Fragestellung Der Begriff „evidenzbasierte Medizin“ ist aus dem medizinischen Diskurs nicht mehr
wegzudenken, was angesichts der Popularität sachlich nicht fundierter und esoterisch
geprägter Heilmethoden sehr zu begrüßen ist. Dabei ist der Ausdruck „evidenzbasiert“
allerdings zu einem Qualitätsprädikat geworden, das bestimmten Inhalten oft ungerechtfertigt
zugeordnet wird. Der Schwerpunkt des Vortrags bezieht sich auf den Bereich „Alkoholpolitik“,
wo regelmäßig eine „evidenzbasierte Alkoholpolitik“ gefordert wird.
Methode Als Grundlage wurden gängige Diskurse zur Alkoholpolitik in Publikationen und Tagungsbeiträgen
in Hinblick auf die Forderung nach „evidenzbasierter Alkoholpolitik“ ausgewählt und
analysiert.
Ergebnis Der Ausdruck „evidenzbasiert“ wird in fachlichen Diskursen in drei unterschiedlichen
Bedeutungen verwendet: erstens als „mittels randomisierter kontrollierter Studien
gewonnene Erkenntnisse“, zweitens als „mittels empirischer Forschung gewonnene Erkenntnisse“
und drittens als „Erkenntnisse, die aufbauend auf die besten aktuell vorliegenden
Grundlagen gewonnen wurden“. Erstere Bedeutung kann zu Recht einen hohen Geltungsanspruch
stellen. Derartige Studien sind im Feld Alkoholepidemiologie allerdings nur selten
umsetzbar, weswegen dieser Bedeutung quantitativ nur geringer Stellenwert zukommt.
Die zweite Bedeutung schließt zahlreiche Studien und Interpretationen ein, die man
als „naiven Empirismus“ qualifizieren kann. Sie kann daher nur sehr begrenzt Geltung
beanspruchen. Die dritte Bedeutung des Begriffs ist realistisch und angemessen. Es
muss einem aber bewusst sein, dass die beste vorhandene Evidenz in manchen Bereichen
sehr dürftig ist und aus „evidenzbasiert“ in diesem Sinn nicht unbedingt ein hoher
Geltungsanspruch ableitbar ist.
Diskussion Mit dem Attribut „evidenzbasiert“ werden also Befunde mit recht unterschiedlichem
Geltungsanspruch versehen – wobei auch dort, wo das nicht angemessen ist, der Eindruck
vermittelt wird, dass es sich dabei um wissenschaftlich gut gesicherte Erkenntnisse
handelt. Zudem ergibt sich bei Verwendung des Ausdrucks „evidenzbasierte Politik“
noch ein zweites gravierendes Problem: Der Ausdruck „evidenzbasierte Alkoholpolitik“
suggeriert, dass Evidenz nicht bloß eine notwendige, sondern eine hinreichende Grundlage
für praktische Entscheidungen darstelle. So wird der Einfluss der dahinterstehenden
Welt-, Menschen- und Gesellschaftsbilder auf Entscheidungen systematisch verschleiert.