Schlüsselwörter:
Tauchunfall - arterielle Gasembolie - Druckkammer
Key words:
diving accident - arterial gas embolism - hyperbaric chamber
Ein 17-Jähriger wird nach einem Tauchgang im Krankenhaus vorstellig. Alle Zeichen
deuten auf einen Tauchunfall hin: Kraftlosigkeit in beiden Beinen, Kribbelparästhesien
am ganzen Körper, Sehstörungen und Kopfschmerzen. Wie gehen Sie vor? Bestätigt sich
die Diagnose?
Der Fall
17-Jähriger mit Verdacht auf Tauchunfall
Sie haben im deutschen Hochsommer Wochenenddienst. Der ganze Tag ist schon heiß und
anstrengend. Am späten Nachmittag wird schließlich ein 17-jähriger junger Mann von
seinem Vater mit dem privaten PKW in Ihre Rettungsstelle eines Krankenhauses mit angeschlossenem
Druckkammerzentrum gebracht und mit Verdacht auf „Tauchunfall“ vorgestellt.
Erste Maßnahmen
Als erstes lassen Sie den Patienten trotz O2-Sättigung (SpO2) von 99 % Sauerstoff möglichst mit einer inspiratorischen O2-Fraktion (FiO2) von 1 über Demandventil oder Maske mit Reservoir und 15 l/min O2-Flow atmen. Damit können Sie das durch die Überdruckatmung während des Tauchgangs
vermehrt im Körper gelöste Inertgas (zumeist Stickstoff bei Presslufttauchgang) beschleunigt
abatmen lassen, weil Sie den Inertgasgradienten zwischen Lunge und angebotenem Atemgas
deutlich steigern. Der Sauerstoff dient hier nicht primär zur Oxygenierung, sondern
zur Denitrogenierung. Damit hemmen Sie die weitere Entwicklung insbesondere schwerer
neurologischer Symptome, die bei zu schneller Druckreduktion durch Mikroembolien aufgrund
von Inertgasblasenbildung entstehen [1]
[2].
Anamnese
Dann erheben Sie eine detaillierte symptombezogene Anamnese.
Der Vater berichtet Ihnen folgenden Verlauf: Beide sind bereits seit 10 Tagen im Tauchurlaub
in der Region unterwegs und haben im Schnitt 2 Tauchgänge pro Tag unternommen. Dekompressionspflichtige
Tauchgänge (tiefe und lange Tauchgangsprofile mit berechneten Pausen während des Auftauchens
zur Abatmung von Inertgas) fanden nicht statt, Sicherheitsstopps auf geringer Tiefe
zum langsamen Abatmen von Inertgas wurden eingehalten. Vorgestern tauchten die beiden
gar nicht, und der Sohn unternahm ein Triathlontraining mit 1 h Schwimmen und 1,5 h
Strandlauf und trank insgesamt wenig. Gestern wurde nur ein Tauchgang – wie immer
mit offenem Presslufttauchgerät – durchgeführt, dabei blieben sie insgesamt 63 min
unter Wasser auf einer Maximaltiefe von 20 m, ohne besondere sportliche Belastung.
Einen Sicherheitsstopp von 4 min hielten die beiden ein. Am heutigen Vormittag erfolgte
erneut ein solcher Tauchgang. Dabei kam es nach dem Erklimmen der Bootsleiter mitsamt
recht schwerer Ausrüstung erstmalig zu Beschwerden.
-
Zuerst trat eine Kraftminderung im rechten Arm und in der Hand auf, sodass der Patient
seine Ausrüstung nicht ablegen konnte, kurz danach „knickten beide Beine weg“, sodass
er auf dem Boot zu Boden fiel. Kribbelparästhesien und Sehstörungen folgten in den
nächsten Minuten.
Äußere Verletzungen sind keine zu erkennen.
Risiko dieser Tauchgänge
Insgesamt handelt es sich um eigentlich dekompressionspflichtige Tauchgänge (Nullzeit
rund 31 min bei 21 m), allein aufgrund des im Computerprofil vergleichsweise kurzen
Aufenthalts auf Maximaltiefe wurde keine Dekompressionspflicht angezeigt.
