Abb.: S. Oldenburg
Der Fall
Christina Weiß[*] klagte seit mehreren Monaten über eine Schwellung im linken Unterschenkel und über
zunehmende unspezifische Schmerzen. Mit ihren Symptomen stellte sich die 28-Jährige
im orthopädischen Universitätsklinikum Heidelberg vor. Die Ärzte veranlassten ein
MRT des linken Beins, entnahmen eine Gewebeprobe aus der Unterschenkelmuskulatur und
führten ein CT (Thorax/Abdomen) durch, um nach Metastasen zu suchen. Denn die Schwellung
im Unterschenkel in Kombination mit den Schmerzen und dem Gewichtsverlust hatte die
Ärzte dazu veranlasst, an Krebs zu denken. Und der Verdacht bestätigte sich: Die Ärzte
fanden in den CT-Aufnahmen ein dedifferenziertes Liposarkom, also einen seltenen Tumor
des Fettgewebes mit Neigung zu aggressivem Wachstum, der bereits Gefäße und Nerven
infiltriert hatte. Bei dieser Art von Tumor konnte nur eine möglichst zeitnahe, radikale
chirurgische Entfernung die Überlebenschancen der jungen Frau erhöhen. Nach einem
ausführlichen Gespräch amputierten die Ärzte ihr im März 2014 den Oberschenkel auf
Höhe des mittleren Femurdrittels. Nach dem Eingriff wurde sie unter anderem von zwei
Ärzten, einem Orthopädietechniker, einer Bewegungswissenschaftlerin und einem Physiotherapeuten
betreut. Mit ihrer Hilfe schaffte es die junge Frau, ihrem Hobby wieder nachgehen
zu können – dem Tanzen.
Bei der Nachuntersuchung überprüft Dr. Putz, ob bei der Patientin ein Beckenschiefstand
vorliegt und ob die Beine gleich lang sind.
Abb.: S. Oldenburg
Medizin
Der Eingriff
Auf dem MRT von Frau Weiß zeigte sich, dass der Tumor vom Unterschenkel bis zwölf
Zentimeter oberhalb des Kniegelenks reichte und einen Durchmesser von zehn Zentimeter
hatte. Ziel der Operation war es, den Tumor weiträumig und radikal zu entfernen. Um
die Amputationshöhe zu bestimmen, gilt: Je proximaler die Amputation, desto größer
das Muskelungleichgewicht zugunsten der Abduktoren. So besteht die Gefahr, dass es
zu einer Abduktionskontraktur kommt. Zudem werden später die Flexoren überwiegen und
den Stumpf in eine Beugehaltung zwingen, was auch durch häufiges Sitzen begünstigt
wird. In der Operation setzten die Chirurgen den Hautschnitt so weit unterhalb der
knöchernen Amputationshöhe, dass später ein Muskelhautlappen das Knochenende bedecken
konnte. Nachdem sie den Knochen durchtrennt hatten, glätteten sie die Kanten und schrägten
sie ab. Danach verbanden sie die Oberschenkelmuskulatur miteinander (Myoplastik) und
fixierten sie über Bohrlöcher (Myodese) am Knochenstumpf. Die Nerven infiltrierten
sie mit einem Lokalanästhetikum und kürzten sie möglichst weit proximal. Würden die
Chirurgen sie distal kürzen, wären die Nervenenden später unter anderem bei der Prothesennutzung
starken Reizen ausgesetzt, was Phantomschmerzen und die Bildung von neuem Nervengewebe
(Neurome) hervorrufen könnte. Wichtig war auch, dass sie die Hautnarbe abseits der
späteren Belastungszone setzten.
Die Nachuntersuchung
Das erste Mal sahen wir Frau Weiß sieben Tage nach dem Eingriff in der interdisziplinären
technischen Orthopädie-Visite, kurz TO-Visite, zu der die Physiotherapie-Abteilung
einlädt. Hier erarbeiteten wir im Team nach einer ausführlichen Anamnese den individuellen
Versorgungsplan. Die junge Patientin lernte hier das sie betreuende Team kennen und
konnte Fragen stellen. Uns als Orthopäden interessierten zu diesem Zeitpunkt neben
dem Allgemeinzustand vor allem die Wundverhältnisse, die Schwellung des Stumpfes,
die Phantomschmerzen und die Neigung zu Verkürzungen der Hüftflexoren. Wir testeten
die Kraft der Hüftabduktoren und -adduktoren auf beiden Seiten, um zu beurteilen,
ob bereits ein muskuläres Ungleichgewicht vorliegt. Bei Frau Weiß war die Kraft auf
der linken Seite noch schmerzbedingt eingeschränkt, und es zeigte sich ein Stumpfödem.
