Zeitschrift für Palliativmedizin 2015; 16(04): 144-146
DOI: 10.1055/s-0035-1558696
Methodik in der Palliativversorgung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Qualitative Datenerhebung – Die teilnehmende Beobachtung

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Publication Date:
16 July 2015 (online)

 

Um die Perspektiven von Palliativpatienten in Forschungsprozessen abbilden zu können, ist die teilnehmende Beobachtung besonders gut geeignet. Der folgende Beitrag stellt diese Methode mit praktischen Beispielen für die palliativmedizinische Forschung vor.

Einleitung

Für die Erforschung subjektiver Sichtweisen und das Erleben von Palliativpatienten werden häufig qualitative Methoden wie narrative oder leitfadengestützte Interviews verwendet. Im Verlauf ihrer Erkrankung können die Betroffenen durch körperliche Schwäche oder eine eingeschränkte verbale Kommunikationsfähigkeit jedoch nur schwer in der Lage sein, an Interviews teilzunehmen. Dadurch können diese Betroffenen häufig nicht in Studien eingeschlossen werden. Um deren Perspektive dennoch in Forschungsprozessen abbilden zu können, ist die teilnehmende Beobachtung zur Datenerhebung besonders geeignet. Ziel des Beitrags ist die Vorstellung dieser Methode im Kontext palliativmedizinischer Forschung. Die dabei auftretenden Besonderheiten und Herausforderungen werden an praktischen Beispielen illustriert. Diese entstammen einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten und am Zentrum für Palliativmedizin der Uniklinik Köln durchgeführten Studie zur Erfassung der Bedürfnisse von Menschen mit schwerer Demenz in der letzten Lebensphase im Setting der stationären Altenhilfe. Diese Patientengruppe ist nahezu vollkommen von den Personen in ihrer Umgebung abhängig und auf pflegerische Unterstützung angewiesen. In den meisten Fällen sind die Betroffenen aufgrund ihrer kognitiven und kommunikativen Einschränkungen nicht mehr in der Lage, ihre Bedürfnisse und Wünsche verbal mitzuteilen.


Die Teilnehmende Beobachtung

Im Gegensatz zur alltäglichen Beobachtung meint Beobachten in der empirischen Sozialforschung „das systematische Erfassen, Festhalten und Deuten sinnlich wahrnehmbaren Verhaltens zum Zeitpunkt eines Geschehens“ [[ 1 ], S. 67]. Gegenstand der Beobachtung ist das soziale Handeln, wie z. B. Interaktionen und Kommunikation von Personen oder Gruppenbildungsprozessen [ 1 ], [ 2 ].

Während Befragungen von verbalen Äußerungen abhängig sind, ermöglichen Beobachtungen das Erfassen von sozialen Verhaltensweisen über unterschiedliche Sinneswahrnehmungen wie Sehen, Hören, Riechen oder Fühlen [ 2 ], [ 3 ]. Darüber hinaus können Unterschiede zwischen Gesagtem und tatsächlichem Handeln von Personen beobachtet werden. Dabei hat die Methode den Vorteil, dass sie in vorwiegend natürlich vorliegenden (Alltags)-Situationen eingesetzt und schwer zugängliche Forschungsfelder erreichen kann [ 4 ]. Die teilnehmende Beobachtung wird bei explorativen Fragestellungen und der Hypothesengenerierung eingesetzt und gehört neben dem offenen und unstrukturierten Interview zu den Techniken, die am ehesten zu unerwarteten Ergebnissen führen können [ 5 ].

Strukturierte oder unstrukturierte Beobachtung?

