Im Zentrum des Expertenform Diabetes – einer Veranstaltung in Zusammenarbeit mit der
Deutschen Diabetes Gesellschaft, stand das Thema frühe Nutzenbewertung von Antidiabetika.
Unter dem Vorsitz des Finanzwissenschaftlers und Gesundheitsökonomen Prof. Dr. Eberhard
Wille, Mannheim, wurden Hintergründe der Entscheidungen, Auswirkungen für Patienten
und mögliche Lösungen des Problems von den etwa 60 Teilnehmern intensiv diskutiert.
„Die Relevanz des Typ-2-Diabetes ergibt sich u. a. aus der hohen Erkrankungshäufigkeit“,
erklärte der Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft PD Dr. med. Erhard Siegel,
machte aber gleichzeitig deutlich, dass die genaue Prävalenz des Diabetes in Deutschland
unbekannt ist und dass es große regionale Unterschiede gebe. So liegt die Prävalenz
im bayerischen Augsburg bei 5,8 %, in Halle (Sachsen-Anhalt) aber bei etwa 12 % [
1
].
Da die Erkrankung erhebliche individuelle Belastungen und hohe Ausgaben für das Gesundheitswesen
zur Folge hat, forderte Siegel einen Nationalen Diabetesplan. Wichtigstes Ziel dieses
Plans sei es, das Erkrankungsrisiko durch Gesundheitsförderung und Prävention zu senken.
Bisherige Aktivitäten zur Reduktion des Erkrankungsrisikos durch Verhaltensprävention
mit gut gemeinten Ratschlägen wie „fdH“, „Trimm dich“ oder „Rauchen kann tödlich sein“
hält Siegel zwar für richtig, aber weitgehend wirkungslos: „Die Politik, die vorrangig
auf Information und den Aufruf zur individuellen Verhaltensprävention setzt, ist gescheitert.“
Er forderte deshalb eine Verhältnisprävention, die vernünftige Ernährung und Bewegung
in den Lebenswelten der Menschen stärkt. Als Beispiele nannte er u.a. täglich 90 Minuten
Bewegung in Kindergärten und Schulen sowie eine Zucker- und Fettsteuer.
Weitere Ziele eines Nationalen Diabetesplans sind Siegel zufolge:
-
Identifizieren und Erreichen von Risikogruppen und Erkrankten,
-
Stärken von Versorgungsstrukturen sowie
-
Stärkung der sozialen und regionalen Diabeteskompetenz.
AMNOG – gravierende Unwuchten beim Indikationsvergleich
Zur Therapie des Typ-2-Diabetes wurde in den letzten Jahren eine Reihe von neuen Wirkstoffen
auf dem Markt eingeführt. Ein erheblicher Teil davon ist jedoch in Deutschland aufgrund
schlechter Noten im Rahmen der frühen Nutzenbewertung durch das Arzneimittel-Neuordnungs-Gesetz
(AMNOG) nicht verfügbar. Der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) Prof.
Josef Hecken betonte, dass derartige Nutzenbewertungssysteme auch in vielen anderen
Gesundheitssystemen zum Einsatz kämen. So basiere beispielsweise auch in Frankreich,
Italien, Japan und der Schweiz die Preisfindung für ein neues Arzneimittel auf der
therapeutischen Bewertung. Hecken sieht die Nutzenbewertung auch nicht im Widerspruch
zur arzneimittelrechtlichen Zulassung. Denn diese beurteile Sicherheit, Wirksamkeit
und Qualität, während das AMNOG darüber hinaus den Mehrwert gegenüber anderen Therapieoptionen
berücksichtige, so Hecken.
Bislang gab es in Deutschland 118 AMNOG-Bewertungen: Etwa 55% der neuen Wirkstoffe
bekamen dabei einen Zusatznutzen bescheinigt. Dieser Wert liegt Hecken zufolge über
dem internationalen Durchschnitt. Beim Vergleich unterschiedlicher Indikationen gebe
es jedoch gravierende „Unwuchten“: Orphan Drugs, onkologische Wirkstoffe und Präparate
für exotische Indikationen würden überdurchschnittlich häufig gut abschneiden.
Dies bestätigte Prof. Dr. Beate Kretschmer, Lilly Deutschland GmbH, anhand aktueller
Zahlen. Den 9 bewerteten Antidiabetika wurde in 78 % der Bewertungen kein und in 22
% maximal ein geringer Zusatznutzen zugebilligt. Bei anderen Indikationen (außer Orphan
und Antidiabetika) zeigt sich ein deutlich günstigeres Bild: Das maximal vergebene
Ausmaß des Zusatznutzens war in 1 % der Bewertungen erheblich, in 24 % beträchtlich
und in 26 % gering (Abb. [
1
]) [
2
]. Ein möglicher Grund für das unterschiedliche Abschneiden ist laut Hecken die Tatsache,
dass Zulassungsstudien für onkologische Produkte eine überdurchschnittliche Evidenz
zeigen. Ursächlich dafür sei, dass der entscheidende Parameter, der mediane Zuwachs
an Lebensverlängerung, relativ rasch und gut messbar sei. Dagegen lägen die Endpunkte
bei Therapien chronischer Krankheiten, etwa Diabetes, erst in ferner Zukunft und seien
im Rahmen von Zulassungsstudien kaum erreichbar [
3
].
Abb. 1 Anti-Diabetika vs. andere Produkte [
2
].
AMNOG und chronische Erkrankungen
Dies steht im Einklang mit den Aussagen von Hans-Holger Bless, Bereichsleiter Versorgungsforschung,
IGES Institut GmbH, Berlin. Er unterstrich, dass das AMNOG ursprünglich teure Spezialpräparate
im Visier hatte, sich jedoch zu einer bedeutsamen Hürde für Arzneimittel zur Behandlung
chronischer Erkrankungen entwickelt habe: Das Risiko für Marktrücknahmen sei bei Arzneimitteln
für chronische Erkrankungen deutlich erhöht.
Grund dafür seien die Charakteristika chronischer Erkrankungen: So erfordern diese
eine Dauertherapie; die zur Bewertung herangezogenen Studien hätten jedoch nur eine
begrenzte Laufzeit. Die schwerwiegenden Ereignisse, die durch die Dauertherapie verhindert
werden sollen, lägen relativ weit in der Zukunft; patientenrelevante Endpunkte gebe
es daher zum Zeitpunkt der Zulassung nicht. Außerdem seien die absoluten Risiken für
ein schwerwiegendes Ereignis vergleichbar gering – die Häufigkeit der zu beeinflussenden
Krankheitsereignisse gehe jedoch in die Nutzenbewertung ein. Und: Oftmals sei wie
im Fall des Diabetes eine große Population betroffen, was bedeutsame Auswirkung auf
den Budget-Impact der Gesetzlichen Krankenversicherungen habe. Schließlich seien in
der Regel bereits etablierte Therapieoptionen vorhanden, so Bless.
Surrogatparameter bei Zulassungen akzeptiert
Bei der Güterabwägung zwischen bestmöglicher Evidenz und dem Wunsch nach zeitnaher
Verfügbarkeit neuer Therapieoptionen greifen die Zulassungsbehörden deshalb alternativ
auch auf Surrogatparameter zurück. IQWiG und G-BA bedienen Bless zufolge jedoch nur
eine Waagschale – den Wunsch nach Evidenz: Die kategorische Forderung nach patientenrelevanten
Endpunkten zum Zeitpunkt der Zulassung sei eine Hürde für Therapien von Erkrankungen,
deren Endpunkte weit in der Zukunft liegen. Dadurch werde die Intention der Zulassungsbehörde,
den Zugang zu effektiveren Therapien schnellstmöglich zu ermöglichen, konterkariert,
so Bless. Außerdem stehe dies im Konflikt mit der Gesetzesbegründung des AMNOG, nach
der der frühe Zeitpunkt der Bewertung berücksichtigt werden solle. „Die Validierungsanforderungen
des IQWiG konterkarieren die Güterabwägung der europäischen Arzneimittelbehörde EMA“,
so Bless und ergänzte, dass die konstruktive Auseinandersetzung mit den Entscheidungsgrundlagen
der EMA in Fragen der Nutzenbewertung und letztlich der Erstattung die größte Herausforderung
des „lernenden Systems“ sei.
Intensiv diskutiert wurde auch die Sinnhaftigkeit des Heranziehens von Sulfonylharnstoffen
als zweckmäßige Vergleichstherapie in den AMNOG-Bewertungen für neue Arzneimittel
zur Therapie des Typ-2-Diabetes [
Kasten
].
Umfangreiches Themen-Potpourri
Das Programm des Expertenforums bot noch eine Reihe weiterer Themen:
-
Versorgungssituation und Therapieziele bei der medikamentösen Behandlung von Patienten
mit Diabetes mellitus standen bei Prof. Dirk Müller-Wieland, Sprecher der Kommission
„gesundheitspolitische Fragen“ der Deutschen Diabetes Gesellschaft, im Mittelpunkt.
Er ging dabei u. a. kritisch auf die kardiovaskuläre Sicherheit von Sulfonylharnstoffen
ein: So zeigen Daten von Bannister CA et al. eine deutlich erhöhte Mortalitätsrate
bei Patienten unter einer Sulfonylharnstoff-Monotherapie vs. unter einer Metformin-Monotherapie
[
5
].
-
Prof. Michael Höcker, Novo Nordisk, referierte über innovative Diabetestherapeutika
– was können sie im Versorgungsalltag leisten?
-
Bei Christian Traupe, Unternehmensbereichsleiter Versorgungsmanagement, AOK Nordost,
ging es um die Versorgung von Patienten mit Diabetes mellitus – was ist (noch) zu
tun?
-
Helmut Hildebrandt, Vorstand OptiMedis AG, beschrieb anhand der Erfahrungen des Projektes
„Gesundes Kinzigtal“ die Versorgung von Patienten mit Diabetes mellitus im Rahmen
eines populationsorientierten Netzes.
Leitlinien bleiben unberücksichtigt
Der Anspruch des Patienten auf eine State-of-the-Art-Behandlung findet sich sowohl
im SGB V als auch in der Gesetzesbegründung des AMNOG. Die Diskrepanz zwischen Leitlinien
einerseits und Verfügbarkeit ist jedoch insbesondere bei der Indikation Diabetes offensichtlich:
So sehen beispielsweise die Nationalen Versorgungsleitlinien zur Therapie des Typ-2-Diabetes
alle modernen Antidiabetika wie DPP-4-Inhibitoren, SGLT-2-Inhibitoren und GLP-1-Rezeptoragonisten
vor [
4
]. Doch ist gerade dieser Bereich in den letzten Jahren von Marktrücknahmen erheblich
betroffen. Nicht mehr in Deutschland verfügbar sind aufgrund der AMNOG-Bewertung die
Wirkstoffe Linagliptin, Lixisenatid, Vildagliptin und Canagliflozin. Dies in Einheit
mit DMP-Therapieempfehlungen, Regelungen zu Praxisbesonderheiten und Leitsubstanzen
habe Bless zufolge in den letzten Jahren zu einem Anstieg des Insulinverbrauchs in
Deutschland geführt, der nicht durch den Prävalenzanstieg zu erklären sei.
Insgesamt betrachtet gefährden die negativen Bewertungen im Rahmen des AMNOG Hecken
zufolge die Arzneimittelversorgung jedoch nicht: So habe es bislang nur 9 Marktaustritte
aufgrund einer negativen Bewertung gegeben und trotz AMNOG sei bisher keine Gruppe
neuer Antidiabetika ganz verschwunden. Für die nächste Novelle des SGB V erwartet
Hecken eine Flexibilisierung bei den zweckmäßigen Vergleichstherapien. Dazu habe sich
der G-BA mit über 60 Firmen zum Thema Studiendesign beraten. Außerdem forderte Hecken
eine Art „Ankerpreis“ für neue Wirkstoffe, denen nur ein mäßiger bis nicht vorhandener
Zusatznutzen zugestanden wird. Im Bereich Onkologie könnten andererseits zusätzliche
Forderungen z. B. nach Lebensqualitätsparametern eine gute Bewertung künftig erschweren.
Monika Walter, München
Quelle:
Expertenforum – Diabetes: „Diabetes als Volkskrankheit: Neue Versorgungs- und Therapiestrategien
auf dem Prüfstand“ am 22. April 2015 in Berlin.