kma - Klinik Management aktuell 2018; 23(01/02): 88-90
DOI: 10.1055/s-0036-1595045
Medizin
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart

Bundesverfassungsgericht-Urteil Zur Studienplatzvergabe: Kein Problem wird gelöst

Heyo Kroemer
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Publication Date:
06 February 2018 (online)

 

    Die Karlsruher Richter haben das Verfahren zur Vergabe von Medizinstudienplätzen für teilweise verfassungswidrig erklärt. Prof. Dr. Heyo Kroemer, Präsident des Medizinischen Fakultätentages, analysiert und kommentiert für kma die Auswirkungen des Urteils.


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    Medizinstudenten im Learning Resources Center (LRC) der Universitätsmedizin Göttingen. Viele andere Bewerber müssen hingegen jahrelang auf einen Platz warten, denn die Zahl der Bewerber übersteigt die Zahl der vorhandenen Medizinstudienplätze um ein Vielfaches.(Foto: Uniklinik Göttingen)

    Die Bundesrepublik Deutschland ist stets bemüht, Ungerechtigkeiten aller Art durch staatliche Eingriffe zu beseitigen. Ein besonderer Missstand existiert offensichtlich im Bereich der Vergabe von Studienplätzen in der Medizin. Jeder von uns kennt den Nachbarssohn respektive -tochter, der bzw. die unbedingt den Arztberuf ergreifen möchte und sich dafür zwar nicht durch eine sehr gute Abiturnote, aber durch ein extrem hohes Maß an Empathie zweifelsfrei eignet.

    Solche Kandidaten begeben sich heute in einen nicht zu gewinnenden Wettbewerb: Für rund 11 000 Studienplätze gab es in 2016 mehr als 60 000 Bewerbungen. Falls ein Studienplatz nicht direkt erreicht wird (20 Prozent der Abiturbesten erhalten direkt einen Platz), begibt sich der Bewerber in eine nicht absehbare Wartezeit, deren maximale Dauer mittlerweile bei mehr als sieben Jahren liegt und somit die Dauer des Studiums überschreitet. Letzteres war der Ausgangspunkt für die Klage beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Über diese Klage wurde nun am 19. Dezember 2017 entschieden – auch wenn die Kläger ironischerweise durch die lange Wartezeit mittlerweile längst einen Studienplatz bekommen haben.

    Bundesärztekammer spricht von richtigem Signal
    Die Reaktionen auf das Urteil waren überwiegend sehr positiv. Der Bayerische Rundfunk lobte, die Entscheidung des Gerichtes sei „eine gute Nachricht für diejenigen, die Medizin studieren wollen. Denn so wie die Studienplätze bislang vergeben worden sind, soll es nicht bleiben“. Auch für Frank-Ulrich Montgomery, dem Präsidenten der Bundesärztekammer, ist das Urteil „genau das richtige Signal zur richtigen Zeit. Dass Karlsruhe Änderungen bei der Studienplatzvergabe anmahnt, ist nicht nur eine gute Nachricht für viele hochmotivierte junge Menschen, denen der Zugang zum Arztberuf bislang de facto versperrt ist.“

    Ist das tatsächlich so? Schauen wir uns die Entscheidung aus Karlsruhe genauer an. Eine verständliche Zusammenfassung des Urteils findet sich in der offiziellen Pressemitteilung des Gerichts. Danach stellen die Richter fest, dass gegen die Vergabe von 20 Prozent der Studienplätze an die Abiturbesten keine Bedenken bestehen. Auch die Vergabe nach Wartezeit sei nicht zu beanstanden. Sehr wohl ist aber nach ihrer Auffassung eine zeitliche Begrenzung dieser Wartezeit notwendig, allerdings ohne die Quote von derzeit 20 Prozent zu erhöhen. Wichtig ist: Die bisherige Garantie auf einen Studienplatz durch dieses Verfahren („wer lange genug wartet, bekommt irgendwann einen Platz“) ist nicht mehr gegeben.

    Ortspräferenz darf nicht über Auswahl bestimmen
    Wesentliche verfassungsrechtliche Bedenken haben die Richter in zwei Punkten geäußert: Zum einen darf die Ortspräferenz nicht das bestimmende Auswahlkriterium sein, da sie keine Aussage über die Eignung zum Studium oder Arztberuf beinhaltet. Was heißt das? Bisher konnte der Bewerber maximal sechs Orte in absteigender Präferenz angeben, an denen er bevorzugt studieren möchte. In der zentralen Vergabe der Studienplätze allein über die Abiturbesten ergab sich bei einer gewissen Konstellation die Situation, dass ein Bewerber bei einer unglücklichen Angabe der Ortspräferenzen abgelehnt wurde, während ein anderer Bewerber trotz etwas schlechteren Notendurchschnittes andernorts noch einen Platz bekam. Das muss nun korrigiert werden.

