Aktuelle Urol 2014; 45(06): 425-426
DOI: 10.1055/s-0034-1396409
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Hodenhochstand – Neue US-amerikanische Leitlinien

Contributor(s):
Elke Ruchalla

J Urol 2014;
192: 337-345
Further Information

Publication History

Publication Date:
16 December 2014 (online)

 

Der Hodenhochstand gehört zu den häufi gsten angeborenen genitalen Fehlbildungen bei männlichen Neugeborenen. Unbehandelt können Fertilitätsstörungen auftreten, zudem besteht bei nicht deszendierten Testes ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung maligner Tumoren. Die American Urological Association hat nun ihre Leitlinien zu Diagnose und Behandlung des Hodenhochstands aktualisiert.
J Urol 2014; 192: 337–345

mit Kommentar

Experten aus dem Bereich Kinderurologie, Pädiatrische Endokrinologie und Allgemeinpädiatrie haben nach einer systematischen Literaturrecherche mehr als 700 relevante Arbeiten identifiziert und deren Ergebnisse in der aktualisierten Leitlinie „Diagnose und Behandlung des Hodenhochstandes“ zusammengefasst:

Zur Diagnose:

  • Das Gestationsalter sollte erfragt werden, um den korrekten Termin zur Behandlung bestimmen zu können.

  • Bei jeder pädiatrischen Vorsorgeuntersuchung sollten Konsistenz und Lage der Hoden palpatorisch kontrolliert werden.

  • Kinder mit bei Geburt diagnostiziertem Hodenhochstand, bei denen im Alter von 6 Monaten (bei Frühgeburtlichkeit korrigiertes Alter) kein Deszensus testis stattgefunden hat, sollten zu einem spezialisierten Facharzt überwiesen werden. Das Gleiche gilt für Jungen mit neu aufgetretenem Hodenhochstand nach dem 6. Lebensmonat.

  • Phänotypisch männliche Neugeborenen mit beidseits nicht tastbaren Hoden sollten zur Abklärung einer möglichen Störung der Geschlechtsdifferenzierung unmittelbar einem Spezialisten vorgestellt werden. Eine entsprechende Störung sollte auch ausgeschlossen werden, wenn eine Hypospadie in Kombination mit einem ein- oder beidseitigen Hodenhochstand besteht.

  • Bei Jungen mit beidseits nicht tastbaren Hoden und Ausschluss eines Adrenogenitalen Syndroms wird die endokrinologische Untersuchung zum Ausschluss einer Anorchie empfohlen.

  • Sonografische oder andere bildgebende Untersuchungen bei nicht tastbaren Hoden werden nicht mehr empfohlen, da die Bildgebung hier nicht als zuverlässig gilt.

  • Bei Pendelhoden sollte die Position der Hoden mindestens 1-mal jährlich kontrolliert werden, um eine sekundäre Aszension auszuschließen.

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Lageanomalien des Hodens. Störungen des Descensus testis kommen bei etwa 3 % der Neugeborenen vor. Der Hoden kann hierbei in der Bauchhöhle oder im Leistenkanal liegen bleiben (Kryptorchismus bzw. Hodenretention). Als Ursache wird eine ungenügende Androgenproduktion angenommen. Verirrt sich der Hoden bei seinem Abstieg, spricht man von einer Hodenektopie. Folgen einer Hodenfehllage sind durch die hohe Umgebungstemperatur v. a. Fertilitätsstörungen sowie ein erhöhtes Risiko der malignen Entartung. (Bild: Voll M. In: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. Lernatlas der Anatomie. Innere Organe. 3.Aufl . Stuttgart: Thieme; 2012)

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Zur Therapie:

  • Die hormonelle Therapie zur Induktion eines Deszensus testis wird nicht empfohlen, da die Ansprechraten gering sind und eine langfristiger Erfolg nicht nachgewiesen ist.

  • Bei fehlendem Deszensus testis im Alter von 6 Monaten sollte innerhalb eines Jahres eine operative Korrektur erfolgen. Dabei wird Folgendes empfohlen:

    • die skrotale oder inguinale Orchidopexie bei palpablen Hoden

    • eine erneute manuelle Untersuchung in Narkose bei nicht palpablen Hoden, ist der Hoden hier palpabel, erfolgt die skrotale oder inguinale Orchidopexie

  • ist der Hoden in Narkose nicht palpabel, erfolgt die offene oder laparoskopische Exploration, die das weitere Vorgehen bestimmt:

    • Bei Patienten mit einem normalen kontralateralen Hoden kann eine Orchiektomie des nicht deszendierten Hodens bei folgenden Befunden erwogen werden:

      • falls die testikulären Blutgefäße und Ductus deferens sehr kurz sind

      • bei Dysmorphie oder deutlicher Hypoplasie des intraabdominellen Hodens

      • nach Abschluss der Pubertät.

