Flugmedizin · Tropenmedizin · Reisemedizin - FTR 2015; 22(05): 215
DOI: 10.1055/s-0035-1564977
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Analyse von unfallverursachenden Faktoren – Human Factors and Classification System auf dem Prüfstand

Cohen TN, Wiegmann DA, Shappell SA.
Evaluating the reliability of the human factors analysis and classification system.

Aerosp Med Hum Perform 2015;
86: 728-735
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
22. Oktober 2015 (online)

 

Cohen TN, Wiegmann DA, Shappell SA. Evaluating the reliability of the human factors analysis and classification system. Aerosp Med Hum Perform 2015; 86: 728–735

Thema: Seitdem Flugunfälle systematisch untersucht wurden, zeigte sich immer wieder, dass der Mensch in etwa 70–80 % aller Zwischenfälle und Unfälle in der Luftfahrt ursächlich daran beteiligt oder mitbeteiligt ist. Um dies zu verändern, ist wiederholt versucht worden, ein Werkzeug zur detaillierten Ursachenanalyse von Flugunfällen zu entwickeln, um daraus effektive präventive Strategien zur Unfallverhütung ableiten zu können, die zu einer Verminderung von Unfallzahlen beitragen könnten. Das von Wiegmann und Shappell erstmals 2001 publizierte „Human Factors and Classification System (HFACS)“ [ 1 ], [ 2 ] hat dabei in den letzten Jahren eine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Es baut auf dem von dem englischen Psychologen James Reason beschriebenen Schweizer-Käse-Modell auf und versucht, die durch den „Human Factor“ hervorgerufenen ursächlichen Faktoren eines Unfalls beziehungsweise Zwischenfalls zu identifizieren und nach der ihnen zugrunde liegenden Ätiologie zu kategorisieren, um Unfalluntersucher mit einem Werkzeug zur Unfallanalyse auszustatten. Das ursprünglich beschriebene Verfahren unterscheidet im Rahmen des Analyseprozesses 4 verschiedene Ebenen (1. Risikovolle Handlungen, 2. Vorbedingungen für risikovolle Handlungen, 3. Nicht ausreichende Überwachung, 4. Organisatorische Einflussfaktoren) mit insgesamt 19 Kategorien. Inzwischen hat es auch außerhalb der Luftfahrt Anwendung und eine Reihe von Abwandlungen erfahren. Vor diesem Hintergrund ist die Studie der Autoren zu betrachten.

Projekt: In der vorliegenden Arbeit wurde die Zuverlässigkeit (Reliabilität) des HFAC-Systems als Werkzeug zur Kodierung menschlicher Fehler und der zu einem Unfall oder Zwischenfall beitragenden Faktoren untersucht. Dafür sind die in den Jahren 2001 bis 2014 erschienenen Artikel (nur Peer-Review-Artikel), die ein Reliabilitätsmaß für den Codierungsprozess verwendet haben, einer systematischen Analyse unterzogen worden. Von den insgesamt 111 Publikationen, die eine HFACS-Analyse zum Gegenstand hatten, erfüllten abschließend 14 Studien die oben genannten Bedingungen und wurden ausgewertet. Neun dieser Studien benutzten das ursprünglich von Wiegmann und Shappell beschriebene HFACS-Verfahren der ursprünglichen Analyse und 5 weitere Studien abgewandelte Formen (Department of Defense HFACS, DoD-HFACS; HAFACS for the Australian Defense Force, HFACS-ADF und HFACS maintenance extension, HFACS-ME). Sechs der 14 Studien waren direkt auf die Ermittlung der Reliabilität der benutzten HFACS-Analyse ausgerichtet. Die anderen Studien haben die Reliabilität zwar als Qualitätskriterium verwendet, hatten aber ein anderes primäres Studienziel. Auch variierten die Studien im Hinblick auf das verwendete Reliabilitätsmaß.

Ergebnisse: Die Mehrheit der analysierten Studien hat selbst bei Benutzung sehr stringenter Reliabilitätsmaße akzeptable Interrater- beziehungsweise Intraraterreliabilitäten ermittelt. Insgesamt war die Zuverlässigkeit bei größerem Stichprobenumfang und vorheriger Einweisung der bewertenden Personen in das Verfahren höher. Von den 6 Studien, die direkt auf die Ermittlung der Zuverlässigkeit des HFAC-Systems ausgerichtet waren, kamen 2 Studien zu dem Schluss, dass die Interraterreliabilität nicht ausreichend war. Als Reliabilitätsmaß wurde bei diesen Arbeiten die prozentuale Übereinstimmung der bewertenden Personen benutzt. Eine dieser Studien bezog sich dabei auf das abgewandelte Verfahren HAFACS-ADF.

Fazit: Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass HFACS ein zuverlässiges Verfahren zur Klassifikation von unfallverursachenden Faktoren ist.

Kommentar

Das in der Mitte der 90iger Jahre zunächst fürs Militär entwickelte und dann auf die kommerzielle und allgemeine zivile Luftfahrt ausgedehnte Verfahren findet inzwischen auch in anderen Gebieten wie bei der Unfallanalyse mit unbemannten Luftfahrzeugen, im Instandhaltungssektor, bei Eisenbahnunfällen und selbst im Bergbau, Bauwesen und Gesundheitswesen Anwendung [ 3 ]–[ 5 ]. Insofern ist es an der Zeit gewesen, es einer kritischen Analyse zu unterziehen. Dabei haben die Autoren sehr strenge Kriterien an die infrage kommenden Studien angelegt. Dies brachte es mit sich, dass am Ende nur sehr wenige Untersuchungen (14) betrachtet und letztendlich bewertet werden konnten, die noch dazu verschiedene HFACS-Verfahren und auch Reliabilitätsmaße (prozentuale Übereinstimmung, Cohens Kappa, Krippendorffʼs Alpha, free-marginal multirater kappa) benutzt haben. Die Autoren haben sich sehr detailliert und kritisch mit den Faktoren, die zu einer geringeren Reliabilität bei dem geprüften Verfahren führen, auseinandergesetzt und kommen zu dem Schluss, dass das HFACS-Verfahren ein zuverlässiges Verfahren zur Klassifikation von unfallverursachenden Faktoren darstellt. Seine Zuverlässigkeit wird bei vorheriger Instruktion der Untersucher, mit zunehmender Zahl der codierten unfallverursachenden Faktoren und bei möglichst geringen Deviationen vom ursprünglichen Verfahren größer.

PD Dr. Carla Ledderhos, Fürstenfeldbruck

Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrtmedizin