Schlüsselwörter
Harninkontinenz - Überaktive Blase - Miktionstraining - medikamentöse Therapie - Verhaltenstherapie
Key words
urinary incontinence - overactive bladder - toilet training - drug therapy - behavioral
intervention
Einleitung
Die Therapie der Überaktiven Blase besteht in erster Linie aus konservativen und medikamentösen
Therapieansätzen [1]
[2]. Operative Maßnahmen wie die sakrale Neuromodulation oder der Harnblasenersatz bleiben
seltenen Extremvarianten vorbehalten. Zu den konservativen Maßnahmen gehören die Analyse
und Beeinflussung des Trinkverhaltens laut einem Trink- und Miktionsprotokoll, die
Behandlung einer eventuellen Obstipation und das Vermeiden von Reizstoffen wie Nikotin,
Pfeffer, scharfe Gewürze oder säurehaltige Getränke aber auch ein unterstützendes
„Miktionstraining“ [3]. Gemeint ist neben „festen Entleerungszeiten“, „individuellen Entleerungszeiten“
und dem „angebotenen Toilettengang“ vor allem das „Blasentraining“, bei dem das selbstständige
Gehen zur Toilette nach einem individuell festgelegten und veränderten Plan in bestimmte
verhaltenstherapeutische Schulungsmaßnahmen eingebettet wird ([Tab. 1]).
Tab. 1 Verschiedene Formen des Toilettentrainings in Abhängigkeit von kognitiven und funktionellen
Ressourcen des Patienten, Evidenzlevel und Empfehlungsklassen lt. Leitlinie Harninkontinenz
der Dt. Gesellschaft für Geriatrie [4].
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Form
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Durchführung
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Zielgruppe
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Evidenzgrad/Empfehlung
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Festgelegte Entleerungszeiten (timed voiding)
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z. B. alle 2 Stunden Begleitung zur Toilette
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kognitiv Eingeschränkte, funktionell Abhängige
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IV/C
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Individuelle Entleerungszeiten (habit training)
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wie oben, jedoch mit individuellem Toilettenplan
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kognitiv Eingeschränkte, funktionell Abhängige, wenn Miktionsmuster festellbar
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IIa/B
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Angebotener Toilettengang (prompted voiding)
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Aufmerksamkeit wird auf die Blase gelenkt, Rückmeldung gegeben, Toilettengang angeboten,
verbale positive Rückmeldung, Bemerkung über Zeitpunkt des nächsten Toilettenganges
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Nicht ausreichende kognitive Fähigkeiten für komplexe Interventionen Aber Toilette kann benutzt werden, Harndrang wird gespürt
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IIb/A
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Blasentraining (bladder drill)
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selbstständiges Gehen zur Toilette nach individuellem Plan, aktive Rehabilitations-
und Schulungstechniken
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Kognitiv Kompetente, Motivierte, Eigeninitiative vorhanden
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Ib/A
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Unter den genannten „Rehabilitations- und Schulungstechniken“ sind Informationen über
die physiologische Häufigkeit und Menge der Miktion, der Trinkmenge und Blasenfunktion
im Allgemeinen gemeint. Weiterhin ist Bestandteil eines solchen Programmes das Führen
eines Miktionstagebuches und damit die Bewusstmachung der Miktionsfrequenz und Harndrangvermeidungsstrategien.
Hierunter wird die „Verarbeitung“ des Harndranges mit einem Wegführen der Gedanken
vom Harndrang etwa durch einen „Themenwechsel“, Zählen oder Singen verstanden.
Rationale dieses Vorgehens ist das Begreifen der Miktion auch als „koordinierten Reflex“.
Im physiologischen Erregungsablauf, der zu einer Miktion führt, erreichen afferente
Impulse über den Füllungszustand der Blase das periaquäduktale Grau der Pons. Dieses
pontine Miktionszentrum verarbeitet die ankommenden Impulse, leitet die Miktion durch
Aktivierung von Motoneuronen der Blase und Hemmung des Sphinkter externus ein, sorgt
aber auch für eine Sphinkteraktivierung in der Speicherphase der Blase [5]
[6]
[7]. MRT-Untersuchungen an Frauen, die ein verändertes cerebrales Reaktionsmuster nach
Beckenbodentraining während einer Provokationsfüllung der Harnblase demonstrieren,
lassen annehmen, dass diese cerebralen Abläufe des Miktionsreflexes modulierbar sind
[8]
[9].
