Defizite bei der Versorgung schwer psychisch Kranker
Defizite bei der Versorgung schwer psychisch Kranker
Deutschlands Gesundheitssystem krankt an verschiedenen grundlegenden Problemen. Insbesondere
drei Aspekte sind bei der Versorgung schwer psychisch Kranker relevant: (1) die Fragmentierung
der Versorgung, die durch die unterschiedliche Vergütung ambulanter, stationärer und
komplementärer Leistungen perpetuiert wird, (2) eine Diversifizierung des Systems,
mit einer zunehmenden Anzahl von Akteuren und (3) der Umstand, dass ein belegtes Krankenhausbett
besser finanziert wird als eine komplexe ambulante Behandlung [1].
Obgleich gemeindenah versorgt, profitieren gerade Menschen mit schweren psychischen
Erkrankungen und einem komplexen Hilfebedarf in Deutschland nicht flächendeckend von
evidenzbasierten Versorgungsangeboten, insbesondere von komplexen ambulanten Leistungen.
Dazu zählen zum Beispiel die häusliche Akutbehandlung (Home Treatment) oder das sogenannte Assertive Community Treatment (ACT), eine längerfristige aufsuchende Behandlung im häuslichen Setting durch multiprofessionelle
Teams [2]
[3]. Der Anspruch auf ein Klinikbett, regelmäßige Facharztkonsultationen und der Zugang
zu allen verfügbaren Psychopharmaka sind wichtig, aber nicht hinreichend für die Behandlung
schwer psychisch Kranker [4]. Modellvorhaben zeigen, dass neue Finanzierungsformen die Etablierung neuer Versorgungsformen
mit ambulanter Komplexbehandlung fördern und gestufte und kollaborative Hilfen möglich
machen [5]
[6]. Gleichwohl hängt deren Etablierung oft von zufälligen lokalen Besonderheiten im
Zusammenwirken verschiedener Akteure ab [4]. Die Weiterentwicklung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung und die
Schaffung der entsprechenden Rahmenbedingungen ist eine zentrale Aufgabe – bietet
der Innovationsfonds hierfür Chancen?
Der Innovationsfonds: Initiierung, Finanzierung und allgemeine Zielbestimmung
Der Innovationsfonds: Initiierung, Finanzierung und allgemeine Zielbestimmung
Der Innovationsfonds ist Teil des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes (§§ 92a und 92b), das am 23.7.2015 in Kraft getreten ist [7]. Mit dem Innovationsfonds sollen zukünftig in erster Linie innovative sektorenübergreifende
Versorgungsformen, aber auch andere Versorgungsforschungsvorhaben gefördert werden.
Dazu steht ab 2016 – 2019 eine jährliche Fördersumme von insgesamt 300 Mio. Euro zur
Verfügung. 225 Mio. Euro sollen dezidiert in die Förderung neuer sektorübergreifender
Versorgungsformen fließen (§ 92a, Abs. 1, SGB V). 75 Mio. Euro sollen in weitere Projekte
der Versorgungsforschung investiert werden, die auf einen Erkenntnisgewinn zur Verbesserung
der bestehenden Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgerichtet sind
(§ 92a, Abs. 2, SGB V). Die Mittel werden durch den Gesundheitsfonds und die gesetzlichen
Krankenkassen bereitgestellt. Dabei sollen insbesondere Vorhaben berücksichtigt werden,
die über die bisherige Regelversorgung hinausgehen, einer besseren und sektorübergreifenden
Versorgung verpflichtet sind und ein hinreichendes Potenzial aufweisen, dauerhaft
in die Versorgung implementiert zu werden. Eine wissenschaftliche Begleitung ist zwingend.
Ziel ist es, die Versorgungsqualität und Versorgungseffizienz zu verbessern, Versorgungsdefizite
zu beheben und die Zusammenarbeit innerhalb und zwischen verschiedenen Versorgungsbereichen,
Einrichtungen und Berufsgruppen zu optimieren. Vorrang haben interdisziplinäre und
fachübergreifende Versorgungsmodelle, deren Erkenntnisse insbesondere auf andere Regionen
und Indikationen übertragbar sind. Wichtig ist eine Verhältnismäßigkeit von Implementierungskosten
und erwartbarem Nutzen [8]
[9].
Was wird konkret gefördert?
Was wird konkret gefördert?
Die Frage, welche innovativen Projekte der sektorübergreifenden Versorgung konkret
mit diesen 225 Mio. Euro pro Jahr förderungswürdig sind, ist bisher unzureichend beantwortet
[8]. In der Begründung zum GKV-Versorgungsstärkungsgesetz werden die Bereiche Telemedizin,
Versorgungsmodelle in strukturschwachen Gebieten, Modelle mit Delegation und Substitution
von Leistungen, Auf- und Ausbau der geriatrischen Versorgung, Modellprojekte zur Arzneimitteltherapiesicherheit
bei multimorbiden Patienten und Einbeziehung von Möglichkeiten zur Verbesserung der
Versorgungseffizienz von Patienten mit Migrationshintergrund genannt. Darüber hinaus
wird darauf verwiesen, dass der einzurichtende Innovationsausschuss konkrete Förderschwerpunkte
festlegt.
Die Versorgungsforschungsprojekte, für die jährlich 75 Mio. Euro zur Verfügung stehen,
sollen auf einen Erkenntnisgewinn zur Verbesserung der bestehenden Versorgung der
GKV ausgerichtet sein und insbesondere die Kriterien praktische Relevanz und besondere
Nähe zur Patientenversorgung erfüllen. Die Projekte sollen Erkenntnisse liefern, die
vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in seine Richtlinien zur Gestaltung der Versorgung übernommen werden oder dem Gesetzgeber
als Grundlage für strukturelle Veränderungen der gesetzlichen Grundlagen dienen können.
Anträge können auch der wissenschaftlichen Begleitung und Auswertung von Verträgen
nach §§ 73c und 140a SGB V dienen, die vor Inkrafttreten des Gesetzes geschlossen
wurden, sowie für Forschungsvorhaben zur Weiterentwicklung und insbesondere Evaluation
der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses eingesetzt werden. Auch hier wird
eine Spezifizierung erwartet.
Wer entscheidet?
Die Festlegung der Förderschwerpunkte, die Ausschreibungen und die Entscheidungen
über die Förderanträge trifft der sogenannte Innovationsausschuss, der beim G-BA bis zum 1. Januar 2016 neu eingerichtet werden soll. Dem Innovationsausschuss
gehören zehn stimmberechtigte Mitglieder an. Neben dem unparteiischen Vorsitzenden
des G-BA finden sich Vertreter der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung (KBV), der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), der Deutschen
Krankenhausgesellschaft (DKG), des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) und des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Wo bleibt die Wissenschaft, wie
werden die Versorgungsforscher in die Entscheidungen eingebunden? Ein Forschungsprogramm
ohne Einbindung von Forschungsexpertise in die Entscheidungen erscheint widersinnig,
so als ob man ein Krankenhaus ohne Ärzte betreiben möchte. Dieser Umstand war ein
Hauptkritikpunkt am Referentenentwurf des Gesetzes, z. B. durch das Deutsche Netzwerk
Versorgungsforschung (DNVF) und die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) [10]
[11]. Infolge der Diskussion wird dem Ausschuss nun ein Expertenbeirat zur Seite gestellt,
der den Innovationsausschuss berät. In diesen Expertenbeirat werden vom Bundesministerium
für Gesundheit bis zu zehn Vertreter aus Wissenschaft und Versorgungspraxis berufen.
Noch viele Fragen sind offen
Noch viele Fragen sind offen
Diese kurze Beschreibung macht deutlich, dass in relativ kurzer Zeit ein weiter Weg
zu gehen ist. Wie werden die Mittel des Innovationsfonds konkret vergeben? Welche
Stimme hat die Wissenschaft? Wie wirken Expertenbeirat und Innovationsausschuss zusammen?
Gelingt eine hochrangige Besetzung des Expertenbeirats? Kann die Arbeitsfähigkeit
schnell hergestellt werden? Wie wird ein Begutachtungsverfahren für die Projekte initiiert?
