Aktuelle Urol 2015; 46(04): 277-279
DOI: 10.1055/s-0035-1559854
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Hodenverletzungen – Bei jungen Sportlern häufiger als gedacht

Rezensent(en):
Elke Ruchalla

Urology 2014;
84: 1485-1489
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
30. Juli 2015 (online)

 

Der Hauptteil aller Sportverletzungen tritt im muskuloskelettalen Bereich auf, die Hoden sind demgegenüber selten betroffen. Die Häufigkeit dieser Verletzungen könnte aber auch unterschätzt werden. Zwei amerikanische Urologen stellen nun aktuelle Daten zur Häufigkeit und ergriffenen Präventionsmaßnahmen vor.
Urology 2014; 84: 1485–1489

mit Kommentar

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(Bild: ccvision)

Bei anonymisierten Befragungen geben männliche Jugendliche und junge Männer deutlich häufiger beim Sport erlittene Hodenverletzungen an als bislang angenommen. So das Ergebnis der Erhebung von Jared Bieniek und Joel Sumfest, die entsprechende Fragebögen an 1700 Schüler und Studenten von 3 High Schools und 2 Colleges verschickt hatten.

Darin ging es beispielsweise darum,

  • ob jemals eine Hodenverletzung beim Sport aufgetreten war,

  • ob das beim Training und / oder bei Wettkämpfen der Fall gewesen war,

  • bei welcher Sportart die Verletzung aufgetreten war,

  • ob Schutzmaßnahmen im Sinne von Suspensorien getragen worden waren und

  • ob ihnen entsprechende Verletzungen bei Teamkollegen bekannt waren.

Insgesamt wurden 731 Fragebögen vollständig ausgefüllt und zurückgeschickt, knapp zwei Drittel stammten von Schülern (n = 467), der Rest von Studenten (n = 264), mit einem Durchschnittsalter von 16,4 bzw. 20,0 Jahren. Insgesamt berichteten 18 % der Teilnehmer von einer beim Sport aufgetretenen Hodenverletzung (High School: 18,4 %; College: 17,2 %), am häufigsten kam das vor bei Lacrosse (48,5 %), Ringen (32,8 %), Fußball (25,6 %) und Baseball (21,0 %). Bei den anderen, vor allem Nicht-Kontakt-Sportarten lag die Rate entsprechender Verletzungen bei 8,7 %.

Nur 12,9 % der Sportler trugen zumindest zeitweise ein Suspensorium, am höchsten lag die Rate bei Lacrosse- bzw. Baseball-Spielern (51,5 bzw. 40,6 %), in den übrigen Gruppen waren es weniger als 10 % der Befragten. War einmal eine Hodenverletzung aufgetreten, führte das insgesamt nur bei 20,1 % der Sportler zu einer Verhaltensänderung mit Tragen eines Suspensoriums, am häufigsten war die Veränderung auch hier wieder bei Lacrosse und Baseball. Insgesamt wurde ein Suspensorium häufiger beim Wettkampf getragen als im Training, obwohl umgekehrt beim Training häufiger Hodenverletzungen auftraten. Weiterhin trugen Jungen aus den High Schools häufiger einen Hodenschutz als die College-Sportler (14,7 vs. 7,2 %).

Wurde die Häufigkeit von Hodenverletzungen bei Sportlern mit bzw. ohne Suspensorium verglichen, fand sich eine Gesamtrate von 29,5 bzw. 16,0 % (p = 0,002). Aufgeschlüsselt nach Sportart traten numerisch (wenn auch nicht statistisch signifikant) ebenfalls mehr Verletzungen bei Verwendung entsprechender Schutzkleidung auf (64,7 bzw. 31,3 % bei Lacrosse-Spielern und 26,8 bzw. 18,3 % bei Baseball-Spielern).

Mehr als ein Drittel der Teilnehmer berichtete schließlich, dass bei Teamkollegen entsprechende Verletzungen aufgetreten waren (36,4 %), am häufigsten bei Lacrosse-Spielern (84,4 %).