    • Bei einer Vorgeschichte von Hodenhochstand oder Einzelhoden sollten Patienten und / oder deren Eltern über die potenziellen Langzeitrisiken wie Infertilität und maligne Entartung informiert werden.


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Kommentar

AUA-Guidelines versus deutsche Leitlinien

Der Hodenhochstand ist mit einer Häufigkeit von 3 % bei reifen Neugeborenen, und mit 1 % am Ende des 1. Lebensjahrs die häufigste kinderurologische Fehlbildung. Behandlungsziele des Hodenhochstands sind, neben eventuell bereits vorhandenen Primärschäden, zusätzliche negative Auswirkungen auf Fertilität, Hormonproduktion und mögliche maligne Entartung zu vermeiden. 2013 bzw. 2014 wurden die Empfehlungen zu Diagnose und Therapie des Hodenhochstands von den deutschen und europäischen aber auch amerikanischen Fachgesellschaften aktualisiert.

Die aktuellen AUA-Guidelines basieren auf einer Publikationsrecherche der letzten 33 Jahre, aus welcher 16 Statements zu Diagnose und Therapie erarbeitet wurden.

Diagnostik

Sonografie

Seitens der AUA, aber auch der EAU, wird die alleinige Palpation von Skrotum und Leistenregion als ausreichend zur Lagebeurteilung des Hodens erachtet. Die Sonografie wird als ineffektiv gewertet, da sie nicht ubiquitär verfügbar und damit nur zeitverzögernd und kostenintensiv ohne tatsächlichen Informationsgewinn ist.

In den deutschen Leitlinien wird hingegen die Sonografie als hilfreiches, nicht invasives Diagnostikum propagiert (76 % Sensivität, 100 % Spezifi tät) [ 1 ].

Laparoskopie beim bilateral nicht tastbaren Hoden

Ein positiver hCG-Stimulationstest (Leydigzellfunktion) und der Nachweis von Inhibin B und Antimüller-Hormon (AMH; Sertolizellfunktion) sprechen für vorhandenes Hodengewebe.

Der fehlende Nachweis von AMH und Inhibin B bei einem phänotypischen Jungen mit XY-Karyogramm ist nach amerikanischen Guidelines im Umkehrschluss Beweis genug für eine beidseitige Anorchie und bedarf keiner weiteren Abklärung.

Die deutschen Leitlinien hingegen erachten die Laparoskopie in jedem Fall beim beidseitigen nicht tastbaren Hoden indiziert, da weder der hCG-Stimulationstest noch die Inhibin-B-Bestimmung eine Hodendysgenesie zu 100 % ausschließen können [ 2 ].

Therapie

Hormontherapie

In den amerikanischen Guidelines wird die Hormontherapie ausdrücklich nicht empfohlen. Auch die EAU sieht die Hormontherapie kritisch. Diese Empfehlungen beziehen sich sowohl auf die Induktion des Deszensus als auch auf die Verbesserung der Fertilität im Langzeitverlauf. Laut Publikationsrecherche kann kein relevanter Langzeiterfolg in Hinblick auf den Deszensus erreicht werden (~ 20 % Deszensus; ~ 25 % Re-Aszensionsrate) [ 3 ]. Zudem gibt es keine evidenten Daten zur Langzeitwirksamkeit auf Fertilität und Paternität – wenn auch eine temporäre Verbesserung der Keimzellzahl durch GnRH eingeräumt wird [ 4 ].

Alleinig in den deutschen Leitlinien wird die neoadjuvante Mono-, aber auch die Kombinationstherapie von GnRH und hCG selbst beim unilateralen Hodenhochstand bis zum 1. Lebensjahr weiterhin empfohlen.

Operatives Konzept

Laut AUA sollte der persistierende Hodenhochstand ab dem 6. Lebensmonat (LM) innerhalb eines Jahres, also bis spätestens zum 18 LM, operativ korrigiert werden.

Obwohl bislang keine wirklich harten Daten den optimalen OP-Zeitpunkt eingrenzen, scheint eine frühe Intervention (≤ 12. LM) für die Spermatogenese von Vorteil zu sein. Dieses Vorgehen entspricht wiederum den Empfehlungen der aktuellen deutschen Leitlinien [ 5 ], [ 6 ].

