Was mit diesem Licht genauer gemeint ist? Wohl in erster Linie die Freiheit, die Herausforderungen
der Daseinsbewältigung durch Gebrauch der Vernunft zu bewältigen, gepaart mit einem
Humanismus, welcher als Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen in
der Französischen Revolution zum Motto wurde. Für den deutschen Sprachraum hat Immanuel
Kant die prägende Definition gegeben. Aufklärung sei „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, definierte er als Antwort auf einen Aufruf der Berliner Monatsschrift 1784. „Sapere aude“ war der Wahlspruch: Habe Mut zu denken, weise zu sein und die Ketten und Begrenztheiten
alter Traditionen zu zerreißen. In der Tat haben die Vertreter dieser geistesgeschichtlichen
Epoche, für welche der Zeitraum von 1650–1800 angegeben wird, eine große Wende herbeigeführt.
Die strenge Rationalität René Descartes und die neue empirisch-wissenschaftliche Forschungsmethode
Francis Bacons hatten die Aufklärung vorbereitet, sie wurde von Voltaire mit Ironie
und Parodie und auch als Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen verbreitet.
Die enzyklopädische Übersicht Denis Diderots über das verfügbare Wissen, die nüchterne
Sicht David Humes auf die menschliche Natur und die glasklare Gedankenwelt Immanuel
Kants sind nur einige Beispiele für eine phänomenale menschliche Leistung, welche
zum richtigen Zeitpunkt auch von einer umfassenderen Humanität, Demokratisierung und
der Befreiung breiter Volksschichten begleitet wurde. Nicht zuletzt wurde sie unterstützt
durch Technologien wie den Buchdruck mit beweglichen Lettern und ein an Zahl zunehmendes
Bildungsbürgertum. Sie nahm Veränderungen den Schrecken und verband sie zunehmend
mit der positiven Assoziation von nutzbringendem Fortschritt. Sie nahm damit auch
Einfluss auf unsere Lebenserwartung: In Folge der auf den Weg gebrachten Fortschrittlichkeit
ist sie seither – in der Menschheitsgeschichte einmalig – in einem beständigen Ansteigen
begriffen.
Auch wenn die Lebenserwartung vermutlich bei 100 Jahren nicht Halt machen wird: ewiges
Leben ist auch dies nicht und auch keine Garantie für ein erfülltes Leben. Kann unser
menschlicher Verstand wirklich die uns umgebende Welt wie auch unsere inneren Wirklichkeiten
umfassend erfassen? Eine Thematik, die auch in der Literatur vielfach aufgegriffen
wurde – ist vielleicht der Dichter oder Komponist in seiner ganzheitlicheren Synthese
besser zur Erfassung der Wirklichkeit begabt als der analytisch reduzierende Wissenschaftler?
Nicht nur die Romantik als sich zeitlich anschließende Gegenbewegung hat hier Zweifel
geäußert und auf das schlechthin Unaufklärbare hingewiesen. Es ist fast eine Paradoxie,
dass neben Sigmund Freuds psychoanalytischer Herangehensweise auch die modernen Neurowissenschaften,
basierend auf den von der Aufklärung verbreiteten methodischen Grundlagen, ein „Unbewusstes“
nahelegen [1]
[2]
[3]. Und ist nicht dort, wo Licht ist, auch Schatten? Z. B. das nur einseitig Aufgeklärte
mit der Produktion eines „eindimensionalen Menschen“, ungeschützt gegenüber den Manipulationen
einer übermächtigen, suggestiven Konsumgesellschaft [4]? Der historische Begriff der Aufklärung ist mit solchen modernen Überlegungen im
Grunde unzulässig überfrachtet. Auch wenn sich heute komplementäre Sichtweisen eröffnen
– der Anspruch vernünftigen Analysierens, Bewertens und Handelns gilt weiter, insbesondere
in gesellschaftlich rechenschaftspflichtigen Belangen.
Gilt dies auch für das Gesundheitswesen? Die Antwort dürfte kaum überraschen: Ja,
selbstverständlich auch im Gesundheitswesen. Hier scheint es bisweilen, dass der „aufgeklärte“
Ansatz in vielen Bereichen „steckengeblieben“ bzw. unabgeschlossen, vielleicht auch
ambivalent ist und weiteres Ringen um Vernunft und Menschlichkeit notwendig ist. Ein bei hoher analytischer „Flughöhe“ abstrakt festgestelltes
Vernunftdefizit ist im Gesundheitswesen bei Betrachtung der konkreten Folgen in den täglichen Routinen
meist sehr schnell auch ein Humanitätsdefizit. Es findet sich nicht nur bei esoterischen Heilsversprechen, sondern auch in der regulären
Gesundheitsversorgung, nämlich überall da, wo Über-, Unter- und Fehlversorgung ihre
Schatten werfen. Dort, wo die Rationalität von Egotaktik und kurz gedachtem Gewinnstreben
einer (mit)menschlichen Vernunft entgegensteht. Auch dort, wo ein von Arroganz hervorgebrachtes
Strahlen die Sachverhalte in ihrem Sein nicht erhellt, sondern den Betrachter blendet.
