Übersicht Schmerz
Definition
Die Schmerzdefinition der International Association for the Study of Pain (IASP) erwuchs
aus einer Dissertationsschrift von Harold Merskey aus dem Jahre 1964 und wurde nach
längerer Beratung von der IASP festgelegt [1]
[2]. Sie verweist in ihrer Formulierung auch auf die Subjektivität von Schmerz.
Schmerzdefinition der IASP
Schmerz ist eine unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die mit einer aktuellen
oder potenziellen Gewebeschädigung verbunden ist oder wie eine solche beschrieben
wird [1].
Dimensionen von Schmerzen
Akuter vs. chronischer Schmerz
Akuter Schmerz. Diese Form des Schmerzes tritt im Zusammenhang mit Gefahren für die Unversehrtheit
des menschlichen Organismus auf. Er ist somit ein sinnvolles Warnsignal, das für das
Individuum einen Überlebensvorteil darstellt. Die möglichen Auslöser für akute Schmerzen
sind häufig erkennbar, handelt es sich doch meist um offensichtliche Ursachen, wie
z. B. Verletzungen. Die Therapie dieser Schädigungen hat somit oberste Behandlungspriorität
und führt häufig zu einer Schmerzreduktion bis hin zur völligen Heilung. Darüber hinaus
stellt bei akuten schmerzhaften Traumata eine gute Analgesie auch einen wichtigen
Präventionsfaktor für das Auftreten oder die Schwere von psychischen Symptomen, wie
z. B. einer posttraumatischen Belastungsstörung, dar, aber auch für die Entwicklung
von chronischen Schmerzen als Folge der peripheren und zentralen Sensibilisierung
[3]
[4]
[5]
[6].
Während wesentliche neurobiologische Mechanismen der Sensibilisierung des nozizeptiven
Nervensystems erkannt worden sind, kann über deren evolutionsbiologischen Sinn nur
spekuliert werden. Denkbar wäre, dass die beiden folgenden Mechanismen vorrangig aktiv
sind und jeweils einen bedeutsamen Überlebensvorteil bieten:
Chronischer Schmerz. Von chronischen Schmerzen wird bei wiederkehrenden oder länger als 3 Monate anhaltenden
Schmerzen gesprochen. Die Ursache dieser Schmerzen ist dabei entweder unbekannt oder,
falls bekannt, oft schwer zu behandeln. Bei chronischen Schmerzsyndromen ist daher
das oberste Ziel die Minderung der Belastung, da oftmals keine völlige Schmerzfreiheit
erreicht werden kann.
Die dem akuten Schmerz oftmals noch immanente überlebenswichtige Funktion ist beim
chronischen Schmerz meist verloren (Dysfunktionalität chronischer Schmerzen).
Es ist zu betonen, dass bei der Entwicklung chronischer Schmerzen gleichermaßen somatische,
psychologische und soziale Faktoren beteiligt sind und dass das Empfinden von Schmerzen
auch von früheren Erfahrungen abhängig ist. So konnte im Tierversuch gezeigt werden,
dass bereits eine kurzzeitige tägliche Trennung vom Muttertier in der postnatalen
Phase noch bei erwachsenen Ratten zu einer Veränderung der Schmerzschwelle mit Hyperalgesie
führen kann [7].
Chronischer Schmerz kann nicht eindimensional, sondern nur innerhalb eines biopsychosozialen
Modells verstanden werden.
Epidemiologie und ökonomische Bedeutung
Wenn die Angaben je nach Studie auch um eine große Prävalenzspanne divergieren, so
weisen die meisten doch auf eine Punktprävalenz von ca. 20 % hin [8]. Dies entspricht in Deutschland in etwa einer Anzahl von 12 Mio. Menschen [9]. Es besteht auch ein deutlicher Zusammenhang zwischen schmerzhaften Körpersymptomen
und Depressivität [10].
Neben Ausgaben für die unmittelbare Behandlung erhöhen täglich auftretende starke
Schmerzen deutlich das Risiko für Fehlzeiten am Arbeitsplatz [11]. Alleine in Deutschland werden die indirekten Kosten für Rücken- und Kopfschmerzen
durch Arbeitsausfälle und frühzeitige Berentung auf jährlich etwa 18 Mrd. Euro geschätzt,
für chronische Schmerzen insgesamt auf bis zu 29 Mrd. Euro [9].
Schmerzen kosten nicht nur Lebensqualität, sondern auch viel Geld.
Pathophysiologie
In den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts ist erkannt worden, dass Neurone existieren,
die spezifisch noxische Reize detektieren und dementsprechend „Nozizeptoren“ genannt
wurden (Übersicht in [12]). In diesem Zusammenhang zeigte sich, dass Nozizeptoren auch in einen sensibilisierten
Zustand wechseln können, wodurch sich v. a. die Schmerzschwellen für Hitzereize absenken
[12].
Mit diesem Modell ließen sich aber u. a. die folgenden Phänomene nicht erklären:
-
Allodynie – Schmerzempfinden bei normalerweise nicht schmerzhaften Reizen, etwa einer
Bewegung mit einem Pinsel auf der Haut
-
sekundäre Hyperalgesie – erhöhte Schmerzempfindlichkeit auch außerhalb der Schädigungsregion
(s. [Abb. 1])
Abb. 1 Schema zum Phänomen von Hyperalgesie (verstärkte Schmerzantwort auf schmerzhafte
Stimuli) und Allodynie (Schmerzen auf normalerweise nicht schmerzhafte Stimuli).