Fazit für die Praxis

Die Sonografie von Skrotum und Leiste ist, wenn vorhanden, ein den Tastbefund sinnvoll ergänzendes Diagnostikum zur Beurteilung der Hodenlage.

Die unterschiedlichen endokrinologischen Funktionstests sind hingegen kein 100 %iger Garant für oder wider eine Hodenagenesie, sodass nach frühzeitigem Ausschluss einer sexuellen Differenzierungsstörung die Laparoskopie alleinig zielführendes Diagnostikum auch beim beidseitigen nicht tastbaren Hoden ist.

Beim unilateralen Maldeszensus ist aufgrund nahezu normwertiger Paternitätsrate eine Hormontherapie diskussionswürdig und kann derzeit allenfalls beim bilateral tastbaren Hodenhochstand wirklich empfohlen werden. Beim nicht tastbaren Hoden stellt sich generell die Frage, ob der ohnehin primär vorgeschädigte Hoden noch von einer Hormontherapie profitiert und inwieweit der oft hypertrophierte Gegenhoden nicht gar durch die Therapie geschädigt wird.

In Hinblick auf Fertilität, Hormonproduktion und Malignitätsrisiko steht derzeit die frühe operative Behandlung weiterhin im Vordergrund. Viele Daten weisen daraufhin, dass die operative Therapie idealerweise mit dem 12. LM abgeschlossen sein sollte.

Dr. Claudia Neissner, Regensburg


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Dr. Claudia Neissner


ist Oberärztin an der Klinik für Kinderurologie in Kooperation mit der Universität Regensburg – Klinik St. Hedwig

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(Bild: altrofoto.de)
  • Literatur

  • 1 Kanemoto K et al. Accuracy of ultrasonography and magnetic resonance imaging in the diagnosis of non-palpable testis. J Urol 2005; 12: 668-672
  • 2 Kubini K et al. Basal inhibin B and the testosterone response to human chorionic gonadotropin correlate in prepubertal boys. J Clin Endocrinol Metab 2000; 85: 134-138
  • 3 Henna M et al. Hormonal cryptorchidism therapy: systematic review with metaanalysis of randomized clinical trials. Pediatr Surg Int 2004; 20: 357-359
  • 4 Schwentner C et al. Neoadjuvant gonadotropin-releasing hormone therapy before surgery may improve the fertility index in undescended testes: A prospective randomized trial. J Urol 2005; 154: 1188
  • 5 Hadziselimovic F et al. The importance of both an early orchidopexy and germ cell maturation for fertility. Lancet 2001; 358: 1156-1157
  • 6 Kollin C et al. Surgical treatment of unilaterally undescended testes: testicular growth after randomization to orchiopexy at age 9 months or 3 years. J Urol 2007; 178: 1589-1593

  • Literatur

  • 1 Kanemoto K et al. Accuracy of ultrasonography and magnetic resonance imaging in the diagnosis of non-palpable testis. J Urol 2005; 12: 668-672
  • 2 Kubini K et al. Basal inhibin B and the testosterone response to human chorionic gonadotropin correlate in prepubertal boys. J Clin Endocrinol Metab 2000; 85: 134-138
  • 3 Henna M et al. Hormonal cryptorchidism therapy: systematic review with metaanalysis of randomized clinical trials. Pediatr Surg Int 2004; 20: 357-359
  • 4 Schwentner C et al. Neoadjuvant gonadotropin-releasing hormone therapy before surgery may improve the fertility index in undescended testes: A prospective randomized trial. J Urol 2005; 154: 1188
  • 5 Hadziselimovic F et al. The importance of both an early orchidopexy and germ cell maturation for fertility. Lancet 2001; 358: 1156-1157
  • 6 Kollin C et al. Surgical treatment of unilaterally undescended testes: testicular growth after randomization to orchiopexy at age 9 months or 3 years. J Urol 2007; 178: 1589-1593

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(Bild: altrofoto.de)
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Lageanomalien des Hodens. Störungen des Descensus testis kommen bei etwa 3 % der Neugeborenen vor. Der Hoden kann hierbei in der Bauchhöhle oder im Leistenkanal liegen bleiben (Kryptorchismus bzw. Hodenretention). Als Ursache wird eine ungenügende Androgenproduktion angenommen. Verirrt sich der Hoden bei seinem Abstieg, spricht man von einer Hodenektopie. Folgen einer Hodenfehllage sind durch die hohe Umgebungstemperatur v. a. Fertilitätsstörungen sowie ein erhöhtes Risiko der malignen Entartung. (Bild: Voll M. In: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. Lernatlas der Anatomie. Innere Organe. 3.Aufl . Stuttgart: Thieme; 2012)