Z Sex Forsch 2017; 30(01): 82-89
DOI: 10.1055/s-0035-1567168
Buchbesprechungen
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Publication Date:
22 March 2017 (online)

Wilhelm F. Preuss. Geschlechtsdysphorie, Transidentität und Transsexualität im Kindes- und Jugendalter. Diagnostik, Psychotherapie und Indikationsstellungen für die hormonelle Behandlung. München, Basel: Ernst Reinhardt 2016 (Reihe: Bausteine der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Bd. 5). 288 Seiten, EUR 39,90

Mit seinem 2016 erschienenen, beeindruckenden Buch setzt sich Wilhelm Preuss in differenzierter Weise mit dem Gebiet der Transidentität in Kindheit und Jugend auseinander. Das Werk liefert den in der Begleitung und Behandlung solcher Kinder und Jugendlicher erfahrenen Fachleuten eine Fülle von Anregungen, nicht zuletzt durch die Aufarbeitung der aktuellen Literatur zu diesem Thema. Ebenso stellt diese Monografie auch für die Kolleg_innen, die sich in das Gebiet der Transidentität einarbeiten wollen, eine ausgezeichnete Möglichkeit dar, sich mit den zentralen Inhalten dieser Thematik auseinanderzusetzen. Beeindruckend sind in den Darstellungen des Autors der große Respekt, der seinen Umgang mit diesen Kindern und Jugendlichen prägt, und die einfühlsame Art, in der er ihnen begegnet.

Das Buch gliedert sich in zehn Hauptkapitel, die didaktisch sehr gut aufeinander aufbauen. Hilfreich für eine schnelle Orientierung sind die in den Randspalten angebrachten Piktogramme, die auf Literaturempfehlungen, Beispiele, Merksätze, Definitionen, Studien zum betreffenden Thema und vermeidbare Fehler hinweisen.

Der Autor möchte mit seinem Werk kein Lehrbuch, sondern ein „Arbeitsbuch“ vorlegen, „das Anregungen geben soll, sich auf die spezifischen Bedürfnisse geschlechts-dysphorischer Kinder und Jugendlicher möglichst gut einzustellen“ (S. 11). Terminologisch geht Preuss in z. T. durchaus eigenwilliger Art vor, etwa indem er i. S. der ICD-10 den Begriff „Transsexualität“ über die Notwendigkeit einer hormonellen Behandlung definiert und für die Fachleute, die bei transidenten Jugendlichen die Indikation für eine Pubertätsblockade und später für eine Behandlung mit gegengeschlechtlichen Hormonen stellen, den Begriff der „Transgender-Spezialist[en] für Kinder und Jugendliche“ oder kurz „Gender-Spezialist[en]“ kreiert (S. 10). Auch scheut sich Preuss nicht, hier und da von „Geschlechtsidentitätsstörungen“ und von „Ko-Morbiditäten“ zu sprechen, was den Eindruck erwecken könnte, er betrachte die Transidentität als etwas Pathologisches. Dass dies jedoch absolut nicht die Auffassung des Autors ist, der im Gegenteil bestrebt ist, die Transidentität zu entpathologisieren, wird während der Lektüre deutlich.

Wohltuend sind in der Darstellung von Preuss sein Plädoyer für ein ganz individuelles Vorgehen und seine Warnung vor der Befolgung starrer Normen und der Einteilung in Klassifikationen der Patient_innen.

Bei einem so zentral Genderfragen betreffenden Thema wie der Transidentität mutet es indes etwas merkwürdig an, dass der Autor in der Einleitung ausführt, er werde in seiner Darstellung meist das generische Maskulinum verwenden (S. 17). Zum Glück hält er diesen Vorsatz nicht durch, sondern erwähnt sehr häufig beide Geschlechter.

Nachfolgend sollen einige Einblicke in die Fülle der Informationen gegeben werden, die der Autor in den zehn Kapiteln und im Anhang dieses Buches vermittelt.

In der Einleitung und im Kapitel 1 „Einführung in die Klinik“ macht der Autor die Leser_innen mit der gängigen Terminologie vertraut und definiert die wichtigsten Begriffe wie „Transsexualität“, „Geschlechtsempfinden“ und „Geschlechtsdysphorie“. Anhand der eingestreuten praxisorientierten kasuistischen Vignetten in diesen wie in den anderen Kapiteln veranschaulicht Preuss die theoretischen Ausführungen.

In Kapitel 2 „Die Beachtung der verschiedenen Perspektiven“ legt der Autor die Grundlagen für eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Transidentität von Kindern und Jugendlichen. So unterscheidet Preuss die Perspektiven der Kinder, der Eltern und der Vertreter_innen der anderen an der Begleitung und Behandlung transidenter Kinder und Jugendlicher Beteiligten und diskutiert die ethischen Herausforderungen für die Gender Spezialist_innen anhand der ethischen Debatte zwischen 36 Expert_innen aus verschiedenen Ländern über die multimodale Behandlung geschlechtsdysphorischer Jugendlicher.

Kapitel 3 „Medizinische Grundlagen“ ist den Themen der embryonalen Entwicklung der Geschlechtsorgane, den Variationen der somatischen sexuellen Entwicklung (Intersexualität), der Prävalenz für Geschlechtsdysphorie bei Kindern und Jugendlichen sowie der Klärung von „Identität“ und „Geschlechtsidentität“ gewidmet.

In Kapitel 4 setzt sich Preuss mit den uns heute vorliegenden Überlegungen zur „Ätiologie“ der Transidentität auseinander. Dabei versteht der Autor die transsexuellen Entwicklungen in Anlehnung an Nieder et al. als ein „multifaktoriell moderiertes Geschehen [...], bei dem biologische, psychologische und soziale Faktoren ein einzigartiges, mehrfach determiniertes Zusammenspiel bewirken“ (S. 73 ff.) – zu gut Deutsch: wir wissen nicht, wie Transidentität entsteht.