Verantwortlich hierfür sind neuroplastische Veränderungen im Zentralnervensystem (Rückenmark,
Gehirn), die das Schmerzempfinden in seiner Intensität und seiner zeitlichen und räumlichen
Verteilung maßgeblich beeinflussen. Verstärkte prä- und postsynaptische Aktivität,
verbunden mit erhöhter Membranexzitabilität und reduzierter Inhibition von synaptischen
Übertragungsvorgängen sind hierfür die wesentlichen neurobiologischen Mechanismen.
Weitere Faktoren, die zur Rekrutierung von normalerweise unterschwelligem synaptischen
Input führen, sind in der proinflammatorischen Aktivität des dem Nervensystem eigenen
Bindegewebes (Mikroglia, Astrozyten) und in Veränderungen neuronaler Genaktivität
zu sehen [12].
Aus diesen Befunden ergibt sich das bedeutsame Konstrukt der zentralen Sensibilisierung
mit einem „realen“ neurobiologischen Phänomen, das unabhängig von noxischen Stimuli
chronische Schmerzen hervorruft [12]. Vor diesem Hintergrund kann chronischen Schmerzen der Status einer eigenständigen
Krankheit zugeschrieben werden [13].
Populärwissenschaftlich wird oft der Begriff „Schmerzgedächtnis“ gebraucht, wobei
wichtig für das Verständnis ist, dass das periphere und zentrale (noxische Reize verarbeitende)
Nervensystem mit seinen anhaltenden Aktivierungsmustern an der Aufrechterhaltung dieses
Zustands beteiligt ist [14].
Permanent aus der Peripherie anflutende Schmerzreize können eine zentrale Sensibilisierung
erzeugen und sich neuroplastisch im Schmerzgedächtnis als chronischer Schmerz niederschlagen.
Mit der Entdeckung und Einführung des Konstrukts der zentralen Sensibilisierung ist
ein Tor geöffnet worden für die Deutung schlecht charakterisierter und somatisch oft
nur unzureichend erklärbarer Schmerzsyndrome, wie z. B. das Fibromyalgiesyndrom, die
kraniomandibuläre Dysfunktion oder die anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Diese
treten unter dem Begriff „funktionelle somatische Syndrome“ mit einer Prävalenz von
bis zu 15 % in der Bevölkerung auf [15].
Diagnostik
Die exakte Diagnostik von Schmerzen ist die entscheidende Voraussetzung für erfolgreiche
Therapieansätze. Die wesentliche Tätigkeit eines Arztes oder Psychologen im Bereich
der Schmerzmedizin besteht in diagnostischer Aktivität. Deshalb sollte nicht mehr
von „Schmerztherapie“ gesprochen werden, sondern von „Schmerzmedizin“, zumal dies
der international übliche Begriff ist.
Eine exakte Diagnostik ist die entscheidende Voraussetzung für eine effektive Schmerzmedizin.
Fragen zur Grunddiagnostik
Die Schmerzanamnese orientiert sich an dem biopsychosozialen Modell. Während die biomedizinische
Vorgehensweise nach den mit dem Schmerz verbundenen strukturellen Veränderungen fragt,
orientiert sich die biopsychosoziale Vorgehensweise v. a. an der Frage nach der Funktion
und damit nach der betroffenen Person: also nicht nur „Um was für Schmerzen handelt
es sich?“, sondern auch „Wer hat diese Schmerzen?“ bzw. „Wie ‚funktioniert’ diese
Person?“. Selbst bei überwiegend körperlich begründeten Schmerzen kommt es zu umfassenden
psychosozialen Wechselwirkungen, Veränderungen des Lebensstils und einer Interpretation
der Situation durch den Patienten abhängig von seinen Überzeugungen.
Primäres schmerzmedizinisches Ziel ist eine Behandlung gemäß den zugrunde liegenden
Pathomechanismen, die das jeweilige akute oder chronische Schmerzsyndrom auslösen
bzw. unterhalten.
Eine erfolgreiche Therapie erfordert eine exakte qualitative und quantitative Zuordnung
der bestehenden Beschwerden und ihrer Ursachen.
Nozizeptive Schmerzen
Oberflächenschmerzen. Zu den Nozizeptorschmerzen gehören alle Schmerzen, die ihre Ursache (traumatisch,
tumorös oder entzündlich) in der unmittelbaren Reizung der Schmerzrezeptoren haben.
Diese Reizung kann durch eine Schädigung der Körperoberfläche (Haut) oder tiefer gelegener
Gewebestrukturen (Knochen, Muskulatur u. a.) ausgelöst werden, wobei der Schmerz dann
meist auch unmittelbar an dieser Stelle empfunden wird als sog. Oberflächenschmerz
([Abb. 2]).
Viszeralschmerzen. Demgegenüber können Schmerzen aber auch durch eine Sensibilisierung der Schmerzsensoren
im Körperinneren entstehen und segmental weiter übertragen werden ([Abb. 2]). Klinische Untersuchungen haben gezeigt, dass sich eine solche chronische Erregung
viszeraler Afferenzen (z. B. im Rahmen einer Gastritis) auch in Veränderungen in den
Übertragungszonen somatischer Gewebe niederschlagen kann, die durch sympathisch und
somatisch efferente wie auch afferente Innervation erzeugt werden [16]. Daher spricht man bei diesen Eingeweide- (oder Viszeral-)Schmerzen auch von „übertragenen“
Schmerzen.
Abb. 2 Die Schmerzübertragung erfolgt von peripher (Oberflächenschmerz) wie auch von viszeral
(Eingeweideschmerz) über das Hinterhorn des Rückenmarks mit einer zentralen Weiterleitung
zum Gehirn; dies kann auch die Entstehung übertragener Schmerzen erklären.
Entzündliche Schmerzen
Entzündliche Schmerzen werden prinzipiell den nozizeptiven Schmerzen zugeordnet. Sie
entstehen u. a. durch lokoregionale (z. B. komplexe regionale Schmerzsyndrome [CRPS],
Synonym: M. Sudeck) oder systemische Dysbalancen (z. B. entzündlich-rheumatische Erkrankungen)
von pro- und antiinflammatorischen Zytokinen, wie z. B.
Diese immunologisch vermittelten Prozesse führen zur peripheren und im weiteren Verlauf
auch zu einer zentralen Sensibilisierung des somatosensorischen Systems und somit
zu Schmerzen. So konnte z. B. nachgewiesen werden, dass TNF-α einen entscheidenden
Beitrag zur peripheren Sensibilisierung von Nozizeptoren leistet und TNF-α1- und TNF-α2-Rezeptoren
wichtige zentrale Schmerzmediatoren sind [17].
Neuropathische Schmerzen
Bei neuropathischen Schmerzen handelt es sich um zumeist brennende-elektrisierende
Schmerzen. Sie treten nach einer Läsion von Nervengewebe (Trauma, elektiver operativer
Eingriff) oder im Rahmen von Systemerkrankungen, die das somatosensorische System
negativ beeinflussen (z. B. Diabetes mellitus, ethyltoxische Polyneuropathie, Multiple
Sklerose, HIV-Infektion), auf. Zentrale neuropathische Schmerzen kommen z. B. nach
ischämischen Hirninsulten oder Hirnblutungen vor, sofern spezifische Hirnareale betroffen
sind (z. B. Thalamus, Gyrus cinguli).
Eine Sonderform des neuropathischen Schmerzes ist der Phantomschmerz.
Die Heterogenität der geschilderten Symptome mit vielfältiger Ätiologie erschwert
eine individuelle Therapieplanung, auch wenn sich grundsätzlich die pharmakologische
Behandlung neuropathischer Schmerzen mit Ausnahme der Trigeminusneuralgie nicht wesentlich
unterscheidet [19]
[20].
Nach Ausschöpfen aller kausalen Therapieoptionen (z. B. zeitnahe Behandlung einer
Varizella-Zoster-Virus-Infektion mit Virustatika) sollten pharmakologische Therapieoptionen
geplant werden.
Eine Darstellung des somatosensorischen Systems ist in [Abb. 3] gezeigt.
Abb. 3 Aufsteigende Schmerzbahnen aus Rumpf und Extremitäten. Läsionen können prinzipiell
auf allen Ebenen stattfinden und eine spezifische Symptomatik auslösen [18].
Funktionelle Schmerzen
Funktionelle Schmerzsyndrome treten mit einer Prävalenz von bis zu 15 % in der Bevölkerung
auf [15]. Dabei werden diesem Bild verschiedene funktionelle Syndrome zugerechnet, wie z. B.
Funktionelle somatische Syndrome treten häufiger bei Frauen als bei Männern auf und
sind häufiger von psychischen Störungen begleitet als in der Durchschnittsbevölkerung
oder bei Patienten mit einer strukturell definierten Erkrankung [21]. Darüber hinaus weisen Patienten mit funktionellen somatischen Syndromen überdurchschnittlich
häufig belastende Lebensereignisse auf. Vor diesem Hintergrund spielen in der Therapie
dieser Störungen Antidepressiva und Psychotherapie eine wichtige Rolle.
Gemäß Pathomechanismus werden verschiedene Schmerzqualitäten unterschieden. Hierzu
gehören nozizeptive, entzündliche, neuropathische, funktionelle und in der Mehrzahl
Schmerzsyndrome mit gemischter Qualität („Mixed Pain“).
Therapieoptionen
Mit dem Erstgespräch beginnt die Therapie, indem folgende Interventionen zum Einsatz
kommen:
-
interpersonal (den Schmerz und den Patienten annehmen)
-
edukativ (Aufbau eines psychosomatischen Krankheitsverständnisses)
-
motivational (die Selbstwirksamkeit steigern)
Der Patient muss sich „erkannt“ fühlen. Bei der Therapie sollten Präferenzen des Patienten
und des Behandlers Berücksichtigung finden.
Die Reduktion des Schmerzes ist auch Mittel zum Zweck: Entscheidend ist oft der Wechsel
der Sichtweise von einem rein kurativen oder symptomatischen Ansatz zu einem eigenverantwortlichen
rehabilitativen Ansatz. Als günstig gelten strukturierte Programme einer multimodalen
Therapie mit einer hohen Behandlungsdichte von mehr als 100 Stunden und einem explizit
interdisziplinären und integrativen Ansatz. Dieser sollte mit Teamsitzungen, der Fokussierung
auf die Wiederherstellung der körperlichen und sozialen Funktionsfähigkeit sowie der
Nutzung psychotherapeutischer Prinzipien verbunden sein [22].
Im Zusammenhang mit tagesklinischen Ansätzen ist die therapeutische Wiederholungswoche
10 Wochen nach Abschluss der Behandlung (Boosterbehandlung) zu empfehlen [23].
Wenn ausgeprägte psychische Komorbiditäten wie Depressionen oder Angststörungen vorliegen,
müssen diese selbstverständlich beachtet und mitbehandelt werden. Auf welchem Beschwerdebild
dann initial der Fokus liegt, ist individuell verschieden.
Medikamentöse Therapieoptionen
Die Pharmakotherapie in der Schmerzmedizin ist in den letzten 2 Jahrzehnten deutlich
differenzierter geworden. Insbesondere die klinische Unterscheidung in nozizeptive,
neuropathische und inflammatorische Schmerzsyndrome führte zu unterschiedlichen pharmakologischen
Ansätzen ([Tab. 1]).
Tab. 1
Pharmakotherapeutische Optionen in der Schmerzmedizin auf Basis der Pathomechanismen
der Schmerzsyndrome.
Wirkstoffgruppe
|
Wirkort
|
Wirkmechanismus
|
Haupteinsatz
|
NSAR
|
peripher/spinal
|
analgetisch/antiinflammatorisch
|
Nozizeptorschmerz, Entzündungsschmerz
|
Opioide
|
spinal Gehirn
|
analgetisch
|
stärkste Nozizeptorschmerzen, starke Nervenschmerzen
|
Kanalblocker (z. B. Pregabalin)
|
im Nerv spinal supraspinal
|
nervenstabilisierend anxiolytisch
|
Nervenschmerzen
|
Reuptake-Hemmer (z. B. Amitriptylin)
|
spinal supraspinal
|
Steigerung der Schmerzhemmung
|
Nervenschmerzen, chronische Schmerzen
|
Kaliumkanalöffner
|
spinal
|
relaxierend
|
Muskelverspannungen
|
Neuropathische Schmerzen. Während nozizeptive Schmerzen meist mit Nicht-Opioid-Analgetika, wie z. B. nichtsteroidalen
Antirheumatika (NSAR), und Opioiden, wie etwa Buprenorphin, behandelt werden, stehen
bei neuropathischen Schmerzen als Substanzen der 1. Wahl zur Verfügung:
-
Antidepressiva (Trizyklika [TCA], balancierte Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer
[SNRI])
-
Antikonvulsiva (Gabapentin, Pregabalin), die neuronale spannungsabhängige Kalziumkanäle
inhibieren
Interessanterweise gelten diese beiden Gruppen neben den sog. N-Methyl-D-Aspartat
(NMDA)-Rezeptor-Antagonisten (z. B. Amantadin, Ketamin) als die wirksamsten Verbindungen
gegen chronische Schmerzen durch zentrale Sensibilisierung. Opioide mit einem sog.
dualen Wirkprinzip (Aktivierung von Opioidrezeptoren und monoaminerge Effekte) wie
Tramadol und Tapentadol ergänzen die Wirkstoffpalette gegen neuropathische Schmerzen.
Bei Symptomen der Allodynie haben sich auch topische Therapieformen (Pflaster oder
auch Cremes) etabliert, wie z. B. Lidocain-Pflaster 5 % und Capsaicin-Pflaster 8 %
mit Effektstärken vergleichbar zu denen einer systemischen Pharmakotherapie.
Diese Entwicklungen sind bedeutsam, da gerade neuropathische Schmerzen sehr häufig
vorkommen und einige der genannten Substanzen von Erkenntnissen über ihren Wirkmechanismus
in präklinischen Modellen ausgehend entwickelt worden sind. Trotzdem können die Schmerzen
– auch bei Verwendung von Kombinationen – bei kaum mehr als 50 % der Betroffenen zufriedenstellend
gelindert werden [24]. Nicht tolerable Nebenwirkungen können weitere Gründe sein, warum die genannten
Substanzen nicht erfolgreich eingesetzt werden können. Aus diesem Grund werden auf
einer Off-Label-Ebene NMDA-Rezeptorantagonisten (z. B. Amantadin, Ketamin), Cannabinoide
(z. B. THC/CBD-Kombination) und andere Substanzen in der Hoffnung eingesetzt, einen
der mindestens 10 identifizierten neurobiologischen Mechanismen zu beeinflussen, die
zur Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen beitragen.
Die vielen möglichen neurobiologischen Pathomechanismen stellen eine Herausforderung
für die gezielte medikamentöse Schmerztherapie dar.
Darüber hinaus kann die geschickte Medikamentenkombination dazu führen, dass Opioiddosen
gesenkt oder vermieden und Toleranzen gegenüber Opioiden reduziert werden können.
Biologisch begründete Toleranz gegenüber Opioiden (Rezeptorverlust, hyper- bzw. proalgetische
Effekte von Opioiden) ist ein lange unterschätztes Problem, das zur Empfehlung eines
zurückhaltenderen Umgangs mit Opioiden bei gutartigem Hintergrund geführt hat [25].
Inflammatorische Schmerzsyndrome. Bei inflammatorischen Schmerzsyndromen werden neben NSAR auch Steroide und andere
sog. Disease Modifying Antirheumatic Drugs (DMARD) eingesetzt. Seit mehr als 10 Jahren
stehen für die Behandlung von entzündlichen Schmerzen sog. Biologika zur Verfügung.
Dabei handelt es sich zumeist um Inhibitoren von proinflammatorischen Zytokinen, wie
z. B. TNF-α, Interleukinen (IL-1 und IL-6) und anderen Zielstrukturen. In den kommenden
Jahren werden weitere Zytokininhibitoren in den Vordergrund treten, welche über JAK-Signalwege
(JAK: Januskinasen) proinflammatorische Zytokine und Chemokine hemmen können. Die
Bedeutung von TNF-α als Schmerzmediator ist im Kapitel „Entzündliche Schmerzen“ ergänzend
dargestellt. Noch nicht geklärt ist ein möglicher Einsatz von Biologika zur Behandlung
von nicht-entzündlichen und/oder zentralen Schmerzen.
Fibromyalgiesyndrom. In den aktuellen S3-Leitlinien zur Behandlung des Fibromyalgiesyndroms steht als
medikamentöse Behandlungsoption weiterhin Amitriptylin als Mittel der 1. Wahl im Vordergrund
[26]. Im Gegensatz zur Therapie der Depression können unter schmerzmedizinischen Aspekten
deutlich niedrigere Dosierungen (5 – 25 mg pro Tag) verwendet werden. Bei fehlender
Wirksamkeit (Symptome: Schmerz, Schlaf) bzw. schlechter Verträglichkeit der Amitriptylinbehandlung
ist ein Wechsel auf Duloxetin oder auch Pregabalin empfehlenswert.
Die medikamentöse Therapie sollte in regelmäßigen Abständen auf Verträglichkeit und
Wirksamkeit evaluiert werden.
Aufgrund der oben aufgeführten, verschiedenen neurobiologischen Schmerzmechanismen
ist in den meisten Fällen von einer Kombination aus mindestens 2 Schmerzpathomechanismen
auszugehen. Davon abgeleitet hat sich der Begriff des „Mixed Pain“ etabliert, der
die Symptomatik und Pathophysiologie der meisten chronischen Schmerzsyndrome am besten
widerspiegelt. Gerade unter diesen Aspekten ist eine kombinierte medikamentöse Therapie
sinnvoll.
CRPS. Ein Paradebeispiel für die Vermischung von unterschiedlichen Pathomechanismen sind
die komplexen regionalen Schmerzsyndrome:
-
CRPS Typ 1, Synonym: M. Sudeck
-
CRPS Typ 2, Synonym: Kausalgie
Charakteristisch für ein CRPS ist das Nebeneinander von neuropathischen und entzündlichen
Mechanismen mit entsprechender Schmerzsymptomatik. Darüber hinaus kommt es zu einer
überschießenden Aktivität des sympathischen Nervensystems. Abgleitet von diesen Mechanismen
ist zumeist eine medikamentöse Therapie aus Glukokortikoiden, Antikonvulsiva/Antidepressiva
und Opioiden erforderlich. Bei besonders schweren Fällen mit klinisch führender neuropathischer
Schmerzsymptomatik mit Hyperalgesie und Allodynie werden zusätzlich Sympathikusblockaden
mit Lokalanästhetika oder mit dem Opioid Buprenorphin in das multimodale Behandlungskonzept
integriert [27].
Antihyperalgetisch wirksame Substanzen
Antihyperalgetisch wirksame Substanzen
In der vorliegenden Arbeit kann und soll nicht näher auf Wirkstoffe aus dem Bereich
der NSAR und Opioide eingegangen werden. NSAR haben ihre Berechtigung bei einer Reihe
von (entzündlichen) Erkrankungen, genau wie Opioide bei starken bis stärksten Schmerzen
oft indiziert sein können. Der Fokus soll in dieser Arbeit aber auf chronischen Schmerzsyndromen
und antihyperalgetisch wirksamen Substanzen u. a. aus der Klasse der Antidepressiva
und Antikonvulsiva liegen (s. [Tab. 1]).
Antidepressiva
Antidepressiva nehmen in der Behandlung chronischer Schmerzzustände eine immer größer
werdende Rolle ein [28]. Außer ihrem originären Ansatz, Depressivität zu behandeln oder zu vermeiden, verfügen
einige über eine eigene analgetische Potenz. Dabei sind die Wirkmechanismen vielfältig.
Neben Effekten auf sensibilisierte Natriumkanäle und NMDA-Rezeptoren spielt v. a.
die Aktivierung der noradrenerg und serotonerg abhängigen Schmerzhemmbahnen durch
Antidepressiva eine wichtige Rolle [29].
Trizyklische Antidepressiva (TCA)
Zugelassen für die langfristige Schmerzbehandlung im Rahmen eines therapeutischen
Gesamtkonzepts sind in Deutschland die folgenden TCA:
Diverse weitere TCA zeigen jedoch ebenfalls einen Nutzen und sind als Off-Label-Use
eine Alternative der adjuvanten Schmerztherapie. Die Auswahl des Medikaments sollte
sich dabei im Idealfall nach dem Spektrum der unerwünschten Arzneimittelwirkungen
richten, die ggf. therapeutisch genutzt werden können. Beispielhaft können hier psychomotorisch
aktive Patienten mit einer Schlafstörung erwähnt werden, die mit dem dämpfenden Amitriptylin
behandelt werden können.
Nebenwirkungen von Antidepressiva lassen sich in der Schmerzmedizin gezielt therapeutisch
einsetzen, z. B. bei Schlafstörungen.
Amitriptylin. Amitriptylin ist ein unselektiver Hemmstoff der Monoamin-Wiederaufnahme. Es wirkt
im synaptischen Spalt vorzugsweise serotonerg und noradrenerg. Seine anticholinerge
und antihistaminerge Wirkung führt dabei zu einer zentralnervösen Dämpfung, die auch
therapeutisch genutzt werden kann. Als seit Jahren etabliertes TCA findet Amitriptylin
daher insbesondere bei ängstlich-agitierter Depression seine Anwendung. Ein weiteres
wichtiges Anwendungsgebiet ist die langfristige Schmerzbehandlung im Rahmen eines
therapeutischen Gesamtkonzepts. Aufgrund seiner nachgewiesenen migräneprophylaktischen
Wirkung gilt Amitriptylin zusätzlich als Mittel der 2. Wahl bei der Prophylaxe von
Migräne [30]. Und auch zur Behandlung des Spannungskopfschmerzes ist es sehr gut untersucht [31]. Wie andere TCA nutzt man neben seiner analgetischen auch seine anticholinerge Wirkung
zur Behandlung des Reizdarmsyndroms [32]. Ebenso setzt man es bei funktionellen Schmerzsyndromen ein.
Die analgetische Wirkung kann dabei schon im unteren Dosisbereich, z. B. ab einer
Initialdosis von 5 – 10 mg, beobachtet werden, wohingegen sich antidepressiv wirksame
Tageserhaltungsdosen in einem Bereich von 100 – 150 mg finden lassen.
Amitriptylin weist außerdem lokale Wirkmechanismen auf, weshalb es auch topisch eingesetzt
werden kann, z. B. bei neuropathischen Schmerzen [33].
Nortriptylin. Amitriptylin wird im Körper zu Nortriptylin verstoffwechselt. Dieser aktive Metabolit
ist in Europa zur Behandlung der Depression, der Enuresis, aber auch zur Migräneprophylaxe
und bei chronischen Schmerzen im Rahmen des bereits oben erwähnten Gesamtkonzepts
zugelassen.
Nortriptylin wirkt – wie auch Amitriptylin – über noradrenerge Wiederaufnahmehemmung.
Es hat jedoch die serotonerge und antihistaminerge Wirkung des Amitriptylins verloren,
was sich u. a. in einem geringer ausgeprägten Spektrum unerwünschter Wirkungen und
dem Verlust der sedativen Wirkung äußert. Nortriptylin wirkt vielmehr antriebssteigernd.
Nortriptylin zeigt im Gegensatz zu Amitriptylin keine serotonergen und antihistaminergen
Effekte und wirkt antriebssteigernd.
Imipramin. Der Wirkstoff ist ein Dibenzazepin und gehört zur Gruppe der trizyklischen Antidepressiva.
Entsprechend hemmt Imipramin die Monoamin-Wiederaufnahme mit vorherrschend serotonerger
und noradrenerger Wirkung.
Es ist für die Therapie aller Formen von depressiven Erkrankungen zugelassen, bei
Pavor nocturnus und Enuresis nocturna sowie zur adjuvanten Therapie chronischer Schmerzen.
Aktivierende und sedierende Teilkomponenten halten sich bei Imipramin eher die Waage,
wobei sich die sedative Wirkung im Laufe der Behandlung oftmals verliert.
Desipramin. Der aktive Metabolit ist Desipramin, das sehr stark antriebssteigernd wirkt. Es wurde
früher in vielen Ländern als eigenes Medikament vertrieben, aber u. a. wegen unerwünschter
kardialer Wirkungen in den meisten Ländern aus dem Handel genommen, obgleich der Wirkstoff
in Deutschland noch erhältlich ist.
Clomipramin. Auch Clomipramin ist ein Derivat des Imipramins, unterscheidet sich von diesem jedoch
durch einen zusätzlichen Chlorsubstituenten. Es zeigt ein breites therapeutisches
Spektrum und ist den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) in der Behandlung
von Zwangsstörungen überlegen [34]. Wie auch Imipramin ist es zur adjuvanten Schmerztherapie im Rahmen eines therapeutischen
Gesamtkonzepts zugelassen.
Trimipramin. Empirisch wird Trimipramin oftmals eine starke hypnotische Wirksamkeit zugeschrieben.
Da jedoch bisher kein klarer Wirksamkeitsnachweis bei eher geringerer Verträglichkeit
gegenüber Doxepin berichtet wurde, ist es weiterhin nicht wie dieses in der Indikation
zum Schlafanstoß zugelassen. Es gibt aber Hinweise, dass es in niedriger Dosis adjuvant
zur Behandlung chronischer Schmerzen erfolgreich eingesetzt werden kann, auch wenn
im Vergleich zu anderen TCA Negativdaten vorliegen (z. B. beim Reizdarmsyndrom) [35].
Doxepin. Als TCA ist Doxepin ein unselektiver Hemmstoff der Monoamin-Wiederaufnahme. Neben
seiner noradrenergen und serotonergen Wirkung zeigt Doxepin auch anticholinerge, antihistaminerge
und adrenolytische Effekte.
Aufgrund der stark dämpfenden Wirkung wird es bei Angststörungen und agitierten wie
auch psychotischen Depressionen eingesetzt. Auch bei Schlafstörungen findet es breite
Anwendung. Es ist ferner geeignet, um vegetative Erregungszustände zu dämpfen, wie
sie z. B. bei Entzugssymptomen von Alkohol, Arzneimitteln oder Opiaten auftreten können.
In der Behandlung z. B. chronischer neuropathischer Schmerzsyndrome [36] zeigt Doxepin durchaus positive Effekte und hat eine Zulassung zur Behandlung chronischer
Schmerzzustände im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts. Aufgrund seiner antihistaminergen
Wirkung findet es aber auch bei dermatologischen Symptomen Anwendung und scheint positive
Effekte u. a. auf Juckreiz zu haben [37].
Balancierte Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SNRI)
Duloxetin. Dies ist ein chiraler Arzneistoff aus der Gruppe der SNRI. Es ist in der EU zugelassen
zur Behandlung von:
-
depressiven Erkrankungen
-
generalisierten Angststörungen
-
Stress-Harninkontinenz bei Frauen
-
Schmerzen bei diabetischer Polyneuropathie
Der analgetische Effekt bei Schmerzsymptomen in Verbindung mit Depression ist nach
einer neueren Metaanalyse allerdings gering [38]. Untersuchungen zur individuellen Patientenreaktion zeigen entweder eine überdurchschnittlich
gute oder keine Besserung bis hin zu ausgeprägten unerwünschten Nebenwirkungen unter
der Behandlung mit Duloxetin [39].
In den USA besteht auch eine Zulassung zur Behandlung muskuloskeletaler Schmerzen
sowie der Fibromyalgie. In Europa jedoch wurde die Wirksamkeit durch den Ausschuss
für Humanarzneimittel der European Medicines Agency (EMA) als nicht ausreichend bewiesen
eingestuft [40].
Duloxetin stellt in Deutschland für die Indikationen muskuloskeletaler Schmerzen und
Fibromyalgie einen Off-Label-Behandlungsansatz dar.
Venlafaxin. Das Phenylethylaminderivat entfaltet als SNRI seine Wirkung im Zentralnervensystem.
Es ist zur Behandlung von Angsterkrankungen und Depressionen zugelassen, bei Letzteren
auch zur Rezidivprophylaxe. Weiterhin wird es im Off-Label-Use zur Behandlung der
neuropathischen Schmerzen bei diabetischer Polyneuropathie eingesetzt.
Weitere Antidepressiva mit antihyperalgetischem Effekt
Mirtazapin. Der Wirkstoff gehört zur Gruppe der tetrazyklischen Antidepressiva. Er blockiert
präsynaptisch α2-Rezeptoren und führt dadurch zu einer Hemmung verschiedener Kopplungsmechanismen,
über die normalerweise die Freisetzung der Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin
gehemmt wird. Ferner konnte eine Wirkung auf Opioidrezeptoren gezeigt werden, wobei
Mirtazapin zum κ3-Opioidrezeptor eine hohe, zum μ-Opioidrezeptor jedoch eine geringere
Affinität aufweist [41].
Mirtazapin ist das Pyridylanalogon von Mianserin.
Im Gegensatz zu Mianserin zeigt Mirtazapin jedoch neben seinen ausgeprägten antidepressiven
Effekten auch analgetische Effekte, sodass eine Off-Label-Anwendung in der adjuvanten
Schmerztherapie erwogen werden kann. Die gegenwärtige Studienlage spricht jedoch für
den Einsatz der besser untersuchten TCA.
Bupropion (vor dem Jahre 2000: Amfebutamon). Hierbei handelt es sich um einen selektiven Noradrenalin- und Dopamin- (und nur geringfügig
auch Serotonin-)Wiederaufnahme-Inhibitor (NDRI). In Deutschland wurde die Zulassung
als Antidepressivum in einer retardierten Präparatform erteilt; es findet ferner auch
Anwendung in der Raucherentwöhnung. Es gibt Hinweise darauf, dass Bupropion antineuropathisch
wirken kann (zur Übersicht s. [36]
[42]), ohne dass es in dieser Indikation zugelassen ist.
Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI). Auch wenn einige Studien immer wieder eine Wirksamkeit bei chronischen Schmerzen
nahelegen, zeigen SSRI wie Paroxetin oder Citalopram in der Regel nur geringe oder
wie Fluoxetin gar keine Effekte auf die Schmerzwahrnehmung [36]. Sie spielen jedoch eine wichtige Rolle in der Behandlung sekundärer (reaktiver)
Depressionen u. a. bei der chronischen Schmerzstörung, auch wenn hier aufgrund breiterer
Wirkmechanismen den TCA, SNRI oder dem Mirtazapin der Vorzug zu geben ist.
SSRI zeigen kaum oder keine Effekte auf die Schmerzwahrnehmung.
Antidepressiva und Körpergewicht
Ein häufiges Problem bei der Behandlung mit Antidepressiva stellt die Gewichtszunahme
dar, die in vielen Fällen einer meist initialen Gewichtsabnahme folgt. Die Gewichtszunahme
ist gleichermaßen aus biomechanischen, neurobiologischen und psychischen Faktoren
nachteilig, da hierdurch chronische Schmerzen verstärkt werden können.
Eine Gewichtszunahme kann chronische Schmerzen verstärken.
In einer Metaanalyse wurde gefunden [43]:
-
größte Gewichtstreiber: Amitriptylin, Mirtazapin, die SSRI Paroxetin und Citalopram
sowie etwas geringer ausgeprägt Nortriptylin
-
im Mittel mit einer Gewichtsreduktion verbunden: Bupropion und geringer ausgeprägt
der SSRI Fluoxetin
-
im Mittel kein oder nur ein geringes Potenzial zur Gewichtszunahme: Imipramin, Duloxetin
und der SSRI Sertralin
Allerdings sind die Aussagen der Metaanalyse insofern zurückhaltend zu bewerten, da
Studien, in denen Übergewichtige und Patienten mit Essstörungen mit Antidepressiva
behandelt wurden, nicht mit in die Analyse aufgenommen wurden.
