physiopraxis 2015; 13(02): 20-24
DOI: 10.1055/s-0035-1546975
physiowissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York

Internationale Studienergebnisse


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20 February 2015 (online)

 

Chronische Schmerzen – Forscher zweifeln Validität von NRS und VAS an

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Zahlen räumlich einordnen: Die Probanden bekamen die Aufgabe, erst acht vorgegebene Zahlen auf einer Linie von 0 bis 100 einzuordnen und danach zwei Strecken, begrenzt durch 2 und 9 bzw. 9 und 2, möglichst in der Mitte zu halbieren.
Abb.: Stauke/fotolia.com; goodween123/fotolia.com

Wissenschaftler vermuten, dass der Zahlensinn, also das intuitive Verständnis für Zahlen, im parietalen und präfrontalen Kortex liegt. Diese Hirnareale werden auch dann aktiv, wenn Patienten anhand einer visuellen Analogskala (VAS) ihre Schmerzstärke angeben sollen. Chronischer Schmerz jedoch ruft funktionelle und strukturelle Veränderungen in gerade diesen Regionen hervor – und verändert damit den Zahlensinn der Betroffenen. Ob sich das auch darauf auswirkt, wie Patienten ihre Schmerzen auf einer VAS angeben, überprüften Forscher aus London.

Sie wollten herausfinden, ob Patienten mit chronischen Schmerzen zahlenbasierte Assessments anders benutzen als Patienten mit akuten Schmerzen. Dazu rekrutierten sie 494 Probanden, die entweder chronische oder akute Schmerzen hatten, und gaben ihnen die Aufgabe, ihre Schmerzstärke auf zwei Skalen einzuordnen: einer numerischen 11-Punkte- Skala (NRS) und einer verbalen Ratingskala (VRS) mit den Ausprägungen „kein Schmerz“, „mild“, „moderat“ und „stark“. Die Autoren erkannten, dass Patienten mit chronischem Schmerz die Schmerzstärke auf VRS und NRS in einem anderen Verhältnis angaben als Teilnehmer mit akutem Schmerz. Hatten Probanden mit chronischem Schmerz dessen Intensität auf der VRS beispielsweise als „moderat“ oder „stark“ eingeordnet, gaben sie im Verhältnis höhere numerische Werte auf der NRS an als diejenigen, die einen akuten Schmerz in gleicher VRS-Stärke hatten. Im zweiten Teil ihrer Studie untersuchten die Forscher, ob Patienten mit chronischem Schmerz auch unpräziser mit der räumlichen Anordnung von Zahlen umgehen. Dafür rekrutierten sie 150 Probanden – 50 mit akuten, 50 mit chronischen (≥ 12 Monate) und 50 ohne Schmerzen. Die Teilnehmer sollten zuerst acht vorgegebene Zahlen auf einer Linie von 0 bis 100 an die richtige Stelle eintragen. Im zweiten Test war ihre Aufgabe, zwei Linien, begrenzt von 2 und 9 beziehungsweise 9 und 2, möglichst in der Mitte zu halbieren (Abb. oben).

Im ersten Experiment wichen die Eintragungen der Patienten mit chronischen Schmerzen im Schnitt weiter von der korrekten Stelle ab als die der beiden anderen Gruppen. Das Experiment der Linienhalbierung ergab dagegen keinen Unterschied zwischen den drei Gruppen. Allerdings neigten die Gesunden dazu, die „Mittellinie“ immer zu sehr in Richtung der „9“ zu setzen. Die Patienten mit chronischen Schmerzen wichen dagegen immer tendenziell nach rechts ab – unabhängig davon, ob die „9“ rechts oder links stand. Dies könnte laut der Wissenschaftler auf eine funktionelle Veränderung im präfrontalen oder parietalen Kortex hinweisen, ähnlich einem Neglekt.