Kapitel 5 ist den „Besonderheiten der psycho-sexuellen Entwicklung bei Trans-Jugendlichen“ gewidmet. Wie Preuss am Beginn dieses Kapitels ausführt, soll die Diskussion der verschiedenen Theorien zur kognitiven und psychosexuellen Entwicklung als „Anregung für eine entwicklungsorientierte Psychotherapie, nicht nur bei transsexuellen Jugendlichen, sondern auch bei geschlechtsdysphorischen sowie geschlechtsvarianten Kindern und Jugendlichen dienen“ (S. 89). Preuss spannt einen weiten Bogen, der von evolutionsbiologischen Überlegungen über die Bindungstheorien, die Theorie der Geschlechterspannung von Reimut Reiche, Eriksons Theorie der Identitätsentwicklung, Pfäfflins „transsexuelle Abwehr“, Fonagys Mentalisierungstheorie bis zu Kohlbergs Theorie der frühen Geschlechtsidentitätsentwicklung und Marcias Theorie der Geschlechtsidentitätsentwicklung in der Adoleszenz reicht. Vielleicht wäre es für die Leser_innen hilfreich gewesen, wenn Preuss hier eine kritische Auseinandersetzung mit diesen verschiedenen Theorien vorgenommen hätte. Explizit eigene, interessante Überlegungen stellt der Autor dann aber in Kapitel 5.2 über die „Annahme eines basalen Geschlechtszugehörigkeitsempfindens“ dar. Auch wenn er meint, er erhebe damit keinen Anspruch auf eine weitere Theorie, sind es doch originelle und für das Verständnis transidenter Menschen wertvolle Überlegungen, mit denen es dem Autor gelingt, sich von pathologisierenden Theorien zur Genese der Transidentität freizumachen. Preuss geht von einem „Geschlechtszugehörigkeitsempfinden, sei es klar, eindeutig, binär-polar, nicht-binär oder undeutlich diffus“ (S. 106) aus, „das immer schon gegeben ist und unter jenen Schichten des Seelenlebens (liegt), auf denen Konflikte entstehen und wahrgenommen werden können“ (S.106). Dabei dient die „Geschlechtlichkeit des Menschen als ‚Organisator‘ für die subjektive identitäre Stimmigkeit“ (S. 106).

Das umfangreichste Kapitel 6 widmet sich der „Diagnostik“. Neben allgemeinen Grundlagen schildert der Autor hier die wichtigsten Aspekte der Anamnese-Erhebung und des psychopathologischen Befundes und behandelt differenzialdiagnostische Fragen wie Borderline-Störungen, dissoziative und Trauma-Folgestörungen, psychotische Erkrankungen und Autismus-Spektrum-Störungen.

Entsprechend seiner in dieser Monografie vorgenommenen Unterscheidung zwischen „genderdysphorischen“ Kindern und Jugendlichen, bei denen lediglich psychotherapeutische Interventionen nötig sind, und „transsexuellen“ Jugendlichen, bei denen eine Pubertätsblockade und später eine Behandlung mit gegengeschlechtlichen Hormonen indiziert ist, stellt Preuss in den Kapiteln 7: „Psychotherapie“ und 8: „Die multimodale Behandlung transsexueller Jugendlicher“, die verschiedenen psychotherapeutischen Interventionen für diese Gruppen vor, nennt die wichtigsten Behandlungsziele, geht auf die Formen der Zusammenarbeit mit den anderen an der Behandlung beteiligten Gender Spezialist_innen ein und macht aufgrund seiner therapeutischen Erfahrungen konkrete Vorschläge für die verschiedenen Behandlungsphasen.

„Rechtliche und ethische Fragen“ behandelt das Kapitel 9, so die Vornamens- und Personenstandsänderung und die Gutachtenerstellung. Außerdem geht Preuss auf wichtige rechtliche Begriffe zum Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger und auf ethisch-rechtliche Aspekte ein.

In dem kurzen abschließenden Kapitel 10 „Ausbildung und Weiterbildung“ empfiehlt der Autor den Leser_innen, sich mit konstruktiv-kritischen Positionen hinsichtlich einer frühen hormonellen Behandlung transsexueller Jugendlicher auseinanderzusetzen, um das eigene Handeln selbstkritisch zu reflektieren. Er verweist darauf, dass im Rahmen einer neu geordneten Weiterbildung für Sexualtherapeut_innen der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung voraussichtlich ab 2017 ein Vertiefungskurs für Gender Spezialist_innen angeboten werden wird.

Im Anhang gibt Preuss eine Übersicht über Informationsquellen wie Videos und Spielfilme, aber auch hinsichtlich Fachgesellschaften und Internetseiten für Trans*Kinder und Trans*Jugendliche und ihre Familien, nennt Ratgeberliteratur und stellt die Tanner-Stadien der pubertären körperlichen Veränderungen bei Mädchen und Jungen dar. Ein ausführliches Literaturregister ermöglicht den Leser_innen den Zugang zu einer Fülle von Literatur.

Wilhelm Preuss hat mit dieser hervorragenden, auf sehr gute Weise Theorie und Praxis miteinander verbindenden Monografie eine Lücke geschlossen, die es den mit transidenten Kindern und Jugendlichen arbeitenden Fachleuten ermöglicht, einen fundierten, die aktuelle Forschungslage berücksichtigenden Einblick in die mit der Transidentität zusammenhängenden Fragen und Probleme zu gewinnen.

Udo Rauchfleisch (Basel)