Methoden
Zur Bestimmung der Wertigkeit eines Miktionstrainings und der Frage, ob ergänzend
zur klassischen medikamentösen Therapie einer Überaktiven Blase ein Miktionstraining
eingesetzt werden soll bzw. ob sich ein Versuch vor dem Einsatz von Antimuskarinika
lohnt oder eher eine Augmentation einer medikamentösen Therapie durch ein Miktionstraining
bei Nichtansprechen oder ungenügender Symptomkontrolle sinnvoll ist, wurde eine Literaturrecherche
in medline unter den Stichworten „overactive bladder“ und „behavioral training“ vorgenommen.
Von den 83 Treffern fanden im Folgenden nur Originialarbeiten mit engl. Abstract,
die sich mit einem Miktionstraining bei Erwachsenen beschäftigen, Berücksichtigung.
Sie werden im Folgenden besprochen.
Ergebnisse
In einer prospektiven Untersuchung an 108 Patienten mit idiopathischer Überaktiver
Blase, von denen 85 die Testphase beendeten (38 Männer, 47 Frauen), untersuchte Lee
die Effekte von 2 jeweils 30 minütigen Schulungen über die physiologischen Miktionsabläufe,
Anzahl und Volumen der normalen Miktionen. Es wurde ein Video über die Miktions- und
Speicherphase der Harnblase gezeigt und das Ziel verdeutlicht, die Miktionsabstände
langsam zu verlängern. Genannte Strategien waren das Vermeiden des sofortigen Aufsuchens
der Toilette und des Denkens an den Harndrang durch Wechseln des Gedankeninhaltes
gefolgt von Beckenbodenkontraktionen. Die Schulungen enthielten ein individuelles
Gespräch mit einer geschulten Pflegekraft. Eine bestehende medikamentöse Therapie
wurde nicht verändert. Nach der 2. Schulung beurteilten 48,7% der Patienten die Therapie
als effektiv und weitere 46,2% als sehr effektiv. 30,8% der Patienten gaben eine 50–75%ige
Symptomreduktion und weitere 20,5 eine 75–100%ig Symptomkontrolle an. 25,5% der Patienten
fanden, dass das Vermeiden des Ganges zur Toilette, 20,5% das Vermeiden des Denkens
an Harndrang und 38,5% das Kontrahieren des Beckenbodens am meisten hilfreich war.
Die Punktwerte im OAB-q (OAB-Questionnaire), IPSS (Internationaler Prostata-Symptomenscore),
ICI-q (Questionnaire der International Consultion on Inctontinence) zeigten eine jeweils
signifikante Reduktion zwischen den Ausgangswerten und der ersten Visite nach der
ersten Schulung [10]. Die Autoren schlussfolgerten, dass ein Miktionstraining in der Lage ist, Symptome
einer Überaktiven Blase zu verbessern.
Wyman standardisierte bei 357 Patienten die medikamentöse Therapie, indem er das bisher
gegebene Antimuskarinikum auf Tolterodin 4 mg vereinheitlichte und ergänzend ein Miktionstraining
durchführte. Eingeschlossen wurden Patienten über 18 Jahre mit Symptomen einer Überaktiven
Blase über mehr als 3 Wochen definiert als≥8 Miktionen am Tag und≥2 Drangepisoden
in 24 h und≥1 Drangkontinenzepisoden in 5 Tagen in Kombination mit einer Unzufriedenheit
mit der bisherigen antimuskarinergen Therapie. Alle Patienten wurden einheitlich auf
Tolterodin 4 mg täglich umgestellt und erhielten eine schriftliche Anleitung zum Miktionstraining,
die mündlich erklärt wurde. Eine Evaluation fand 8 Wochen später statt. Zu diesem
Zeitpunkt noch nicht zufriedenstellend therapierte Patienten erhielten ein intensives
Gespräch mit einem Arzt zur Verbesserung des Miktionstrainings und wurden nach weiteren
8 Wochen untersucht. Nach 8 bzw. 16 Wochen waren 201 bzw. 252 Patienten (53 bzw. 64%)
sehr zufrieden mit dem Therapieeffekt. Von den 33 Patienten, die die Therapie nach
der 8. Woche mit dem „Standardmiktionstraining“ als nicht zufriedenstellend einstuften,
ließen sich 25 (76%) durch das individualisierte Training noch konvertieren. Alle
Variablen des Miktionsprotokolles und des OAB-q-Scores verbesserten sich vom Ausgangswert
bereits zur 4. Therapiewoche signifikant (p<0,0001) [11]. Die Autoren werteten die Ergebnisse als Beleg für die positiven Effekte eines zusätzlich
zur antimuskarinergen Therapie durchgeführten Miktionstrainings.