Ausgewählte Therapiemaßnahmen
Für lange Strecken verordneten wir Frau Weiß einen Aktivrollstuhl. Nachdem wir zwei
Wochen post-OP die Fäden gezogen hatten, machte der Orthopädietechniker einen Gipsabdruck
für eine Übergangsprothese, die sogenannte Interimsprothese. Nach Abschluss dieser
Phase, etwa sechs Monate später, verordneten wir eine Definitivprothese, da das Bein
zu diesem Zeitpunkt meist nicht mehr an Volumen verliert.
Erwartung
Frau Weiß ist jung und war durch ihr Hobby Tanzen immer sportlich aktiv. Daher erwarten
wir, dass sie schnell an Kraft und Sicherheit gewinnen und später auch dauerhaft ohne
Gehstützen mit einer Prothese mobil sein wird. Regelmäßige Physiotherapie und Prothesengebrauchsschulung
sind dabei für etwa ein Jahr fester Bestandteil des Behandlungsplans. Aktuell kommt
die Patientin alle drei Monate zur Tumornachsorge, bei der wir neben einer klinischen
Untersuchung den Sitz der Prothese überprüfen und MRT-Bilder des Stumpfes machen,
mit denen wir ein Rezidiv früh erkennen. Längerfristig sind halbjährliche Abstände
geplant. Sollten zwischen den Terminen Probleme auftreten, kann sich Frau Weiß in
der Prothesenambulanz vorstellen.
Cornelia Putz, Marcus Egermann
Orthopädietechnik
Der Orthopädietechniker Daniel Kornmann kürzt die Ränder des Prothesenschafts und
rundet sie ab.
Abb.: S. Oldenburg
Ergänzende Anamnese und Untersuchung
Ich habe Frau Weiß ebenfalls das erste Mal im Rahmen der TO-Visite sieben Tage postoperativ
gesehen. Die Schwellung des Stumpfes sowie der Zustand der Narbe waren zu diesem Zeitpunkt
bereits so gut, dass wir beschlossen, in der darauffolgenden Woche mit der Post-OPLiner-
Versorgung zu beginnen. Diesen konnte sie dann ab der zweiten Woche post-OP tagsüber
anstatt eines Wickels tragen. In Vorbereitung für die Prothesenversorgung war es wichtig,
dass ergänzend zum Liner der Physiotherapeut weiterhin Lymphdrainage machte.
Vorbereitung der Prothesenversorgung
In den ersten zwei Wochen nach der OP kontrollierte ich regelmäßig den Stumpf und
die Narbe. Weil der Heilungsverlauf sehr gut voranschritt, begann ich in der dritten
Woche post-OP mit der Prothesenversorgung. Zu Beginn erstellte ich bei Frau Weiß einen
Gipsabdruck des Stumpfes. Daraus und aus den Maßen wie der Stumpflänge und des -umfangs
erstellte ich ein Gipsmodell, aus dem ich einen thermoplastischen Interimsschaft fertigte.
Zudem ermittelte ich mithilfe eines Fragebogens den aktuellen Mobilitätsgrad der Patientin.
Dieser dient neben der klinischen Untersuchung der Ermittlung wesentlicher konstruktiver
Merkmale der Prothese. Da Frau Weiß eine junge, aktive Patientin ist, habe ich mich
für einen energierückgebenden Karbonfederfuß und ein dynamisches Kniegelenk mit Schwung
und Standphasensteuerung entschieden. Anschließend setzte ich für Frau Weiß die individuelle
Prothese zusammen. Dazu optimierte ich in mehreren Anproben die weitere Passform des
Schaftes und den statischen und dynamischen Aufbau der Prothese. Das Schaftvolumen,
die Einbettung der knöchernen Strukturen, die Prothesenlänge, die Schaftlänge sowie
die Schaftränder überprüfte ich in der Interimsphase regelmäßig. Zeitnah nach der
ersten Anprobe der Interimsprothese, etwa sieben Wochen post-OP, stellte ich Frau
Weiß in der Physiotherapie vor, wo sie mit dem Prothesentraining begann. In dieser
Phase tauschte ich mich regelmäßig mit dem Physiotherapeuten aus, um eine funktionelle
und passgerechte Prothesenversorgung zu gewährleisten. Besonders innerhalb der Interimsphase
nimmt das Volumen durch Muskelatrophie und Ödemreduktion stark ab. So war es auch
bei Frau Weiß, sodass ich den Prothesenschaft mehrfach nachpassen musste. Weiterhin
erfolgten auch in dieser Phase regelmäßige Vorstellungen in der TO-Visite, um den
Verlauf und mögliche Interventionen gemeinsam abzustimmen.