-
In kurzer Folge sind Wiederholungstauchgänge dieses Profils durchaus geeignet, um
eine ausreichende Inertgasübersättigung zu generieren, die dann Symptome eines Dekompressionsunfalls
verursachen kann.
Differenzialdiagnosen wie intrakranielle Blutung, Hirninfarkt, Hitzeerschöpfung oder
auch Erstmanifestation eines Hirntumors sind aber nicht ausgeschlossen.
Körperliche Untersuchung
In der körperlichen Untersuchung erheben Sie einen unauffälligen kardiopulmonalen
und auch abdominalen Befund; RR 120/70 mmHg, HF 68/min, EKG: SRIT (Sinusrhythmus,
Indifferenztyp), grobneurologisch normale Reflexantwort, kein Babinski, Kribbelparästhesien
an beiden Beinen und am rechten Arm, Sensibilität erhalten, deutliche Kraftminderung
insbesondere im rechten Bein, linke Pupille etwas größer als die rechte.
Sie veranlassen nun ein kraniales CT (CCT), das einen komplett unauffälligen Befund
zeigt.
Weitere Informationen
Auf dem Rückweg vom CT teilt Ihnen der Patient mit, dass das Boot sofort zurück zur
Küste gefahren sei und man 15 min nach dem Ereignis mit einer auf dem Transport im
PKW fortgeführten O2-Atmung begonnen habe. Darunter seien die Symptome deutlich rückläufig gewesen, als
man rund 1 h nach dem Ereignis das Krankenhaus erreichte. Die Pupillendifferenz sei
zudem bekannt.
Daraufhin entschließen Sie sich, nach tauchmedizinischer Konsultation eine sofortige
Druckkammerbehandlung zu veranlassen [Abb. 1].
Abb. 1 Druckkammer.
Druckkammertherapie
Während der hyperbaren O2-Atmung nach der Behandlungstabelle 6 (US Navy; [Abb. 2]) kann schon innerhalb der ersten 4 Stunden eine deutliche Zunahme der groben Kraft
und Abnahme der Kribbelparästhesien verzeichnet werden. Nach der Behandlung sind noch
Restsymptome vorhanden; Gehen ist zwar möglich, das Gangbild jedoch unsicher. Die
aus dem mitgebrachten Tauchcomputer inzwischen auslesbaren Profile bestätigen die
Schilderungen der beiden zum Tiefen- und Zeitprofil der letzten Tauchgänge, was nicht
immer der Fall sein muss.
Abb. 2 Behandlungstabelle 6 der US Navy für die Therapie von Dekompressionskrankheit und
Luftembolie. Intervalle mit Atmung von O2 sind blau, von Luft weiß gekennzeichnet. Der „Abstieg“ auf die erste Druckstufe erfolgt
so schnell, wie es der Patient und das Begleitpersonal tolerieren (Druckausgleich!).
Weitere Entwicklung
Am Folgetag zeigt sich der inzwischen hospitalisierte Patient mit erneuter Progredienz
der Symptomatik, deutlicherer Kraftminderung im Bein und subjektiver Zunahme der Kribbelparästhesien.
Daraufhin leiten Sie erneut eine Druckkammerbehandlung ein, die ebenfalls wieder eine
deutliche Besserung, aber keine vollständige Regredienz bringt, was schließlich zu
einer umfangreichen neurologischen Diagnostik in den nächsten beiden Tagen führt.
Neurologische Untersuchung
In der detaillierteren neurologischen Untersuchung zeigen sich noch
-
eine Hypästhesie im gesamten rechten Arm,
-
eine Schwächung des kompletten rechten Beines auf Kraftgrad 3–4/5,
-
seitengleiche lebhafte Muskeleigenreflexe ohne pathologische Reflexe,
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Sensibilitätsstörung am rechten Fuß,
-
Kribbelparästhesien unterhalb T10,
-
eingeschränktes Lageempfinden,
-
Unterberger und Romberg mit Fallneigung sowie
-
ein unsicheres Gangbild mit Nachziehen des rechten Fußes.
Im MRT von Hirn und Myelon zeigen sich multiple hyperdense Läsionen, sodass nun die
Verdachtsdiagnose einer Enzephalomyelitis disseminata gestellt wird [Abb. 3].
Abb. 3 a–c nach einmaliger hyperbarer Behandlung.