Abhängig vom Forschungsanliegen sind Abwägungen zur Form der teilnehmenden Beobachtung zu treffen. Während bei einer strukturierten teilnehmenden Beobachtung mit einem im Vorhinein festgelegten Schema beobachtet wird, sind bei einer unstrukturierten teilnehmenden Beobachtung lediglich bestimmte Richtlinien formuliert, was eine Offenheit und Flexibilität seitens der Forschenden im Feld und innerhalb des Forschungsprozesses gewährleistet. Die idealtypische, unstrukturierte teilnehmende Beobachtung ist deshalb in der Anfangsphase noch breit angelegt und fokussiert sich im Verlauf auf bestimmte für die Forschungsfrage relevante Aspekte [ 2 ], [ 6 ]. Der Partizipationsgrad der Forschenden reicht von einer passiven und eher unbeteiligten bis hin zu einer aktiven und vollständigen Teilnahme im Feld. Sie können also in erster Linie beobachten und nachrangig teilnehmen, sind demzufolge eher weniger in Handlungen einbezogen. Oder sie nehmen vorwiegend teil, agieren im Feld, und beobachten eher nachrangig. Weiter können die beobachteten Probanden über die Tatsache der Beobachtung informiert sein (offene Beobachtung) oder keinerlei Kenntnis über die Beobachtung (verdeckte Beobachtung) haben [ 1 ], [ 4 ], [ 7 ], was ethisch zu reflektieren ist.


Mischung zwischen Eintauchen und professioneller Distanz

Neben einer unvoreingenommenen Herangehensweise an das zu untersuchende Feld ist die fortwährende Reflexion der Forschenden in Bezug auf die dort eingenommene soziale Rolle und die damit verbundenen möglichen Auswirkungen auf das Feld erforderlich [ 1 ], [ 2 ], [ 7 ]. Während der teilnehmenden Beobachtung befinden sich die Forschenden stetig im Spannungsfeld zwischen Teilnahme und der dadurch folglich zunehmenden Identifikation mit dem Beobachtungsfeld und der gleichzeitig notwendigen Distanz zur Bearbeitung des Forschungsanliegens [ 1 ], [ 7 ]. Eine Mischung aus einem Eintauchen in das Feld und professioneller Distanz wird bei der Anwendung der Methode empfohlen [ 2 ].


Beobachtungsprotokoll

Die Protokolle der beobachteten Situationen bilden die Grundlage für die spätere Datenauswertung mittels der verschiedenen Möglichkeiten der qualitativen Forschung. Ihre Erstellung beansprucht neben der Beobachtung selbst einen hohen Zeitaufwand. Beobachtungsprotokolle folgen vorab festgelegten Kriterien und sollten herausstellen, welche Passagen durch Feldbeobachtungen entstanden sind oder auf Kontextinformationen, ersten Interpretationen, methodischen und theoretischen Reflexionen oder Betrachtungen der Forscherrolle beruhen [ 3 ], [ 7 ], [ 8 ]. Dies ermöglicht, das Beobachtete zunächst auch als solches interpretieren zu können, ohne bereits zu sehr durch eigene Vorannahmen und Reflexionen beeinflusst zu werden [ 7 ].

Einige Autoren bezeichnen den Verlauf der Beobachtung mit zunehmender Fokussierung auf den Untersuchungsgegenstand und der damit einhergehenden Interpretation durch die Forschenden als ersten Schritt der Datenanalyse [ 3 ], [ 9 ], [ 10 ]. Die Wahrnehmung einer erlebten Situation unterliegt bereits einer unbewusst ablaufenden Interpretation durch die Beobachtenden, sodass hier Wahrnehmungsfehler auftauchen können [ 3 ], [ 7 ]. Dies ist sowohl bei der Protokollierung als auch bei der späteren Datenanalyse in einem stetigen Reflexionsprozess zu berücksichtigen.



Teilnehmende Beobachtung in der Forschungspraxis

Im vorgestellten Beispiel zur Erforschung der Bedürfnislage von Menschen mit schwerer Demenz wurde eine offene teilnehmende Beobachtung gewählt. Bei einer nicht teilnehmenden Beobachtung (z. B. mittels Videoaufzeichnung) wären Anteile der nonverbalen Kommunikation, wie z. B. eine kraftvolle Berührung, nur schwer beobachtbar. Eine verdeckte Beobachtung war aus ethischen Gesichtspunkten nicht angezeigt.