Nicht als Sequenz, sondern in einem Vergleich zwischen einer Gruppe von OAB-Patienten
(definiert als ≥8 Miktionen am Tag, imperativem Harndrang mit oder ohne Dranginkontinenz)
mit alleiniger medikamentöser Therapie oder in Kombination mit einem Miktionstraining
setzte Matthiasson die Verhaltensintervention ein [12]. Es wurden 501 Patienten (75% weiblichen Geschlechts) in 2 Arme aufgeteilt: 257
erhielten Tolterodin 2×2 mg alleinig; 244 Patienten in Kombination mit einem Miktionstraining.
Eine Evaluation mit Miktionsprotokoll und dem Volumen pro Miktion fand nach der 2.,
12. und 24. Therapiewoche statt. Zum letzten Zeitpunkt war die Reduktion der Miktion
in 24 h mit 33 vs. 25% in der Kombinationsgruppe signifikant größer als in der nur
medikamentös behandelten Gruppe (p<0,001). Auch das mittlere Miktionsvolumen hatte
in der Kombinationsgruppe um 31% zugenommen, während bei den nur mit Tolterodin behandelten
Patienten dieser Zuwachs nur 20% betrug (p<0,001). Die Reduktion der Inkontinenzepisoden
fiel mit 87 vs. 81% in beiden Gruppen vergleichbar aus (n. s.). Die Autoren kamen
zu dem Schluss, dass die Wirksamkeit einer medikamentösen Therapie der Überaktiven
Blase durch ein ergänzendes Miktionstraining verbessert werden kann.
Im „Male Overactive Bladder Treatment in Veterans Trial“ (MOTIVE) führte Burgio einen
randomisierten Vergleich zwischen einer alleinig mit Verhaltenstherapie und einer
alleinig medikamentös behandelten Gruppe von 143 Männern zwischen 42 und 88 Jahren
durch. Eingangskriterium waren mehr als 8 Miktionen mit imperativem Harndrang mit
oder ohne Dranginkontinenz; alle Männer erhielten standardisiert eine alpha-Blocker-Therapie
und eine individuelle Titration von 5–30 mg Oxybutynin am Tag. Gemessen wurde die
Miktionsfrequenz in 24 h, die Nykturie, die Stärke des Harndranges und der AUA-Symptomen-Score.
Die Miktionsfrequenz nahm um 18,8% in der Verhaltenstherapie-Gruppe ab, in der Oxybutynin-Gruppe
um 16,9%. Die statistische Analyse demonstrierte mit einem p<0,1 eine Gleichwertigkeit
beider Therapiearme. In dem Arm mit Verhaltenstherapie war die Reduktion der Nykturie
stärker (− 0,7 vs. −0,32 Episoden pro Nacht, p=0,05), in dem medikamentös behandelten
Therapiearm fiel die Reduktion des Urgency-Scores größer aus (−0,44 vs. −0,12; p<0,02).
Andere Unterschiede zwischen beiden Gruppen waren nicht signifikant [13]. Im Fazit der Autoren wurde die antimuskarinerge Therapie und die Verhaltenstherapie
als gleichwertig in der Behandlung einer OAB bei Männern und Alpha-Blockade befunden.
Von der gleichen Autorin wurde 2008 eine multizentrische, randomisierte Untersuchung
zur Thematik vorgelegt; 307 Frauen mit idiopathischer OAB (mit der klinischen Diagnose
einer Dranginkontinenz oder Mischinkontinenz mit führender Drangkomponente wurden
in 2 Gruppen eingeteilt: 153 Frauen erhielten Tolterodin 4 mg; 154 Frauen Tolterodin
4 mg und eine zusätzliche Verhaltenstherapie. Zielvariable war eine Reduktion der
Dranginkontinenzepisoden um mehr als 70% unter gleichzeitiger Beendigung der medikamentösen
Therapie ohne einen Wechsel in ein anderes Therapieregime. In beiden Gruppen konnte
dieser Zielwert in 41% erreicht werden; in der kombiniert behandelten Gruppe war der
Anteil von Patientinnen mit einer mehr als 70%igen Reduktion der Dranginkontienzepisoden
mit 69 vs. 58% statistisch signifikant größer. So lautete die Schlussfolgerung, dass
eine zusätzliche Verhaltenstherapie zwar nicht die Chance auf ein Absetzen der medikamentösen
Therapie erhöht, aber eine stärkere Reduktion der Dranginkontinenzepisoden mit sich
bringt, was für die Wahrnehmung der Patientinnen einen positiven Effekt hat [14].