Nach diesen Ergebnissen zweifeln die Forscher die Validität der NRS und VAS bei Patienten mit chronischen Schmerzen an und empfehlen, in der Praxis eher verbale Ratingskalen oder Bilder, die den Schmerzcharakter darstellen, zu verwenden.

smo

Br J Anaesth 2014; 113: 1024–1031


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Hypertonie – Durch Bluthochdruck geistig fit im Alter

Durch hohen Blutdruck steigt das Risiko für einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt. Doch der hohe Druck auf die Gefäße hat auch etwas Gutes: Er hält ältere Menschen geistig fit. Ein niedriger fördert dagegen den geistigen Zerfall. So lautet das Ergebnis einer Studie niederländischer Forscher.

Für ihre Untersuchungen rekrutierten die Wissenschaftler 560 Teilnehmer im Alter von 85 Jahren und teilten sie auf Grundlage des aktuellen Blutdrucks in drei Gruppen ein: Teilnehmer mit niedrigem (< 147 mmHg), mit normalem (147 bis 167 mmHg) und mit hohem (> 162 mmHg) Blutdruck. In den darauffolgenden fünf Jahren mussten alle Probanden einmal jährlich zu einer Untersuchung kommen, bei der die Forscher den Blutdruck maßen, Blut abnahmen und den kognitiven Status anhand des Mini-Mental-Status-Test (MMST) bestimmten. Im Blut stellten sie anhand des Proteins „N-terminal pro-brain natriuretic peptide“ die Herzleistung der Probanden fest.

Schon zu Beginn der Studie erzielte die Gruppe mit niedrigem Blutdruck beim MMST wesentlich schlechtere Ergebnisse als die Gruppe mit hohen und normalen Werten. Noch deutlicher zeigte sich das Ergebnis nach fünf Jahren: Je niedriger der Blutdruck war, desto schneller bauten die Probanden geistig ab. Zudem zeigte sich, dass auch die Teilnehmer, die ein schwaches Herz hatten, schlechtere kognitive Fähigkeiten hatten. Eine Kombination aus Herzinsuffizienz und niedrigem Blutdruck ist demnach ein großer Risikofaktor, im Alter geistig abzubauen.

rrn

Neurology 2014; 83: 1192–1199

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Jeder, der sich die Fähigkeit erhält, Schönes zu erkennen, wird nie alt werden.
Franz Kafka (1883–1924)
Abb.: diego cervo/fotolia.com
Neglekt – Visuelle Suchübungen in die Therapie integrieren
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Patienten mit Neglekt mussten während des Trainings auf der betroffenen Seite präsentierte Buchstaben lesen.
Abb.: JiSign/fotolia.com

Patienten nach Schlaganfall, die zudem unter einem visuellen Neglekt leiden, fällt es schwer, adäquat auf visuelle Reize auf der betroffenen Seite zu reagieren. Integriert der Therapeut Suchübungen für die Augen in die Behandlung, kann er die Alltagsaktivität dieser Patienten deutlich verbessern. Dies fand ein Forscherteam aus Südafrika heraus.


Für ihre Studie rekrutierten die Wissenschaftler 24 Patienten mit einem einseitigen visuellen Neglekt nach Schlaganfall und verteilten sie auf zwei Gruppen. Zunächst testeten die Autoren bei allen Probanden die blickmotorische Fähigkeit und die Suchbewegung der Augen anhand des King-Devick- Tests und des Star-Cancellation-Tests. Beide Gruppen absolvierten daraufhin über vier Wochen fünf Mal wöchentlich für 45 Minuten ein aufgabenspezifisches Training, das sich individuell an ihren Defiziten orientierte. Die Probanden der Interventionsgruppe erhielten zusätzlich während des Trainings visuelle Suchaufgaben. Dabei zeigte der Therapeut dem Patienten von der betroffenen Seite her zum Beispiel eine Ansammlung von Buchstaben auf einer Tafel. Diese sollte er in einer vorgegebenen Reihenfolge benennen, ohne in seiner Bewegung innezuhalten. Zum Beispiel von oben nach unten zu lesen oder zwischen zwei Reihen hin und her zu springen.


