Geburtshilfe Frauenheilkd 2015; 75(10): 1015-1017
DOI: 10.1055/s-0035-1558145
Geschichte der Gynäkologie
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Verfahren in der Geburtshilfe. Die Sectio als Ausnahme – Geburtshilfe vor 50 Jahren (1965)

M. David
,
A.D. Ebert
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Korrespondenz

Prof. Dr. med. Matthias David
Klinik für Gynäkologie, Charité Universitätsmedizin, Campus Virchow Klinikum, Berlin

 

Prof. Dr. med. Dr. phil. Dr. h.c. mult. Andreas D. Ebert
Praxis für Frauengesundheit, Gynäkologie und Geburtshilfe, Berlin

Publication History

Publication Date:
02 November 2015 (online)

 

„Bis Ende der 50er Jahre war die Geburtshilfe noch überwiegend von geburtsmechanischem Denken bestimmt. Die Sectio wurde nur bei absoluter Unvermeidbarkeit als ultima ratio akzeptiert. Hinter dem Ziel der Spontangeburt um jeden Preis traten andere Gesichtspunkte zurück, wie Geburtsdauer, Belastung der Kreißenden oder potentielle Gefahren für das Kind. Für letztere gab es ohnehin nur wenige Kriterien […]. In den 60er Jahren setzte dann eine Revolution im geburtshilflichen Denken und Handeln ein […]“, so charakterisiert Schmidt-Matthiesen 1988 in seinen Lebenserinnerungen die Geburtshilfe der 1950er- und frühen 1960er-Jahre in Deutschland. Dazu ergänzend Bickenbach in seiner Eröffnungsrede im Oktober 1964 auf dem 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe: „[…] Der Geburtshelfer hat bei allen Überlegungen und Handlungen seit jeher an zwei Menschenleben zu denken, an die Mutter und das Kind. In der Vergangenheit ist daraus nicht selten eine Konkurrenz der Pflichten geworden, die oft zu Ungunsten des Kindes entschieden wurde und zum Verlust des Kindes führte. Die heutige Geburtshilfe ist nur noch selten vor derartige Entscheidungen gestellt […]“ (Bickenbach [1], zit. [2]).

Vor 1965, vor 50 Jahren, kamen zu Zeiten des sog. Babybooms in beiden Teilen Deutschland zusammen insgesamt 1,325 Mio. Kinder zur Welt und damit fast doppelt so viele wie derzeit. Im Jahr 2014 wurden in Deutschland 715 000 Kinder lebend geboren. 2015 wird, im Vergleich zum Vorjahr, eine noch etwas höhere Geburtenrate aufgrund des derzeit relativ hohen Anteils von Frauen zwischen 28 und 35 Jahren und der steigenden Zuwandererzahlen erwartet [3]. Die Geburtshilfe hat sich in den letzten Jahrzehnten entscheidend verändert. Nicht nur, dass sie zur Geburts- bzw. Perinatalmedizin geworden ist und sich in ihrer Zielrichtung verändert hat, trug dazu bei, sondern auch gesellschaftliche, soziale und medizinische Entwicklungen. Derzeit werden national und international vor allem die weltweit steigenden Sectioraten und deren Folgen diskutiert [4], [5].

Fast immer lohnt ein Blick in die Vergangenheit, um aktuelle Entwicklungen besser einordnen und (selbstkritisch) fachlich bewerten zu können.

Wir stellen nachfolgend einige Perinataldaten aus dem Jahr 1965 vor und zeigen, welche Ergebnisqualität die Geburtshilfe in Ost- und West-Deutschland vor 50 Jahren erreicht hatte. Dazu verglichen wir exemplarisch die Daten der Charité-Frauenklinik (damals Tucholskystraße, Berlin-Hauptstadt der DDR) und der Universitätsfrauenklinik der Freien Universität Berlin (damals Pulsstraße, West-Berlin). Die Auswertung beruht auf dem 1966 veröffentlichen „Jahresbericht 1965“ der Universitätsfrauenklinik „Pulsstraße“ [6] und einer im Juli 2015 im Archiv der Berliner Humboldt-Universität durchgeführten Handauswertung der beiden Charité-Geburtenbücher des Jahres 1965 [7]. Die Universitätsfrauenklinik der Charité stand damals unter dem Direktorat von Helmut Kraatz, die Frauenklinik der Freien Universität wurde von Herbert Lax geleitet. Lax wurde von Robert Schröder (Leipzig) und Walter Stoeckel beeinflusst, während Kraatz „reiner“ Stoeckel-Schüler war.