Nach fünf Monaten hatte die Patientin ihre Aktivität so gesteigert, dass das anfänglich
eingesetzte Kniegelenk keine adäquate Versorgung mehr darstellte und andere Passteile
in Frage kamen. Deshalb entschieden wir uns im Team und in Absprache mit der Patientin
für eine Testversorgung mit einem mikroprozessgesteuerten Kniegelenk. Weitere fünf
Wochen später war der Volumenverlust des Stumpfes so groß, dass ich den Schaft technisch
nicht weiter anpassen konnte. Daher machte ich einen neuen Gipsabdruck und fertigte
daraus einen weiteren Interimsschaft.
Sechs Monate nach Versorgungsbeginn verordneten die Ärzte Frau Weiß die Definitivprothese.
Bei diesem Schritt flossen die Erfahrungen der Interimsphase und der daraus resultierenden
Anforderungen der Patientin über alle Disziplinen hinweg mit ein.
Erwartung
Nach Abschluss der Definitivversorgung stellt sich Frau Weiß weiter in regelmäßigen
Abständen bei uns in der Technischen Orthopädie vor. In der Prothesenambulanz prüfen
wir im Versorgungsteam, ob medizinische, therapeutische oder orthopädietechnische
Interventionen nötig sind. Das langfristige Ziel wird sein, dass die junge Frau ihr
berufliches und privates Leben wieder völlig selbstständig gestalten und dabei auch
wieder ihren Hobbys wie Tanzen und Inlineskaten nachgehen kann.
Daniel Kornmann
Bewegungsanalyse
Im Gangparcours beobachtet die Bewegungswissenschaftlerin Julia Block, wie die Patientin
Christina Weiß auf einer Rampe mit ihrer Prothese zurechtkommt.
Abb.: S. Oldenburg
Videoanalyse und funktionelle Tests
Ich lernte Frau Weiß bei der TO-Visite kennen. Nach zwei Monaten kam sie im Rahmen
eines Studienprojektes, bei dem wir uns mit dem Langzeitverlauf von Menschen nach
Amputation beschäftigen, zur ersten Erhebung ins Bewegungslabor. Ich filmte sie beim
Gehen auf der Ebene mit zwei Gehstützen. Die Patientin zeigte bereits bei dieser Untersuchung
(T1) eine sehr gute Koordination mit der Prothese. In der Sagittalebene konnte ich
ein aufrechtes und kontrolliertes Gangbild erkennen. Sie belastete ihre Prothese gezielt
und löste die Kniegelenkflexion gut aus. In der Frontalebene fiel eine Oberkörperseitneigung
zur betroffenen Seite auf. Zudem machte ich mit Frau Weiß funktionelle Tests, unter
anderem den 2-Minuten-Gehtest. Mit dem Test bekam ich einen Eindruck von der Gehgeschwindigkeit.
Frau Weiß schaffte 26 Meter, zeigte also ein deutlich verlangsamtes Gangbild (Tab.). Gesunde Menschen schaffen in zwei Minuten etwa 165 Meter. Mit dem Timed-up-and-go
(TUG) sah ich, wie sie die Alltagsaktivitäten Aufstehen, Hinsetzen und Richtungswechsel
mit der Prothese meisterte [1]. Die Patientin brauchte 36 Sekunden. Um ihr die Gelegenheit
zu geben, sich selbst in verschiedenen Alltagsaktivitäten zu beurteilen und darüber
weitere Fertigkeiten mit der Prothese abzufragen, verwendete ich den Locomotor Capability
Index (LCI) [2]. Hier erreichte Frau Weiß 13 von 56 möglichen Punkten.
Tab.