Ein Mehr an Vernunft tut not, wenn Kinder nicht die Chance erhalten, bei bestmöglicher
Gesundheit ihre Potenziale für sich und andere zu entfalten. Wenn die Begeisterung
für eine Hochleistungs- und Präzisionsmedizin blind macht für die Notwendigkeit relevanter
Forschung, um zu ausgewogenen Entscheidungen durch Leistungserbringer, Finanziers
und politische Entscheidungsträger zu kommen, idealerweise gemeinsam mit den Patienten
(siehe auch http://www.patient-als-partner.de) [5]
[6]. Wenn es vierer Anläufe bedarf, um ein Gesetz zur Förderung von Prävention und Gesundheitsförderung
zur Entscheidung zu bringen [7]. Wenn am Lebensende das medizinisch Machbare, vielleicht auch das für die Leistungserbringer
und die zuliefernde Industrie finanziell Gewinnbringende, das menschlich Vernünftige
verdrängt. Auch da, wo fehlplatzierte ökonomische Rationalität oder Austerität die
auf den Menschen gerichtete Rationalität des Helfens, Heilens und Linderns verdrängen.
Wenn Forschung und Produktion von Impfstoffen und Antibiotika posteriorisiert werden,
wenn Zulassungsstudien gefälscht und für wirksame Medikamente Preise verlangt werden,
welche weit über den tatsächlichen Produktions- und Entwicklungskosten liegen – auch
wenn die Prinzipien dieser neuen Wirkstoffe oftmals im öffentlich finanzierten universitären
Sektor entwickelt wurden [8].
Schmerzlich ist es auch, wenn professionelle Körperschaften, deren institutionelle
Ethik das Wohl des Kranken an die erste Stelle setzen sollte, sich gegen Transparenz
und öffentliche Rechenschaftslegung entscheiden. Nicht ohne Grund wird die Intransparenz
von so manchen Leistungs- und Abrechnungsdaten beklagt, welche einer Qualitätsentwicklung
und sinnvollen Kontinuität der Versorgung entgegensteht. Bisweilen sind es auch „nur“
menschliche Egoismen und Eifersüchteleien, welche die sinnvolle Zusammenlegung von
Ressourcen, Studien- oder Registerdaten behindern. Zu prüfen wäre auch die Rolle der
Medien, die gerne einseitig das Negative betonen: „bad news is good news“ [9].
Gleichzeitig gibt es auch so manchen Lichtblick, der auf mehr „Qualität, Humanität
und Wirtschaftlichkeit“ (§+70 SGB V) in unserem Gesundheitswesen hoffen lässt. Beispiele
hierfür? Nicht nur die Bewegung der evidenzbasierten Medizin und eine zumindest teilweise
etablierte Gesundheitsberichterstattung, auch Institutionen wie die Cochrane-Zentren,
das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), das
neu entstehende Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen
(IQTiG) oder das Institut für Patientensicherheit. Auch der vielerorts stattfindende
beharrliche und oft stille Einsatz denkender Menschen in Medizin, Pflege, Rehabilitation,
Prävention und Gesundheitsförderung, in den vielfältigen Steuerungsfunktionen innerhalb
des Systems Gesundheitswesen und in der Forschung, teilweise mit Verzicht auf monetäre
Vergütungen (Conrad Röntgen, Jonas Salk (Polio), Harald zur Hausen (HPV)).
Etwas Licht ins Dunkle möchten auch wieder die verschiedenen Beiträge dieser Ausgabe
tragen. Sie beleuchten Themen wie Qualitätsindikatoren für die Diagnostik und Behandlung
von ADHS, Kinderschutz in der pädiatrischen Praxis, eine differentielle Versorgung
von Patienten mit psychischen Störungen, die Berufszufriedenheit von Hausärzten, eine
Vorausberechnung des ambulanten Leistungsvolumens und des Hausärztebedarfs, die Sicht
von Bürgermeistern auf den Versorgungsgrad sowie Mindeststandards für die räumliche
Erreichbarkeit hausärztlicher Versorgung, die ökonomische Evaluation integrierter
Versorgung und die Zielgruppenerreichung in Präventionsprojekten. Im Besonderen wird
auch auf ein Diskussionspapier des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung – „Qualitative
Methoden“ – hingewiesen.
Mögen die vielen guten Ansätze im Gesundheitswesen, von IQTiG bis elektronischer Gesundheitskarte,
nicht den Schatten der Egoismen und den Blendungen der Spiegelfechtereien in der Gremienarbeit,
in den gesundheitspolitischen Diskursen und verbandspolitischen Debatten zum Opfer
fallen. Bemerkenswerterweise hat Immanuel Kant im Zusammenhang mit öffentlichen Belangen
auch eine „transzendentale Formel des öffentlichen Rechts“ formuliert. Sie könnte
nicht nur für Verhandlungen auf staatlicher, zwischenstaatlicher und außerstaatlicher
Ebene gelten, sondern durchaus auch als kategorischer Imperativ für das Gesundheitswesen
auf Systemebene: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht
mit Publizität verträgt, sind unrecht“ [10]. Was wiederum eine sachgerechte, nicht manipulative Information über Sachverhalte
erfordert. Eine solche „aufgeklärte Publizität“ setzt dabei eine erkenntnisorientierte
und ethisch verantwortliche Pressearbeit voraus. Die Erfahrung zeigt, dass dies mit
investigativem Journalismus zur Deckung kommen oder auch weit auseinander fallen kann.
Vielleicht ist die Sorge um die auch gegebene Verletzlichkeit der kleinen Flamme der
Vernunft in allen Lebensbereichen etwas, an das man bei den verschiedenen Lichterfesten,
von Weihnachten bis Chanukka, beim Entzünden der Lichter mitdenken will – und natürlich
auch beim Betrachten des „bestirnten Himmels über [uns] und des moralischen Gesetzes in [uns]“ (Kant).