Fazit

Hodenverletzungen sind bei jungen Sportlern häufiger als gedacht, und nur selten wird entsprechende Schutzkleidung angelegt, so die Autoren. Erstaunlicherweise allerdings waren nach Auswertung der Fragebögen Hodenverletzungen insgesamt sogar häufiger, wenn ein Suspensorium getragen wurde, als ohne diese Maßnahme. Ob derartige Schutzbekleidung unwirksam ist oder möglicherweise sogar zu entsprechenden Verletzungen beitragen kann, müssten weitere Studien klären. Als Einschränkung muss ein Recall Bias der Befragten gelten, fügen die Mediziner hinzu. Weiterhin wurde nicht gesichert, ob tatsächlich eine Hodenverletzung vorlag oder eine andere Verletzung im Leistenbereich. Ebenso wurden die genaue Ätiologie und der Schweregrad der Verletzung nicht erfragt.

Kommentar

Schützt ein Hodenschutz den Hoden?

Es handelt sich nicht um eine wegweisende Publikation, die hier Eingang in das Journal of Urology gefunden hat. Die Problematik von Hodenverletzungen im Sport und deren Prävention rechtfertigt allerdings das Erscheinen. Welchen Einfluss auch latente Traumen auf die Hodenentwicklung und die Fertilität des Mannes haben, ob sie am Ende sogar geeignet sind, Malignome zu induzieren, ist im Fluss. Das englische Wort awareness beschreibt den Umgang mit diesen Ungewissheiten treffend.

Wie ist die Datenlage?

Der Ansatz, in Einrichtungen Daten zu gewinnen, die in schul- bzw. collegeübergreifenden, dem Breitensport verpflichteten Sportverbände der USA organisiert sind, ist sinnvoll. Doch wie kommt man zu verwertbaren Ergebnissen – mit Fragebögen allein? Immerhin war die Rücklaufquote höher, wenn Lehrer oder Trainer ihn anonym im Schulsport verteilten und wieder einsammelten. Dann allerdings mit dem Risiko, dass auch der nicht ambitionierte Schüler mangels sportlicher Betätigung über keine derartigen Ereignisse berichtete, der College-Student hingegen schon und sogar differenziert für mehrere Sportarten.

Ob die aus der Erinnerung heraus abgegebene Selbsterklärung über durchgemachte Hodenverletzungen dann aber eine valide Datenbasis ergibt? Wie relevant ist ein solches Ereignis tatsächlich?

Man wünschte sich belastbarere Daten. Publikationen zu dieser Thematik sind selten und nicht typischerweise in der engeren Fachliteratur beheimatet. Breiteren Raum nehmen die Themen Unfall und

Sport aber auch Risiken durch sportliche Betätigung in der pädiatrischen Literatur ein. Auch lohnt ein Verweis auf das ebenfalls erwähnte Pädiatrische Trauma-Register der USA, das Daten aus 50 Trauma- Zentren der USA zusammenfasst. Allerdings hat es in einem 10-Jahres-Zeitraum (1990–1999) keinerlei Hodenverletzungen dokumentiert [ 1 ].

So lässt sich der Ansatz der Autoren für die Datenerhebung in dieser Publikation im Nachgang rechtfertigen. Wohl aber doch mit der Kritik, eine eher vage Momentaufnahme zu erzeugen, verglichen mit einer ebenfalls in der Arbeit zitierten Publikation aus dem Jahr 1978, die sich 2 ganze Schuljahre Zeit nahm, um in einer Region (Seattle / USA) und durch eigens geschultes Personal Daten relevanter Unfallereignisse (solche, die temporäre Sportunfähigkeit nach sich zogen!) zu sammeln [ 2 ].

Was lehren uns diese Daten?

Die hier detektierten Risikosportarten für Hodenverletzungen scheinen mit Blick auf Fußball als Breitensport auch für hiesige Verhältnisse von Bedeutung. Für Sportarten wie Lacrosse, Wrestling oder Baseball mag das weniger zutreffen, auch wenn es in Deutschland eigene Ligen gibt. Wir müssten andere Sportarten in den Fokus rücken (Radsport, Mountain-Biking, Skisport), die im deutschsprachigen Raum weit höher im Kurs stehen und vergleichbare oder höhere Risiken für die Hoden bieten [ 3 ], [ 4 ].