Weitere Druckkammertherapie
Bei reproduzierbar weiterer Besserung der Symptomatik durch hyperbare O2-Therapie führen Sie die tägliche rund 5-stündige Druckkammertherapie weiter.
Ändern die vorliegenden Befunde nun die initiale Verdachtsdiagnose Tauchunfall?
In der dopplersonografischen Untersuchung der hirnversorgenden Gefäße werden keine
Stenosen oder Anomalien gefunden.
Die evozierten Potenziale erhärten inzwischen den Verdacht auf eine demyelinisierende
Erkrankung. Daraufhin veranlassen Sie eine Liquorpunktion, welche allerdings einen
unauffälligen Befund zeigt. Auch die Immunelektrophorese von Serum und Liquor bleibt
unauffällig.
Die inzwischen weitergeführte tägliche Druckkammerbehandlung zeigt zunehmende Wirkung
bis zur kompletten Regredienz der objektivierbaren neurologischen Symptomatik nach
8 hyperbaren Oxygenierungen (HBO) nach USN-Tabelle 6.
Daraufhin wird die MRT von Hirn und Myelon wiederholt, in der nun keinerlei hyperdense
Läsionen mehr nachweisbar sind [Abb. 4].
Abb. 4 nach 8 hyperbaren Behandlungen.
Vollständige Genesung
Trotz vollständigem Verschwinden der hyperdensen Läsionen nebst der objektivierbaren
neurologischen Symptomatik nach 8-maliger hyperbarer O2-Therapie bestehen weiterhin regrediente Kribbelparästhesien, sodass noch weitere
11 Druckkammerbehandlungen bis zur subjektiven Restitutio ad integrum durchgeführt
werden.
Nach eingehender tauchmedizinischer Untersuchung im Intervall taucht der Patient nun
nach kurzer Zeit wieder und ist auch Jahre nach dem Ereignis vollständig symptomfrei.
Insbesondere entwickelt sich auch keine neurologische Erkrankung.
Diskussion
Komplexität des Falls
Insgesamt zeigt dieser tatsächlich so geschehene Fall die Komplexität eines Tauchunfalls.
Er ist in selten detailreicher Weise aufgrund der zu verschiedenen Zeitpunkten offenbar
wahrscheinlicher erscheinenden Differenzialdiagnosen umfangreich apparativ und laborchemisch
diagnostiziert.
Stringente Fallbeschreibung
Für den Tauchmediziner ist die Fallbeschreibung durchaus pathophysiologisch stringent:
Der Patient hat durch die zahlreichen vorangegangenen Tauchgänge der letzten Tage
eine Inertgasübersättigung erzielt, das bedeutet eine Aufnahme und Lösung von in diesem
Fall Stickstoff unter Überdruck im Körper. Diese ist auch durch moderne Tauchcomputer
mit jedem weiteren Wiederholungstauchgang schwerer zu quantifizieren. Das Löslichkeitsvolumen
für dieses überschüssige Inertgas nimmt durch die anstrengungs- und hitzebedingte
Dehydrierung deutlich ab, und durch exzessive sportliche Anstrengung entstehen Blasenkerne,
die zum massiven Ausperlen von zahlreichen Inertgasblasen im rechten Körperkreislauf
geführt haben müssen.
Zunächst werden diese in der Lunge abgeatmet und führen nicht zu Symptomen. In diesem
Fall ist jedoch zu vermuten, dass Symptome einer leichten Dekompressionskrankheit
durch den trainingsbedingten Muskelkater maskiert wurden. Nach weiteren 2 Tauchgängen
in kurzer Folge kommt es nun direkt nach Anstrengung (Bootsleiter mit Ausrüstung erklimmen)
zu sofortiger schwerer, insbesondere neurologischer Symptomatik.
Dieser Verlauf ist typisch für eine arterielle Gasembolie, verursacht durch einen
Übertritt von Inertgasblasen bei kurzer Anstrengung oder auch Druckstoß (Husten, Pressen
etc.) in den linken Kreislauf.