Ergebnisse der funktionellen Erhebung zu drei Zeitpunkten
Zeitpunkt
|
2Min
|
TUG
|
LCI
|
PSFS
|
T1
|
26 m
|
36 sek
|
13 Punkte
|
-
|
T2
|
44 m
|
23 sek
|
-
|
1 Punkt
|
T3
|
130 m
|
15 sek
|
40 Punkte
|
4 Punkte
|
Zwei Wochen nach der ersten Erhebung führte ich mit der jungen Frau erneut eine Videoanalyse
und die funktionellen Tests durch (T2). Da sie jetzt schon sicher auf der Ebene lief,
konnte ich sie mit und ohne Gehstützen auch auf der Treppe, Rampe und auf unebenem
Untergrund filmen. Ging sie ohne Gehstützen, fiel eine Oberkörperseitneigung nach
links auf. Dies empfand sie selbst als sehr störend.
Aufgrund des guten Umgangs mit der Prothese erhob ich zu T2 bereits die Patient Specific
Functioning Scale (PSFS) [3]. Hier kann sie selbst Aktivitäten angeben, die sie verbessern
möchte. Frau Weiß gab freies Gehen mit schönem Gangbild an und bewertete sich mit
nur einem von zehn Punkten. Beim 2-Minuten-Gehtest schaffte sie mit zwei Gehstützen
44 Meter. Diese Verbesserung spiegelte sich auch im TUG wider, für den sie 23 Sekunden
brauchte.
Drei Monate später kam Frau Weiß für eine dritte Untersuchung zu mir ins Bewegungslabor
(T3). Im LCI erreichte sie 40 Punkte, was einen deutlichen Zugewinn an Funktionalität
mit der Prothese zeigte. Bei anspruchsvollen Aktivitäten wie Treppensteigen ohne Handlauf
musste zwar weiterhin eine Person dabei sein, doch mittlerweile lief sie im Alltag
mit nur einer Gehstütze. Die Videoanalyse zeigte, dass sie diese hauptsächlich deshalb
einsetzte, um die Rumpfbewegung nach links zu vermeiden. Diese empfand sie nach wie
vor als sehr störend. Doch durch die Physiotherapie, in der sie an dem Problem arbeitete,
verbesserte sie sich und schätzte sich dazu im PSFS um drei Punkte besser ein. Beim
2-Minuten-Gehtest konnte sie jetzt 130 Meter zurücklegen. Für den TUG brauchte sie
nur noch 15 Sekunden.
Erwartung
Ich erwarte, dass Frau Weiß weiterhin von ihrem ausgeprägten Körperbewusstsein und
der Trainingserfahrung profitieren wird. Mit zunehmender Kraft der hüftumgreifenden
Muskulatur wird sich ihre Oberkörperseitneigung im Verlauf reduzieren. Je mehr Erfahrung
sie im Alltag mit ihrer Prothese sammelt, desto sicherer wird sie sich im Umgang mit
ihr in unterschiedlichen Situationen fühlen.
Julia Block
Physiotherapie
In der Behandlung trainiert der Physiotherapeut Tomas Lemlein mit Frau Weiß die Standphase
mit Beckenaufrichtung beim Gehen mit der Prothese.
Erster Kontakt
Ich lernte die Patientin sieben Tage postoperativ kennen. Zur TO-Visite kam sie im
Rollstuhl, da ihr der 300 Meter lange Weg von der Station noch zu schmerzhaft war.
Für kürzere Strecken war das Gehen an Unterarmgehstützen gut möglich.
Ergänzende Anamnese und Untersuchung
Ich testete zuerst das Bewegungsausmaß des linken Hüftgelenks. Mit dem Thomas-Handgriff
stellte ich fest, dass die Extension um 15 Grad eingeschränkt war, passiv waren 0
Grad möglich. Außenrotation und Abduktion waren nicht eingeschränkt. Die übrigen Gelenke
waren frei beweglich, und Frau Weiß zeigte in ihren Bewegungen eine gute Koordination.
Der Stumpf war postoperativ mäßig geschwollen, die Weichteildeckung gut. Sie war kardiopulmonal
nicht eingeschränkt.