    Bei den Auswahlverfahren der Hochschulen (AdH), über die 60 Prozent der Plätze vergeben werden, ist dies komplizierter. Werden an einer Hochschule allein auf automatisiertem Wege die Plätze vergeben, darf auch hier die Ortspräferenz zukünftig keine entscheidende Rolle mehr spielen. Viele Hochschulen führen allerdings auch aufwendige, individualisierte Bewerbungsverfahren mit Auswahlgesprächen oder Testverfahren vor Ort durch, zu denen die Bewerber eingeladen werden. Diese medizinischen Fakultäten folgen dem ausdrücklichen Aufruf der Politik, sich individuell zu profilieren und damit bestimmte Bewerber anzuziehen. Da diese individuellen Verfahren zeitgleich innerhalb weniger Wochen im Sommer durchgeführt werden müssen, erlauben die Richter hier weiterhin die Hinzuziehung der Ortspräferenz. Denn dadurch können die Bewerberzahlen so begrenzt werden, dass der Aufwand für die Fakultäten angemessen bleibt.

    Richter sehen Regelungsbedarf bei Auswahlverfahren der Hochschulen
    Bei den Auswahlverfahren der Hochschulen (AdH) sieht das Gericht darüber hinaus weiteren grundsätzlichen Regelungsbedarf. Der Spielraum der Hochschulen ist dabei aktuell sehr eingeschränkt, da gesetzlich fixiert ist, dass die Abiturnote auch bei diesem Auswahlverfahren einen bestimmenden Einfluss haben muss, in manchen Bundesländern sogar auf jeder Stufe des Auswahlprozesses. Das Gericht moniert insbesondere, dass eine länderübergreifende Vergleichbarkeit der Abiturdurchschnittsnoten nicht gegeben ist, und fordert, auch dies im AdH zukünftig zu korrigieren. Die weiteren Auswahlkriterien, die Hochschulen nutzen dürfen, sind schon jetzt durch die jeweiligen Landesgesetze festgelegt und wurden vom Gericht nicht beanstandet. Gut etabliert sind beispielsweise zentrale medizinspezifische Testverfahren (TMS oder HAMNat), die mittlerweile bereits von 27 Fakultäten für ihre Auswahl genutzt werden.

    1,0 – 1,1*
    Abiturdurchschnittsnote

    Notwendige Abiturdurchschnittsnote, um über die Abiturbestenquote für das Wintersemester 2017/2018 einen Studienplatz im Studiengang Humanmedizin zu erhalten.

    *Abhängig vom Bundesland Quelle: Stiftung für Hochschulzulassung

    Lediglich die Länder Bayern und Hamburg erlauben es den Hochschulen, darüber hinaus eigene Kriterien nach Zustimmung des Landes anzuwenden. Diese sogenannte „Kriterienerfindungsklausel“ wurde vom Gericht moniert und die beiden Länder müssen sich wieder den anderen Ländern angleichen. Zudem müssen alle Bundesländer in Zukunft gesetzlich festhalten, dass die individuellen Auswahlgespräche bzw. Testverfahren, sofern sie an den Hochschulen angewendet werden, in standardisierter und strukturierter Weise stattzufinden haben. Wichtig ist, dass der Gesetzgeber neben der Abiturnote nun noch mindestens ein weiteres Auswahlkriterium zur Anwendung festschreiben muss. Dieses Auswahlkriterium muss unabhängig von Schulnoten sein und wenigstens teilweise die Eignung für Studium oder Arztberuf messen. Für all diese Änderungen gibt das Gericht eine Frist bis zum 31. Dezember 2019.