Nach der Intervention zeigten die Patienten der Suchaufgaben-Gruppe signifikant effektivere Suchbewegungen der Augen, einen verringerten visuellen Halbseitenneglekt und vor allem eine größere Unabhängigkeit bei Alltagsbewegungen. Somit scheint ein gezieltes Training der Suchbewegungen nicht nur den Neglekt an sich, sondern auch die Selbstständigkeit im Alltag des Patienten zu verbessern.


hoth


Neurorehabil Neural Repair 2014; 28: 856–873

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Aktuelle Studienergebnisse


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Sprunggelenksdistorsion – Kinesiotape hilft nicht beim Abschwellen

Ein Kinesiotape hat keinen Einfluss auf die Schwellung nach einer Sprunggelenksdistorsion. Zu diesem Ergebnis kam eine Gruppe von Wissenschaftlern aus Australien und Brasilien in einer Studie mit Sportlern.

Die Autoren rekrutierten 36 Athleten aus den Sportarten Fußball (17), Leichtathletik (5), Volleyball (4), Basketball (3), Rugby (2), Schwimmen (2), Tanzen (2) und Handball (1), die sich 48 bis 96 Stunden zuvor eine laterale Sprunggelenksdistorsion zugezogen hatten. Diese teilten sie in eine Interventions- und eine Kontrollgruppe ein. Bei allen Patienten maßen sie vor der Therapie das Volumen des verletzten Fußes mithilfe der Wasserverdrängungsmethode. Danach bekamen die Probanden der Interventionsgruppe medial und lateral des Sprunggelenks ein Kinesiotape geklebt, das den Lymphabfluss stimulieren sollte. Die Kontrollgruppe dagegen erhielt ein unwirksam geklebtes Kinesiotape auf den oberen Teil des M. tibialis anterior unterhalb des Knies. Die Wissenschaftler leiteten beide Gruppen zusätzlich an, sich dreimal täglich 20 Minuten mit Eis zu behandeln und das Bein hochzulegen.

Nach drei Tagen entfernten die Forscher bei allen Probanden das Tape und maßen das Volumen des betroffenen Fußes erneut. Eine zweite Messung erfolgte 15 Tage später. Die Autoren konnten zu keinem Zeitpunkt Unterschiede hinsichtlich des Volumens und des Umfangs des verletzten Fußes feststellen. Ein Kinesiotape gegen die Schwellung nach einer Sprunggelenksdistorsion ist demnach unwirksam.

rrn

J Physiother 2015; 6: 28–33


Bei 85 % der Sprunggelenksdistorsionen sind die Außenbänder betroffen.


Br J Radiol 2014; 87: 20130406

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Abb.: T. Bidermann (nachgestellte Situation)

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Schmerztoleranz – Härter im Nehmen durch Ausdauertraining

Aerobes Training steigert die Schmerztoleranz bei gesunden Menschen – und zwar nicht nur in dem trainierten Bereich, sondern allgemein. Zu diesem Fazit kommen australische Forscher.

Für ihre Untersuchung rekrutierten sie 24 Freiwillige (drei Männer und 21 Frauen), die zwischen 18 und 50 Jahre alt und physisch und psychisch gesund waren. Diese Probanden teilten sie in zwei Gruppen ein: Wer bereit war, ein Training zu absolvieren, kam in die Interventionsgruppe, die Übrigen in die Kontrollgruppe. Die Trainingsgruppe absolvierte über sechs Wochen hinweg 18 Einheiten aerobes Ausdauertraining auf dem Fahrradergometer. Das Training fand dreimal wöchentlich statt und dauerte jeweils 30 Minuten. Die Kontrollgruppe behielt lediglich ihre übliche körperliche Aktivität im Alltag bei. Zu Beginn der Intervention und nach sechs Wochen bestimmten die Forscher bei allen Probanden folgende Parameter:

  • > die Druckschmerzschwelle mithilfe eines Algometers, getestet am M. trapezius, M. biceps brachii, M. rectus femoris und M. tibialis anterior

  • > die ischämische Schmerztoleranz, also die absolute Dauer, die die Probanden fähig waren, unter ischämischen Bedingungen (Anlage einer Blutdruckmanschette) eine Griffstärke von 30 Prozent ihrer Maximalkraft zu halten

  • > die Schmerzen (NRS 0–10) während der Ischämie

  • > den VO2peak auf dem Fahrradergometer

Die Ergebnisse nach sechs Wochen zeigten, dass sich die Trainingsgruppe im Gegensatz zur Kontrollgruppe im VO2peak verbessert und eine höhere ischämische Schmerztoleranz hatte. Die Druckschmerzschwelle sowie die NRS-Einschätzung blieben in beiden Gruppen gleich.

Die Autoren merken an, dass die Druckschmerzschwelle vor allem die Nozizeption reflektiert, wohingegen die ischämische Schmerztoleranz zusätzlich eine starke psychosoziale und Verhaltenskomponente umfasst. Die Trainingsgruppe war demnach bereiter, schmerzhafte Stimuli länger auszuhalten. Dass sich die Trainingsgruppe hinsichtlich der ischämischen Schmerztoleranz am Arm verbessert hatte, obwohl sie die Beine trainiert hatte, könnte den Wissenschaftlern zufolge auf eine Veränderung in der zentralen Schmerzverarbeitung zurückzuführen sein.

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Reingetappt: In einen Reißnagel zu treten, ist immer schmerzhaft – das ist nicht zu ändern. Doch bei ischämischen Schmerzen ist das anders. Bei ihnen lässt sich die Schmerztoleranz durch aerobes Training heraufsetzen.
Abb.: Dron/fotolia.com

Diese Studie liefert einen weiteren Beweis für die Effektivität von aerobem Training auf die allgemeine Schmerztoleranz und Schmerzselbstwirksamkeit, was vor allem für Patienten mit persistierenden Schmerzen wichtig sein könnte. Aerobes Training eignet sich somit dafür, die Schmerzen im Alltag in Schach zu halten. Somit könnten möglicherweise auch Patienten mit chronischen Schmerzen durch aerobes Training eines nicht betroffenen Körperbereichs ihre allgemeine Schmerztoleranz und somit ihre Schmerzselbstwirksamkeit beeinflussen. Dadurch verringert sich der Einfluss der Schmerzen auf das alltägliche Leben.

smo

Med Sci Sports Exerc 2014; 4: 1640–1647


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Zahlen räumlich einordnen: Die Probanden bekamen die Aufgabe, erst acht vorgegebene Zahlen auf einer Linie von 0 bis 100 einzuordnen und danach zwei Strecken, begrenzt durch 2 und 9 bzw. 9 und 2, möglichst in der Mitte zu halbieren.
Abb.: Stauke/fotolia.com; goodween123/fotolia.com
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Jeder, der sich die Fähigkeit erhält, Schönes zu erkennen, wird nie alt werden.
Franz Kafka (1883–1924)
Abb.: diego cervo/fotolia.com
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Patienten mit Neglekt mussten während des Trainings auf der betroffenen Seite präsentierte Buchstaben lesen.
Abb.: JiSign/fotolia.com
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Abb.: T. Bidermann (nachgestellte Situation)
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Reingetappt: In einen Reißnagel zu treten, ist immer schmerzhaft – das ist nicht zu ändern. Doch bei ischämischen Schmerzen ist das anders. Bei ihnen lässt sich die Schmerztoleranz durch aerobes Training heraufsetzen.
Abb.: Dron/fotolia.com