Ausgewählte Therapiemaßnahmen
Direkt postoperativ hatte Frau Weiß von einer Kollegin auf Station Lymphdrainagen
bekommen. Nach der TO-Visite erklärte ich ihr, wie sie selbstständig ihren Stumpf
wickelt. Um einer Flexionsstellung im Hüftgelenk entgegenzuwirken, zeigte ich ihr
die Bauchlage unter Streckung des Stumpfes. Diese sollte sie in der Klinik täglich
für 30 Minuten einnehmen. In den ersten Behandlungen leitete ich Spannungs- und Wahrnehmungsübungen
für die tiefe Rumpfmuskulatur an, zum Beispiel die Beckenaufrichtung und die aktive
Hüftstreckung in Rücken- und Bauchlage. Diese Übungen sollte sie eigenständig durchführen.
Solange sie in der Klinik war, trainierte Frau Weiß ihre aerobe Ausdauer am Armergometer
und begann zehn Tage postoperativ mit einem Kraftausdauertraining für die Stütz- und
Rumpfmuskulatur am Seilzug [1]. Sie führte diese Übungen nach meiner Anleitung selbstständig
im Trainingsraum durch. Als Hausaufgabe gab ich ihr ein Programm zur Kräftigung der
Stumpfmuskulatur, zum Beispiel eine modifizierte Bridging-Übung, die sie bei Bedarf
steigern konnte. Sieben Wochen postoperativ begann das Prothesentraining. Der erste
Termin fand gemeinsam mit dem Orthopädietechniker statt. Wir zeigten ihr, wie sie
die Prothese selbstständig an- und ablegt. Danach übte Frau Weiß das Platzieren der
Prothese sowie den Wechsel von Be- und Entlastung durch Seitwärtsschritte am Barren.
Als Steigerung bewältigte sie die Treppe im Nachstellschritt, was eine höhere Anforderung
an die beckenaufrichtende Muskulatur darstellt und genaueres Platzieren erfordert.
Bei beiden Bewegungen musste sie das Prothesenkniegelenk noch nicht einsetzen. Erst
Ende des zweiten Tages begannen wir mit dem Vorwärtsgehen, wobei sie das Kniegelenk
der Prothese intuitiv gut auslöste. Ich musste sie nur bezüglich Timing und Krafteinsatz
zur Schwungphasenauslösung leicht korrigieren. Im Stand übte sie die Balancefähigkeit
und die gleichmäßige Belastungsverteilung mithilfe zweier Waagen. Um unter anderem
die Sturzgefahr zu minimieren, trainierten wir zudem Schnelligkeit und Reaktion. Als
Vorbereitung auf den Alltag hat sie in unserem Park ein Geländetraining absolviert,
das die Fertigkeiten auf unebenem Untergrund und auf abschüssigen Wegen förderte und
Ängste abbauen half. Im Gelände wechselten wir, um die Unterstützung über die Arme
zu reduzieren, auf Nordic- Walking-Stöcke. Je weniger sie sich über die Arme stützen
konnte, desto stärker fiel mir ein verbleibendes Duchenne-Hinken nach links auf. Deshalb
trainierten wir vermehrt die Standbeinphase und die Becken- und Rumpfaufrichtung.
Für zu Hause hat sie eine Reihe an Eigenübungen und einen Trainingsplan bekommen.
Erwartung
Frau Weiß besucht heute wieder einen Tanzkurs. Ich bin zuversichtlich, dass sie im
Alltag alle Möglichkeiten der Prothese nutzen wird. Sie wird sich auf langen Strecken
mittelfristig weiter mit einer Stütze oder einem Nordic-Walking-Stock behelfen.
Tomas Lemlein
Kompressionswickelung
Tomas Lemlein wickelt den Stumpf eines anderen Patienten mit Oberschenkelamputation.
Um die Narbe ventral zu entlasten, nähert er das Gewebe durch Zug der elastischen
Binde von hinten an.
Abb.: S. Oldenburg
Nach einer Amputation entwickeln die meisten Patienten ein Stumpfödem. Das Ausmaß
der Schwellung hängt davon ab, auf welcher Höhe amputiert wurde, ob der Patient Begleiterkrankungen
hat und wie die Operation verlaufen ist, ob beispielsweise Weichteile oder Lymphgefäße
beschädigt wurden. Um die Heilung zu fördern und den Stumpf in Hinblick auf eine Prothesenversorgung
zu formen, ist es wichtig, dieses Ödem zu behandeln. Außerdem soll die Behandlung
das Gewebe entlasten und somit die Schmerzen lindern. Unmittelbar nach dem Eingriff
sollen die Patienten deshalb den Stumpf hochlegen und sie bekommen Lymphdrainagen.