Wenn nur 12,9 % der in der Publikation Befragten in diesen Teamsportarten Hodenschützer verwendeten (mit der höchsten Rate bei Baseball und Lacrosse), wird ein mögliches Potenzial in der Unfallprävention offensichtlich, selbst wenn erst das erlittene Trauma für 48,3 % bzw. 68,8 % der Befragten in diesen Disziplinen Anlass war, sich auf das Tragen eines Hodenschutzes zu verlegen.

Der Beweis, dass dies ausreichenden Schutz vor Hodenverletzungen bietet, konnte in der Arbeit allein vom Ansatz der Datenerhebung her nicht erbracht werden. In der Diskussion wird dies punktuell sogar infrage gestellt, bis hin zur der These, dass der Hodenschutz von vornherein ungeeignet sein bzw. selbst zu den geschilderten Verletzungen beigetragen haben könnte. Eine schwierige Gemengelage, die die Autoren folgerichtig zu einer ausgesprochen weichen Konklusion veranlasst. Es ist die Bias aus vager Erinnerung, Selbstanzeige ohne jegliche ärztliche oder anders objektivierbare Dokumentation, dem Fehlen von Kontrollgruppen und der Unkenntnis eventueller pathologischer Begleitbefunde bei den Befragten (Varikozele, Leistenhernie, Hodenposition?), die am Ende eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Daten verhindert. Gut, dass die Autoren selbst einige der Limitationen einräumen.

Umsetzung im Alltag

Die American Academy of Pediatrics (AAP) als Dachorganisation von inzwischen 60 000 Kindermedizinern der USA hat in einer Empfehlung zu körperlichen Untersuchung bei Sportlern empfohlen, dass Knaben mit einem solitären Hoden oder Hodenhochstand (wie auch immer möglich, d. A.) angewiesen werden sollten, einen Hodenschutz in Risiko-Sportarten zu tragen, die nach dem Risiko eines Körperkontakts klassifiziert sind [ 5 ]. Die Autoren unseres Artikels sind aufgrund ihrer Untersuchungen der Überzeugung, dass diese Empfehlungen dergestalt erweitert werden sollten, dass jeder Jugendliche oder junge Erwachsene, der Kontaktsportarten betreibt und einen Einzelhoden, einen Z. n. Orchidopexie oder jegliche Form einer Hodenatrophie aufweist, darauf aufmerksam gemacht werden sollte, Hodenschutz zu tragen, solange nicht andere Untersuchungen zur Effektivität dieser Hodenschützer vorliegen.

Ein Blick in die Diskussion in der eingangs erwähnten Arbeit [ 1 ] mag dies unterstreichen. Dort wurden bereits Zweifel an der geringen Inzidenz von Hodenverletzungen im Trauma-Register geäußert, weil sie im Gegensatz zur tatsächlichen Vulnerabilität des Hodens aufgrund seiner exponierten Lage zu stehen und die Realität im jeweiligen Kontaktsport nicht abzubilden scheint. Zudem existieren einschlägige Fallberichte über fatale sportbedingte Hodenverletzungen. Auch das Verhalten der Teamkameraden, von Trainern und Schiedsrichtern im Falle tätlicher Auseinandersetzungen und wahrnehmbarer genitaler Verletzungen sollte eine gebührende Bewertung und ein selbstkritisches Umdenken erfahren.

Fazit

Es gibt Sportarten mit einem höheren Risiko für Hodenverletzungen und es gibt Jugendliche und junge Männer mit erhöhten individuellen Risiken, wenn sie solche Sportarten betreiben. Dies sollte kommuniziert und auf die Möglichkeit der Prävention hingewiesen werden. Die in unseren Fachgesellschaften in Arbeit befindliche, gemeinsame S2-Leitlinie „Akutes Skrotum“ wird die Problematik der Hodenverletzungen im Sport sicher streifen.

Prof. Dr. Christian Lorenz, Bremen


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Prof. Dr. Christian Lorenz


ist Direktor der Klinik für Kinderchirurgie und Kinderurologie am Klinikum Bremen-Mitte

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