Die [Abb. 1] zeigt die Dammschnitt- und -rissrate in den beiden Berliner Universitätsfrauenkliniken von 1965 im Vergleich zu den derzeit aktuellsten verfügbaren Qualitätssicherungsdaten (BQS) der Berliner Geburtskliniken des Jahres 2014 [8]. Offenbar wurde die Anwendung der Episiotomie in der Charité-Frauenklinik 1965 sehr restriktiv gehandhabt. Die Rate von Dammrissen 3. Grades unterscheidet sich deutlich von der aktuell angegebenen der Berliner Geburtskliniken (Univ.-Frauenklinik der FU Berlin: 0,04 %; Charité-Frauenklinik: 0,3 %; BQS-2014: 1,1 %).

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Abb. 1 Häufigkeit von Dammrissen und von Episotomien im Vergleich 1965 vs. 2014.

In der [Abb. 2] sind die Häufigkeit vaginal-operativer Entbindungen (Forceps und Vakuumextraktion) und die Sectiorate im Vergleich dargestellt. Die Kaiserschnittrate betrug 1965 in den beiden Universitätsfrauenklinik West- bzw. Ost-Berlins 1,95 resp. 1,2 % und ist damit heute fast 20-fach höher. Die Entbindung mittels Forceps muss aktuell als „aussterbender Geburtsmodus“ (siehe [9]) bezeichnet werden, während die Anwendung der Vakuumextraktion (VE) deutlich zugenommen hat. In der Charité-Frauenklinik war 1965 die vaginal-operative Geburt mittels VE (in der Geburtenbücher nach einem der VE-Entwickler als „Malmström“ dokumentiert) eine Ausnahme (0,25 %), an der Universitätsfrauenklinik der Freien Universität wurden Forceps und VE nahezu gleich häufig angewandt (2,2 vs. 2,4 %.) Dies könnte zum einen ein Effekt einer geburtshilflichen Schule oder Ausdruck einer anderen (besseren?) technischen Ausstattung mit VE-Geräten sein.

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Abb. 2 Frequenz operativer Entbindungen im Vergleich 1965 vs. 2014.

Wenngleich eine tiefer gehende retrospektive Auswertung des Datenmaterials der 1960er-Jahre zu der möglicherweise in Kauf genommenen kindlichen Sterblichkeit ([Abb. 3] und [4]), der Frühgeburtenrate, anderen mütterlichen und kindlichen Geburtskomplikationen und -folgen für die beiden Universitätsfrauenkliniken noch aussteht, verblüfft aus heutiger Sicht vor allem die sehr niedrige Sectiorate „unserer Vorgänger“. Damit wird nochmals eine Entwicklung in Erinnerung gerufen und dokumentiert, die Mylonas und Friese im Deutschen Ärzteblatt (2015) so beschrieben: „[…] Durch den wissenschaftlichen Fortschritt, soziologische sowie kulturelle Veränderungen und nicht zuletzt durch veränderte rechtliche Konsequenzen ist ein grundlegender Wandel in der Akzeptanz eines Kaiserschnittes sowohl vonseiten der Patientinnen als auch aus ärztlicher Sicht zu beobachten. Interessanterweise hat sich in vielen Ländern auch die Sichtweise der Indikation geändert […]“ [10]. Anfang der 1960er-Jahre erschienen die Arbeiten von Saling, Hammacher, Kubli u. a., welche die Geburtshilfe revolutionierten und letztlich auch Art und Häufigkeit operativer Entbindungen mit beeinflussten [2].