    Mangel wird neu verwaltet
    Welche Konsequenzen ergeben sich nun für die Vergabe der begehrten Medizinstudienplätze? Das grundsätzliche Problem von 11 000 Studienplätzen gegenüber 60 000 Bewerbungen wird durch das Urteil selbstverständlich nicht angegangen. Der bestehende Mangel wird neu verwaltet und junge Menschen, die sich bisher aufgrund herausragender Abiturleistungen sicher für ein Medizinstudium qualifizieren konnten, gehen in Zukunft zugunsten anderer leer aus. Angesichts des Kampfes um die begehrten Plätze und der Heerscharen von Anwälten, die halbjährliche Klagewellen gegen die Universitäten starten, ist zu hoffen, dass die neuen Auswahlkriterien im Minimum rechtssicher sein werden, wobei die Gerichtsfestigkeit von Empathie als Eignungsmerkmal für den Arztberuf eine interessante Herausforderung darstellt. Ob die neuen Regeln dazu führen, dass die Bundesrepublik in Zukunft geeignetere Kandidaten für den Arztberuf findet und damit langfristig die Versorgung verbessert, werden wir mangels Kontrollgruppe nie erfahren.

    Bewerber und Studienplätze im Bereich Medizin / Wintersemester 2017/2018 (Stand: 8. August 2017)

    Studiengang

    Studienplätze

    Bewerber

    Medizin

    9 176

    43 184

    Tiermedizin

    1 067

    4 409

    Zahnmedizin

    1 516

    6 043

    Pharmazie

    1 848

    4 090

    Summe

    13 607

    57 726

    Quelle: Stiftung für Hochschulzulassung

    14
    Wartesemester

    waren notwendig, um für das Wintersemester 2017/2018 über die Wartezeitquote ein Studienplatz für Humanmedizin zu erhalten.
    Quelle: Stiftung für Hochschulzulassung

    Die medizinischen Fakultäten fordern bereits seit langem die Abschaffung des jetzigen Quotensystems und die ergänzende Hinzuziehung weiterer Kriterien neben der Abiturnote. Es gibt von Seiten des Medizinischen Fakultätentages (MFT) gemeinsam mit dem Bund der Medizinstudierenden (bvmd) einen ganz konkreten Vorschlag, der auch die Vorgaben des Gerichts elegant umsetzt:

    • Abschaffung der Wartezeitquote, der AdH-Quote und der Abiturbestenquote, nur die Vorabquote für Härtefälle etc. bleibt bestehen.

    • Einführung eines bundeseinheitlichen, spezifischen Medizintests. Dieser vergibt gleichgewichtig zur korrigierten Abiturnote und unter zusätzlicher Berücksichtigung von berufspraktischen Erfahrungen sowie sozialer Kompetenzen direkt die Hälfte der Plätze.

    • Auf der Basis dieser kombinierten Kriterien wird eine größere Vorauswahl für individualisierte, standardisierte und strukturierte Auswahlverfahren der Hochschulen getroffen, über die die andere Hälfte der Plätze vergeben wird.

    Eine solche Kombination würde die geforderten zusätzlichen Qualifikationsmerkmale ebenso wie eine individuelle Profilierungsmöglichkeit der Universitätsmedizin mit Ausstrahlung für besonders geeignete Bewerber beinhalten. Inwieweit sich die Bundesländer innerhalb des vom Gericht vorgegebenen Zeitraumes auf ein einheitliches Modell verständigen können, bleibt abzuwarten. Alternativ könnte auch der Bund im Hochschulrahmengesetz den Ländern einen eng gesteckten Rahmen dafür vorgeben. Dafür braucht es allerdings bald eine handlungsfähige Regierung. Für eine zeitnahe, bundesweit einheitliche Umsetzung gilt so oder so: Skepsis wäre ein Euphemismus.

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    Prof. Dr. Heyo Kroemer ist Sprecher des Vorstands der Universitätsmedizin Göttingen. Seit 2012 fungiert der Pharmakologe zudem als Präsident des Medizinischen Fakultätentages (MFT), dem Verband der Medizinischen Ausbildungs- und Forschungsstätten.(Foto: Universitätsmedizin Göttingen)

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    Medizinstudenten im Learning Resources Center (LRC) der Universitätsmedizin Göttingen. Viele andere Bewerber müssen hingegen jahrelang auf einen Platz warten, denn die Zahl der Bewerber übersteigt die Zahl der vorhandenen Medizinstudienplätze um ein Vielfaches.(Foto: Uniklinik Göttingen)
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    Prof. Dr. Heyo Kroemer ist Sprecher des Vorstands der Universitätsmedizin Göttingen. Seit 2012 fungiert der Pharmakologe zudem als Präsident des Medizinischen Fakultätentages (MFT), dem Verband der Medizinischen Ausbildungs- und Forschungsstätten.(Foto: Universitätsmedizin Göttingen)