Feldeintritt und Beobachtungsprozess

Über Schlüsselpersonen wie Einrichtungs- oder Teamleitungen erfolgte der Zugang zum Feld der Altenhilfe. Im Unterschied zu meist einmalig stattfindenden Interviews war für die Beobachtung das fortdauernde Einverständnis der Teammitglieder über den gesamten Beobachtungszeitraum erforderlich. Bei Informationsveranstaltungen und ergänzenden Einzelgesprächen vor und während der Beobachtungsphase gaben die Forschenden Auskunft über das Anliegen und den Ablauf der Studie, um ethische und persönliche Bedenken einzelner Personen, die sich z. B. auf die Sorge vor Kontrolle der eigenen Arbeitsweise oder zu große Belastung für die Menschen mit Demenz bezogen, abzubauen.

Übersicht

Zentrale Aspekte der teilnehmenden Beobachtung bei Menschen mit Demenz

  • Perspektiven von Menschen mit Einschränkungen der verbalen Kommunikation und Interaktionen können mit der teilnehmenden Beobachtung erfasst werden.

  • Forschende sind dabei stets Teil des Forschungsfeldes. Die dabei eingenommene Rolle, ihr Einfluss auf das Feld, sowie methodische und theoretische Aspekte bedürfen der stetigen Reflexion.

  • Die multiplen Einschränkungen von Menschen mit Demenz erfordern eine flexible Gestaltung und Reflexion des Beobachtungsprozesses.

Entsprechend dem explorativen Charakter der Studie konnten relevante Beobachtungseinheiten im Vorfeld nicht umfassend bestimmt werden. Zur Orientierung im Feld, dem Kennenlernen der Abläufe und Gegebenheiten sowie der Identifikation relevanter Situationen, war die Beobachtung in den Einrichtungen zu Beginn zunächst sehr breit und unstrukturiert angelegt. Nach anfänglicher Fremdheit im Feld wurden die Forschenden rasch in die täglichen Abläufe einbezogen. Die beobachteten Menschen mit schwerer Demenz hatten dabei Gelegenheit mit den für sie fremden Personen vertraut zu werden. Im weiteren Untersuchungsverlauf spezifizierte sich die Beobachtung zunehmend. So wurden bestimmte Situationen, wie z. B. die Durchführung der Körperpflege oder physiotherapeutische Maßnahmen fokussiert betrachtet oder der Umfang bereits ausführlich erfolgter Beobachtungen, z. B. während der Mahlzeiten, reduziert.


Forscherrolle

Mit einer unstrukturierten Beobachtung konnten die Forschenden möglichst unvoreingenommen an das Feld herantreten und flexibel auf die dortigen Gegebenheiten reagieren. Vor der ersten Beobachtungsphase erfolgte eine Hospitation, bei der sich die Rolle des aktiv teilnehmenden Forschenden als vorteilhaft herausstellte. Der Grad der Teilnahme im Feld variierte dabei von der alleinigen Anwesenheit in einer Versorgungssituation bis hin zur aktiven Unterstützung der Pflegenden und Übernahme einzelner Handlungen z. B. bei der Körperpflege oder beim Anreichen von Getränken und Speisen. Durch die fortgeschrittene Erkrankung der Beobachteten ergaben sich zahlreiche Möglichkeiten aktiv an ihrer Versorgung mitzuwirken und dabei zu beobachten. Auf diese Weise konnten neben den visuellen Wahrnehmungen weitere Reize wie Körperspannung und eingesetzte Kraft bei Bewegungen im direkten Kontakt wahrgenommen werden.


Flexibilität im Erhebungsprozess

Als Besonderheit in der Beobachtung schwer erkrankter Personen waren die Forschenden kontinuierlich gefordert sich flexibel auf neue Situationen einzustellen. So waren die Dauer der einzelnen Beobachtungssequenzen und der Zeitpunkt im Tagesverlauf situativ abhängig von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren, wie z. B. dem aktuellen Gesundheitszustand der Beobachteten, organisatorischen Abläufen der Einrichtungen oder unvorhergesehenen Ereignissen. Der empfohlene Wechsel zwischen kurzen Beobachtungssequenzen und direkter Protokollierung im Anschluss war durch die Abläufe der Einrichtungen kaum möglich. Zudem lenkte das offensichtliche Notieren die Aufmerksamkeit auf die Situation des Beobachtetwerdens und führte zu einem veränderten Verhalten der Beobachteten.