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Abb. 3 Entwicklung der Säuglingssterblichkeit in Deutschland 1872 bis 2013 (aus [11]).
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Abb. 4 Entwicklung der Perinatalsterblichkeit in West- und Ost-Deutschland 1955 bis 2013 (aus [11]).

Um die o. g. Berliner Perinataldaten einordnen zu können, wurde im Erscheinungsjahr 1965 der „Zeitschrift für Geburtshilfe und Frauenheilkunde“ (Stuttgart: Thieme Verlag, kurz: GebFra) und des „Zentralblatt für Gynäkologie“ (Leipzig: Barth-Verlag, kurz: Zentralblatt) nach Publikationen anderer deutscher Kliniken zur Rate operativer Geburten gesucht. Ortlepp berichtet 1965 in der GebFra „Zur Frage der geburtshilflichen Operationen an einer kleinen Klinik“ aus Braunschweig: In einem 11-Jahres-Intervall war hier bei 4,86 % eine Zangenentbindung notwendig, bei 2,6 % eine Schnittentbindung erforderlich; das Verhältnis der Forceps- zu den Sectioentbindungen betrug 2 : 1 [12]. Ähnliche Zahlen präsentierte Kreibich (1965) im Zentralblatt: Die Sectiorate im damaligen Bezirkskrankenhaus Zwickau (Sachsen) betrug demnach 1,77 % [13]. Die berichteten Daten liegen in der gleichen Größenordnung wie 1965 in Berlin.

In seinem einleitenden Vortrag auf dem „Internationalen Kongress für Geburtshilfe und Gynäkologie“, der vom 31. Mai bis 04. Juni 1965 in der Ost-Berliner Kongresshalle stattfand, charakterisierte Helmut Kraatz, der damalige Ordinarius der Charité-Frauenklinik, die aktuellen Entwicklungen seines Faches so: „Jede Disziplin ist … grundsätzlich in jedem Fall abhängig von der Entwicklung der medizinischen Wissenschaft. Wer diese Geschichte zu lesen versteht, erkennt die Gesetzmäßigkeiten […]. So wie die Technik sich entwickelt, müssen wir uns mit ihr entwickeln, das Nutzbare anwenden, das Unnütze abstreifen, die neuen Aspekte erkennen, uns nicht treiben lassen, sondern selber vorwärts treiben […]“ [14].

Schmidt-Matthiesen fasste die in den 1960er-Jahren angestoßenen Entwicklungen in Geburtshilfe und Gynäkologie 20 Jahre später so zusammen: „Das Spektrum unseres Wissens, des Möglichen und Machbaren ist in den letzten Jahrzehnten gewaltig gewachsen. Die Wertung des Neuen als ‚Fortschritt‘ hängt aber von seinem globalen Nutzen für den Kranken in somatischer und psychischer Hinsicht ab. Diese Bilanz ist teils unverkennbar positiv, teils steht sie noch aus und wird auch kaum pauschal möglich sein. Hier ist Nachdenklichkeit geboten […]“ [15].


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Prof. Dr. med. Matthias David

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Prof. Dr. med. Dr. phil. Dr. h.c. mult. Andreas D. Ebert

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Prof. Dr. med. Matthias David
Klinik für Gynäkologie, Charité Universitätsmedizin, Campus Virchow Klinikum, Berlin

 

Prof. Dr. med. Dr. phil. Dr. h.c. mult. Andreas D. Ebert
Praxis für Frauengesundheit, Gynäkologie und Geburtshilfe, Berlin


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Abb. 1 Häufigkeit von Dammrissen und von Episotomien im Vergleich 1965 vs. 2014.
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Abb. 2 Frequenz operativer Entbindungen im Vergleich 1965 vs. 2014.
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Abb. 3 Entwicklung der Säuglingssterblichkeit in Deutschland 1872 bis 2013 (aus [11]).
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Abb. 4 Entwicklung der Perinatalsterblichkeit in West- und Ost-Deutschland 1955 bis 2013 (aus [11]).