Antihyperalgetisch wirksame Antikonvulsiva
Gabapentin. Das Antikonvulsivum Gabapentin ist strukturell mit GABA verwandt. Als analgetische
Wirkkomponente wird die Blockade zentraler L-Typ-Kalziumkanäle angenommen. Zusammen
mit Pregabalin repräsentiert diese Substanz die Gruppe der Antikonvulsiva mit Wirkung
auf neuronale Kalziumkanäle und gehört neben den Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale
Natriumkanäle (s. u.), Antidepressiva (s. o.), lang wirksamen Opioiden (s. o.) und
topischen Therapieprinzipien mit Lidocain und Capsaicin (s. o.) zu den wichtigsten
Substanzen in der Behandlung chronischer neuropathischer Schmerzen [44].
Gabapentin kann postoperative Schmerzen lindern und (ähnlich wie Pregabalin) bei perioperativem
Einsatz chronischen postoperativen Schmerz verhindern [45]
[46].
Pregabalin. Pregabalin ist ein GABA-Analogon, wirkt aber nicht aktiv an dessen Rezeptor. Somit
kann es weder als Agonist noch als Antagonist bezeichnet werden. Ferner bindet es
an einer Untereinheit (α2-δ-Protein) von spannungsabhängigen Kalziumkanälen. Es gehört
wie das Gabapentin zu den Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Kalziumkanäle und
wird entsprechend häufig bei chronischen neuropathischen Schmerzen eingesetzt (s. o.).
Es besteht eine Zulassung zur Behandlung peripherer und zentraler neuropathischer
Schmerzen. Darüber hinaus scheint Pregabalin perioperativ zu wirken, hat dafür aber
keine Zulassung [46]. Zugelassen ist der Wirkstoff auch bei generalisierter Angststörung. Absetzphänomene
sind beschrieben.
Carbamazepin. Ebenso wie das strukturchemisch sehr ähnliche Imipramin ist Carbamazepin ein Dibenzazepin,
gehört aber zur Gruppe der Antikonvulsiva. Es entfaltet seine Wirkung, ebenso wie
z. B. Lamotrigin, vorwiegend über neuronale Natriumkanäle und ist Mittel der 1. Wahl
zur Behandlung der neuropathischen Attackenschmerzen (z. B. Trigeminusneuralgie) [47].
Bei nicht tolerablen Nebenwirkungen des Carbamazepins kann das oft besser verträgliche
Oxcarbazepin eingesetzt werden.
NMDA-Rezeptorantagonisten
>NMDA-Rezeptorantagonisten wie Ketamin, Amantadin, Memantin und Dextromethorphan zeigen
als Glutamatantagonisten laut einigen klinischen Studien Wirkungen bei neuropathischen
Schmerzen [48]. Dabei erzielt z. B. Ketamin auch als Lokaltherapeutikum wie auch intravenös in
subanästhetischer Dosierung Effektivität [49]
[50]. Obwohl Ketamin noch keine offizielle Zulassung zur Behandlung von chronischen Schmerzsyndromen
hat, stellt es bei Unverträglichkeit oder Unwirksamkeit eine Alternative dar und zeigt
durchaus auch ein antidepressives Potenzial [51].
Kaliumkanalöffner
Zu den Kaliumkanalöffnern zählt der Wirkstoff Flupirtin. Er hemmt an seinem spinalen
Angriffspunkt durch Aktivierung von neuronalen Kaliumkanälen die Weiterleitung von
nozizeptiven Impulsen.
Flupirtin ist ein zentral wirkendes, nichtopioides Analgetikum. Innerhalb der Nicht-Opioid-Analgetika
bildet Flupirtin eine eigene Untergruppe, da es analgetisch, aber nicht antipyretisch
oder antiphlogistisch wirkt.
Bisher war Flupirtin zur Behandlung akuter und chronischer Schmerzen zugelassen (z. B.
Muskelverspannungen, Spannungskopfschmerz, Tumorschmerz und postoperativer Schmerz).
Am 15.7.2013 wurde jedoch durch die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
ein Rote-Hand-Brief herausgegeben [52]. Grund hierfür war der Nachweis von Hepatopathien unter der Behandlung mit Flupirtin
(„Leberwert“-Erhöhungen bis zum Leberversagen). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt darf Flupirtin
nur bei akuten Schmerzen bei Erwachsenen eingesetzt werden, sofern NSAR und Opioide
kontraindiziert sind. Die Dauer der oralen Therapie darf 14 Tage nicht überschreiten,
und „Leberwert“-Messungen müssen im wöchentlichen Abstand während der Therapie erfolgen.
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Chronischer Schmerz ist multifaktoriell.
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Eine effiziente Arzt-Patienten-Kommunikation ist der Schlüssel zum erfolgreichen Schmerzmanagement.
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Kenntnisse der Schmerzphysiologie sollten Basis der Behandlungsentscheidungen sein.
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Der Einsatz der Medikamente sollte nach pathophysiologischen Erkenntnissen und spezifischen
Medikamentenwirkungen erfolgen.
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Das Wissen über antihyperalgetische Wirkstoffe, wie z. B. Antidepressiva und Antikonvulsiva,
nimmt beständig zu.
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Das Verständnis des Teufelskreises „chronischer Schmerz“ in der pharmakologischen
Schmerzbehandlung ist wichtig.
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Ziel sollte eine mechanismenorientierte Schmerztherapie sein, die an die individuellen
Bedürfnisse des Patienten angepasst wird.