Persistierendes Foramen ovale
Eine typische Übertrittspforte bei intrathorakaler Druckumkehr wäre ein persistierendes
Foramen ovale (PFO). Die tauchmedizinische Relevanz eines bei bis zu einem Drittel
der Bevölkerung vorkommenden PFO wurde in der Vergangenheit jedoch überschätzt – die
meisten arteriellen Gasembolien sind nicht auf ein PFO zurückzuführen, obwohl durch
das Vorhandensein das Tauchunfallrisiko erhöht wird.
Zumeist sind druckabhängige intrapulmonale Shunts für den Übertritt von Inertgasblasen
verantwortlich. Auch in diesem Fall wurde im Nachgang eine PFO-Diagnostik durch transösophageale
Echokardiografie durchgeführt, die bei unserem Patienten kein PFO nachweisen konnte.
Klare Diffenzialdiagnose
Bereits die Besserung der Symptomatik durch normobare Oxygenierung mit FiO2 von 1 direkt nach dem Tauchgang und weiter durch die hyperbare O2-Therapie ist in diesem Falle wegweisend und lässt in der Zusammenschau mit dem sofortigen
Symptomauftritt und der anamnestisch klaren Pathophysiologie der hauptsächlich zerebralen
arteriellen Gasembolie kaum eine andere Differenzialdiagnose zu. Auch die erneute
geringe Verschlechterung der Symptomatik im Intervall zwischen 2 Druckkammerfahrten
ist typisch.
O2-Toxizität
Die in diesem Fall intensive Behandlung mit täglichen langen hyperbaren Expositionen
nach USN-Tabelle 6 lassen Komplikationen durch eine – prinzipiell reversible – pulmonale
O2-Toxizität befürchten, die theoretisch bereits nach der ersten hyperbaren Exposition
dieser Dauer auftreten kann.
In diesem Fall und auch in der klinischen Routine werden reversible pulmonale Symptome
der O2-Toxizität bewusst in Kauf genommen, um den Behandlungserfolg zu sichern und eine
dauerhafte Behinderung und ggf. Berufsunfähigkeit zu vermeiden.
In diesem Fall ist es trotz aggressiver und prolongierter Therapie der zunächst noch
objektiven, dann subjektiven Symptomatik zu keiner klinisch evidenten pulmonalen Beeinträchtigung
gekommen.
Diagnostik
Diagnostisch hätte im vorliegendem Fall vor der Druckkammerbehandlung als einzige
und ggf. kausale Therapieoption lediglich ein Röntgenthorax oder eine Sonografie zum
Ausschluss eines pulmonalen Barotraumas mit Pneumothorax und konsekutiver Gasembolie
genügt, insbesondere um die Komplikation eines Spannungspneumothorax am Ende der Druckkammertherapie
(„Auftauchen“) zu vermeiden. Die hier durchgeführte umfangreiche und zwischenzeitlich
irreführende neurologische Diagnostik ist bei hinreichendem Verdacht auf Tauchunfall
aber nicht notwendig und auch keineswegs zielführend, wie man an dieser Kasuistik
mit den z. T. fluktuierenden Verdachtsdiagnosen sehr schön erkennt.
Die hier – aufgrund der erhobenen Differenzialdiagnosen – sehr umfangreiche Diagnostik
dokumentiert jedoch selten eindrucksvoll die makroskopischen – zumeist im MRT, jedoch
oft nicht im CT sichtbaren – Auswirkungen eines Tauchunfalls und deren schnelle und
vollständige Regredienz bei adäquater Therapie.
Fazit Selbst bei Unsicherheiten sollte daher die kausale Therapie bei Verdacht auf Tauchunfall
keinesfalls verzögert, sondern auch im Zweifel begonnen werden. Als wichtigste Maßnahme
empfiehlt sich nach der kontinuierlichen Gabe von 100 % O2 ungeachtet der zumeist normalen Sättigung die zügige Verlegung an ein Druckkammerzentrum.
Nur so können oft auch schwerste Tauchunfälle mit Quadriplegie und Ateminsuffizienz
innerhalb weniger hyperbarer O2-Therapien zur Restitutio ad integrum führen. Behandlungsverzögerungen hingegen bedingen
schlechtere Langzeitergebnisse trotz deutlich verlängerter Therapiedauer mittels hyperbarer
Oxygenierung (HBO).
Interessenkonflikt Der Autor erklärt, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Beitrag online zu finden unter http://www.dx.doi.org/10.1055/s-0041-106598