Protokollierung der Beobachtungen

Die Protokollierung am Tagesende kann mit einem Datenverlust einhergehen, da nicht alle Einzelheiten erinnert werden. Dies musste in der Untersuchung zugunsten einer möglichst natürlich ablaufenden Situation und der Integration der Forschenden in das Feld in Kauf genommen werden. Die Protokolle enthielten möglichst detaillierte Beschreibungen der Situationen in ihrem zeitlichen Verlauf.

Infobox 2

Literaturempfehlungen zur Einführung in die qualitative Beobachtung

  1. Atteslander P. Methoden der empirischen Sozialforschung. 11. Aufl. Berlin: Erich Schmidt Verlag; 2006:67-100

  2. DeWalt KM, DeWalt BR. Participant Observation. A Guide for Fieldworkers. Walnut Creek Calif.: AltaMira Press; 2002

  3. Girtler R. Methoden der Feldforschung. 4. Aufl. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag; 2001:59-146

  4. Przyborski A, Wohlrab-Sahr M. Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag; 2010:53-67

  5. Rosenthal G. Interpretative Sozialforschung: Eine Einführung. Weinheim [u.a.]: Juventa Verl.; 2005:101-123


Einwilligung in den Forschungsprozess

Wie bei wissenschaftlichen Untersuchungen in anderen Forschungsbereichen auch ist das Einverständnis der Probanden zur Studienteilnahme kontinuierlich zu überprüfen. Insbesondere bei erkrankten Personen, die ihre Zustimmung oder Ablehnung nicht mehr verbal mitteilen können, kommt diesem Aspekt eine besondere Bedeutung und Verantwortung seitens der Forschenden zu. Im Forschungsprojekt geschah dies durch sensibles Wahrnehmen von verbalen und nonverbalen Ausdruckszeichen der Menschen mit schwerer Demenz, die auf ein Unwohlsein in der beobachteten Situation schließen ließen. Wurden z. B. Schreie, Laute, eine erhöhte Körperspannung oder verzerrte Mimik als mögliche Reaktion auf die Anwesenheit der Forschenden wahrgenommen, zogen sich diese aus der jeweiligen Situation zurück. Um Belastungen möglichst gering zu halten, wurde im Vorfeld der Untersuchung festgelegt, welche Situationen nicht beobachtet werden sollten z. B. während der Inkontinenzversorgung oder Momente besonderer emotionaler Belastung.



Fazit

Zur Erforschung der Belange von schwer erkrankten Menschen mit Kommunikationseinschränkungen eignet sich die teilnehmende Beobachtung mit ihrem Einbezug verschiedener Sinneswahrnehmungen. Die Vorbereitung und Durchführung einer Beobachtung ist ressourcenaufwendig. Forschende sind gefordert flexibel auf die Situation der Beobachteten einzugehen, sensibel mögliche Belastungen durch die Beobachtung wahrzunehmen und vorbeugend zu begegnen. Der gesamte Beobachtungsprozess erfordert eine hohe methodische, theoretische und persönliche Reflexionsfähigkeit. Gerade unerfahrenen Anwender können zum Erlernen der Methode und Prozessbegleitung Schulungsangebote von Instituten für sozialwissenschaftliche oder qualitative Forschung, Tagungen und Methodentreffen zur qualitativen Forschung sowie begleitende Forschungswerkstätten Unterstützung bieten.

Yvonne Eisenmann, Holger Schmidt, Raymond Voltz, Klaus Maria Perrar, Zentrum für Palliativmedizin, Uniklinik Köln



Autorenerklärung

Es bestehen keine finanziellen Interessenskonflikte in Bezug auf dieses Manuskript.