Diskussion
Mit der Rolle des pontinen Miktionszentrums mit einer Verarbeitung und Weiterleitung
der von der Blase einlaufenden Afferenzen mit einem Bewusstwerden des Harndranges
im frontalen Cortex und einer bewussten Entscheidung zur Auslösung des Miktionsreflexes
lassen sich Elemente der Verhaltensmedizin auf die Pathophysiologie der Überaktiven
Blase übertragen. Sie geht von veränderbaren Reizschwellen, erlerntem Verhalten und
dann auch wieder verlernbarem Verhalten durch verhaltenstherapeutische Interventionsmöglichkeiten
aus. Dieser Ansatz ist in der Rauchentwöhnung [15], der Gewichtsreduktion [16]
[17] oder der Therapie des Diabetes mellitus [18] oder arteriellen Hypertonus [19] etabliert. MRT-Befunde der Arbeitsgruppe von Bertil Blok mit einer nachweisbaren
Veränderung des Aktivitätsmusters verschiedener Hirnregionen auf eine schnelle Blasenfüllung
mit und ohne Beckenbodentraining deuten darauf hin, dass sich tatsächlich mit verhaltenstherapeutischen
Interventionen in die neuronale Miktionssteuerung eingreifen und damit auch ein pathologischer
Erregungsablauf modulieren lässt.
Die in der vorliegenden Literaturrecherche gefundenen Arbeiten zum Thema sind uneinheitlich
im Studiendesign; es wird ein Miktionstraining als solche verhaltenstherapeutische
Intervention nicht standardisiert entweder als schriftliche Anleitung übermittelt,
eventuell zusätzlich mündlich erläutert oder mit Videos untermauert ein- oder mehrschrittig
durchgeführt. Es liegen Untersuchungen mit einer alleinig oder zusätzlich medikamentös
therapierten Kontrollgruppe vor – hier wird Tolterodin oder Oxybutynin in variabler
oder fixer Dosierung herangezogen oder „eine bestehende anticholinerge Medikation“
unbekannter Art oder Dosierung beibehalten. Die Verhaltenstherapie wird primär vor
einer klassischen anticholinergen Therapie, als Alternative oder auch nach Therapieversagen
der antimuskarinergen Therapie eingesetzt. Erfolgsparameter sind subjektive Angaben
wie die „Zufriedenheit“ mit der Therapie aber auch objektive Parameter wie die Miktionsfrequenz
oder der Harndrang gemäß Miktionsprotokoll oder entsprechenden validierten Scores.
Einheitliche Eingangskriterien existieren nicht; die meisten Untersuchungen lehnen
sich hier an die ICS-Definition der Überaktiven Blase von 2003 an [20]; inwieweit hier der Nachsatz „in Abwesenheit einer Infektion oder anderen Ätiologie“
abgeklärt wurde, bleibt vielfach offen. Urodynamisch kontrollierte Studien existieren
nicht – weder was die Eingangskriterien einer Überaktiven Blase, noch die Erfolgsparameter
betrifft.
Dennoch überwiegt der Eindruck in randomisierten Untersuchungen, dass sich mit einer
Verhaltensintervention Symptome einer Überaktiven Blase positiv beeinflussen lassen.
Von Vorteil erscheint der Umstand, dass ein Miktionstraining kostengünstig und nebenwirkungsfrei
erscheint und damit kostbare Ressourcen schont. Das Fehlen von urodynamisch kontrollierten
Studien erscheint jedoch in einem Punkt bedenklich: die Indikation zu einem Miktionstraining
mit Harndrangvermeidungsstrategien und in der Eskalation mit Beckenbodenkontraktionen
wird ohne Kenntnis des nur urodynamisch bestimmbaren intravesikalen Druckes gestellt.
Liegt eine Überaktive Blase mit instabilen Detrusorkontraktionen in der terminalen
oder phasischen Form vor, bleibt unklar, wie sich dieser intravesikale Druck unter
der Therapie verhält. So ist u. U. eine Subgruppe von Patienten mit erhöhtem intravesikalem
Druck, dessen Senkung zum Schutz der oberen Harnwege unerlässlich ist, möglicherweise
im Falle eines Nichtansprechens der Verhaltensintervention länger oder im Falle eines
zunehmenden intravesikalen Druckes sogar unter der Therapie stärker gefährdet. Diese
aus funktionsurologischer Sicht essentielle Frage sollte in urodynamisch kontrollierten
Untersuchungen geklärt werden, ehe eine generelle Empfehlung zu einem Miktionstraining
bei jeder Form der Überaktiven Blase – alleine definiert über die Symptomatologie
– ausgesprochen werden kann.