Wie werden Fachgutachter ausgewählt? Gelingt es, geeignete Evaluationskriterien für
Projektanträge und Projekte aus dem Innovationsfonds zu implementieren, um die Mittelvergabe
möglichst effektiv, effizient, gerecht, transparent und nachhaltig zu gestalten? Das
Deutsche Netzwerk für Versorgungsforschung hat hier einen entsprechenden Vorschlag
gemacht [12]
[13]. Ein weiterer offener Punkt ist der Umgang mit den Projektergebnissen. Welche Projekte
werden für eine Übertragung in die Regelversorgung ausgewählt? Auch hier fehlen geeignete
Verfahren, die alle Beteiligten, auch die Patienten, inkludieren. Möglicherweise werden
einige dieser Fragen auf dem Deutschen Versorgungsforschungskongress in Berlin vom
7. – 9. Oktober 2015 beantwortet.
Chancen für die Versorgung psychisch Kranker und die psychiatrische Versorgungsforschung?
Chancen für die Versorgung psychisch Kranker und die psychiatrische Versorgungsforschung?
Die Bedeutung psychischer Erkrankungen für die Bevölkerungsgesundheit ist unumstritten.
Die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung war bei den ursprünglichen Projekten
zur integrierten Versorgung, die mit einer Anschubfinanzierung gefördert wurden, unterrepräsentiert.
Dies wurde vielfach beklagt. Der Innovationsfonds eröffnet nun zwei Wege, innovative
Projekte für eine bessere und sektorübergreifende Versorgung psychisch Kranker zu
starten. Zum einen können wissenschaftliche Einrichtungen (sofern sie den noch bekannt
zu gebenden Förderschwerpunkten entsprechen) selbst ohne Krankenkassenpartnerschaft
einen Antrag auf Förderung nach § 92a, Abs. 2, SGB V stellen. Viele der Themen der
psychiatrischen Versorgungsforschung, die Experten in einem strukturierten Verfahren
vor geraumer Zeit identifizierten, sind heute noch immer ganz oben auf der Agenda:
(1) Versorgungswege und Anreize, (2) Prävention, (3) Ressourcenallokation (stationär
vs. ambulant; leichte vs. schwere Störungen), (4) Barrieren für eine optimierte Versorgung
aufseiten der Leistungserbringer und aufseiten der Nutzer, (5) Rolle von Komorbiditäten,
(6) Nutzen von gestuften und kollaborativen Versorgungsansätzen, systematische Integration
von Selbstmanagementelementen in die Regelversorgung (unter Nutzung neuer Medien),
(7) Health Impact Assessments, (8) Benchmarking von Regionen: Identifizieren von Indikatoren
für Qualität von Versorgungsangeboten, -systemen, -strukturen, -regionen [14]. Zum anderen können die in der Versorgungsforschung und in der Versorgungspraxis
Tätigen aber die Chance ergreifen, selbst innovative Versorgungskonzepte zu entwickeln
und Krankenkassen als Partner für diese Projekte zu gewinnen. Damit könnte auch eine
Förderung von Projektideen über den Innovationsfond in einem Umfang erreicht werden,
welcher der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung des Fachgebiets angemessen ist.
Zeitiges Kommen sichert gute (Ausgangs)plätze. Es könnte sich lohnen, schon bei den
ersten Ausschreibungen des Innovationsfonds mit dabei zu sein. Die psychiatrische
Versorgungsforschung ist in Deutschland im Vergleich zu anderen Fachbereichen recht
gut etabliert und dieses Programm bietet die Möglichkeit, weiter zur internationalen
Entwicklung aufzuschließen [15]. Das gilt besonders auch für eine optimierte Versorgung schwer psychisch Kranker
mit komplexen und langfristigen ambulanten Behandlungsbedarfen. Gerade für diese Personengruppe
und deren Partizipation am Wissensfortschritt einer evidenzbasierten Versorgung trägt
unsere Gesellschaft eine besondere Verantwortung.
Der Innovationsfonds ist zweifelsohne ein ambitioniertes Projekt. Befürworter sprechen
von „einem Quantensprung in der Entwicklung des Gesundheitswesens“. Die Initiative
findet vor dem Hintergrund strukturkonservativer Rahmenbedingungen statt und es bleibt
abzuwarten, ob die innovativen sektorübergreifenden Versorgungsmodelle nur ein „Verbindungspflaster“
für ein fragmentiertes Gesundheitssystem mit festgezurrten Finanzierungssäulen sind,
oder ob diese Modelle den Beginn eines Durchbruchs für nachhaltige Verbesserungen
markieren. Die Psychiatrische Praxis, das traditionelle Forum für psychiatrische Versorgungsforschung,
wird diese Entwicklung intensiv und mit großer Spannung begleiten [16].