Des Weiteren wickeln wir den Stumpf ab dem dritten postoperativen Tag mit längsund
diagonalelastischen Binden. Dabei liegt der Patient auf dem Rücken. Die Wickelung
erfolgt in Achtertouren, sodass ein Kornährenverband entsteht. Der Druck sollte von
distal nach proximal abnehmen, damit sich Blut und Lymphe distal nicht stauen. Zudem
ist es wichtig, dass der Zug die Narbe entlastet, indem die Binde die Weichteile der
Naht annähert. Um Muskelkontrakturen vorzubeugen und den Halt der Kompression zu gewährleisten,
wickelt der Therapeut so, dass der Patient das angrenzende Gelenk währenddessen möglichst
in Neutral-Null-Stellung hält. Bei einer Unterschenkelamputation sollte die Wickelung
etwa bis zur Mitte des Oberschenkels reichen, bei einer Oberschenkelamputation wickelt
der Therapeut bis in die Leiste oder bei Bedarf bis über das Becken (Zusatzinfo).
Bei fortschreitender Wundheilung etwa gegen Ende der Entzündungsphase wird der stumpfformende
Aspekt zunehmend wichtiger. Durch entsprechendes Wickeln lassen sich zum Beispiel
kolbige Stümpfe für eine gute Passform der Prothese gezielt umformen oder entstandene
Hautlappenwülste, sogenannte Abnäher, reduzieren. Ist die Wunde ausreichend abgeheilt
und das Gewebe für eine Anpassung weich genug, bekommt der Patient einen Post-OP-Liner,
den er anstatt eines Kompressionswickels trägt. Dieser Silikonliner hat den Vorteil,
dass er leichter anzulegen ist, einen besseren Halt am Bein bietet und im Hinblick
auf eine gute Prothesenversorgbarkeit eine klare zylindrische oder leicht konische
Stumpfform vorgibt. Der Liner wird um ein gewisses Maß kleiner als der Beinumfang
gewählt. Dadurch ist es möglich, die Kompression zu steuern. Anfangs trägt der Patient
den Liner nur stundenweise, die Tragedauer steigert er dann Schritt für Schritt. Nachts
trägt er den Liner nicht, sondern wickelt den Stumpf weiterhin, da er zu Beginn bewusst
beobachten soll, wie er auf den Liner reagiert. Zudem kann die Stumpfhaut so nachts
atmen, was durch das Silikonmaterial nicht möglich ist.
Die Wickelungen im Videoclip
Die drei Wickeltechniken können Sie sich im Video ansehen:
www.thieme-connect.de/products/physiopraxis
> „Ausgabe 3/15“. Smartphone- und Tablet-PC-Nutzer können den Code scannen, etwa
mit der App „barcoo“.
Bis der Stumpf eine stabile Form erreicht hat, vergehen durchschnittlich drei bis
sechs Monate. Deshalb sollte er 24 Stunden am Tag versorgt sein – entweder mit einem
Wickel oder mit dem Liner. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass der Therapeut den
Patienten selbst oder einen Angehörigen in die Wickeltechnik einweist.
Für den Patienten sollte die Wickelung grundsätzlich angenehm, haltgebend und schützend
sein. Zu Beginn weist der Therapeut ihn deshalb darauf hin, dass er bei beginnenden
Parästhesien, klopfenden Schmerzen, unangenehmem Druck oder Einschnürungen den Wickel
sofort entfernen soll. Auch wenn der Verband abrutscht, sollte ihn der Patient erneuern,
da er seine Wirkung verloren hat.
Hat der Patient Begleiterkrankungen wie Durchblutungs- oder Wundheilungsstörungen,
zum Beispiel aufgrund einer PaVK, ist eine Kompression des Stumpfes kontraindiziert.
Weitere Kontraindikationen sind relevante Hautdefekte, Gefühlsstörungen, zum Beispiel
bei ausgeprägtem Diabetes mellitus, Wundheilungsstörungen oder Infektionen am Stumpf.
Auch bei Querschnittlähmungen darf nicht gewickelt werden, sofern der Patient keine
adäquaten Rückmeldungen zur Sensibilität geben kann.
Tomas Lemlein