Vielleicht sind
Boxenruhe und Leinenzwang doch nicht immer die beste Antwort auf alle Probleme des
Bewegungsapparats.
Faszien und Schmerzen
Faszien sind offenbar ein sehr wichtiges „Organ“ mit sensiblen Eigenschaften, die
darum auch in der
Propriozeption eine große Rolle zu spielen scheinen. Eine Stimulation der Faszie, einschließlich
der thorakolumbalen Faszie (TLF), verursacht Schmerz. In einer Untersuchung der TLF
bei Ratten wurden die
Existenz nozizeptiver Fasern in Faszien sowie der Einfluss der Entzündung auf diese
Fasern erforscht. Zu
diesem Zweck wurden die Länge und die Anzahl der freien Nervendigungen anhand von
Antikörberverbindungen
an die charakteristischen Axone oder Membranen dieser Fasern untersucht. SP, CGRP-positive
und
TRPV1-Moleküle (ein charakteristisches nozizeptives Rezeptormolekül) wurden in dieser
Studie
nachgewiesen.
Faszien enthalten demnach Nozizeptoren, wobei sich diese nach der induzierten Entzündung nicht nur
in der oberen, sondern auch in der tiefen Schicht der Faszie befinden. Vermutlich
ist es also nicht nur
der Muskel, der schmerzt, sondern auch – vielleicht sogar hauptsächlich – die Faszie.
Aus einer Studie an
gesunden Patienten hat sich ergeben, dass die Injektion eines Analgetikums in die
Faszie schmerzhafter
als die Injektion in den Muskelbauch ist. Der Input, der von der Faszie an das Rückenmark
gegeben wird,
kann dazu zu segmentaler, lang anhaltender Sensibilisierung der Schmerzempfindlichkeit führen.
Ein Spaziergang unter der Haut
Um einen weiteren staunenden Einblick in die filigrane Architektur der Natur in vivo
zu bekommen, hat
Jean Claude Guimberteau einzigartige endoskopische Aufnahmen von mikroanatomischen
Strukturen in lebendem
Gewebe angefertigt und gezeigt, wie diese das feinmaschige Netzwerk den gesamten Organismus
durchziehen
(Strolling under the skin, [[4]]). Plastische und elastische Strukturen in
dem Gewebe bleiben von außen unbemerkt, denn eben das passiert, wenn eine Hautfalte
aufgezogen wird, um
dann wieder in ihre Ausgangsposition zurückzuschnellen. Das Gewebe verhält sich wie
ein Gummiband, das in
seine Ausgangsform zurückschnellt, im Gegensatz zu einer Delle, die in einer Plastiktüte
verbleibt, wenn
man diese mit dem Finger verformt.
Aber wie verändern wir durch Eingriffe diese Fähigkeit der Resilienz? Bei chirurgischen Eingriffen
werden die Zugänge präpariert, aber diese Zugänge existieren nicht in lebendem Gewebe,
denn
Gewebekontinuität ist total, wie in dem Faszien-Atlas von Frau Carla Stecco eindrücklich
dargestellt wird
[[8]]. Der wissende, umsichtige Umgang bei der Planung und Durchführung von
Operationen hat damit demnach einen großen Einfluss auf den postoperativen Heilungsprozess.
Funktionelle Anatomie und Bewegung
Über das Verständnis von funktioneller Anatomie und Bewegung bleibt noch viel zu lernen.
Die ersten
Früchte der interdisziplinären Arbeit in der Faszienforschung finden sich beispielsweise
in einer Studie
aus Dänemark, bei der die funktionell verbindenden Linien und Strukturen nach dem
Vorbild von Tom Myers
„Anatomy Trains“ bei 26 Pferden untersucht wurden [[1]]. Ein Unterschied
zwischen Zwei- und Vierbeinern war zu erwarten, aber das Verständnis von Lokomotion
muss nach diesen
ersten Erkenntnissen wohl auch bei den Vierbeinern überdacht und eine eher holistische
Annäherung an
Erkrankungen in Betracht gezogen werden, die über das „Ansatz-Ursprung-Funktionsmodell“
eines Muskels
hinausgeht.
Fazit
Der Fascia Research Congress bedeutet interdisziplinäre Zusammenarbeit auf höchstem
Niveau und ein Zugewinn
an Erkenntnissen, die auch in tiermedizinischen Überlegungen miteinzubeziehen sind.
Was alle Teilnehmer
unabhängig vom Fachbereich verbindet – und sicher auch in Zukunft verbinden wird –
findet sich in einer
Bemerkung von Robert Schleip im Rahmen des Faszienforums in Hamburg: „Uns vereinigt
nicht das Wissen,
sondern das Wissen-Wollen“.