Schlüsselwörter
chronische Sprunggelenkinstabilität - neuromuskuläre Kontrolle - Propriozeption -
posturale Kontrolle - Sportverletzungen
Key words
chronic ankle instability - neuromuscular control - proprioception - postural control
- sports injuries
Einleitung
Epidemiologie
Verletzungen des Sprunggelenks stellen mit einer Prävalenz von 25–30 % aller Sportunfälle
neben dem Kniegelenk die am häufigsten betroffene Körperregion dar [1]. Vor allem Distorsionen des oberen Sprunggelenks machen mit etwa 85 % den Großteil
aller Sprunggelenkverletzungen aus [2]. Nur schätzungsweise die Hälfte aller am Sprunggelenk verletzten Sportler begibt
sich jedoch in medizinische Behandlung [3]. Viele Verletzungen bleiben somit undokumentiert, weshalb die tatsächliche Prävalenz
wohl meist unterschätzt wird. Die Verletzungsraten variieren zwischen den Disziplinen
stark und sind in Sportarten, in denen vermehrt Gegnerkontakt, Sprünge und schnelle
Richtungswechsel auftreten, am höchsten [4]. Demzufolge zählen vor allem die Ballsportarten zu den Disziplinen mit der höchsten
Prävalenz [1].
Pathophysiologie und klinische Symptomatik
Der typische Verletzungsmechanismus einer Sprunggelenkdistorsion ist das Supinationstrauma,
auch als Inversionstrauma bezeichnet [5]. Je nach Schweregrad des Traumas ist eine Dehnung bzw. eine teilweise oder vollständige
Ruptur der kapsulären und ligamentären Gelenkstrukturen die Folge. In den meisten
Fällen ist der laterale Bandapparat des Sprunggelenks betroffen [6]. Unabhängig vom Schweregrad der initialen Verletzung entwickelt mindestens ein Drittel
aller Betroffenen langfristige Beschwerden und Funktionseinschränkungen [8], obwohl die akute klinische Symptomatik i. d. R. innerhalb weniger Tage bis Wochen
abklingt [7]. Hierfür wurde der Begriff der „chronischen Sprunggelenkinstabilität“ (engl. „chronic
ankle instability“) eingeführt [9]. Neben langfristig anhaltenden Beschwerden kommt es bei einer großen Zahl der Patienten
zu wiederholten Verletzungsepisoden [6], [10]. Das Risiko einer Wiederverletzung ist im Vergleich zu einer erstmaligen Distorsion
um das bis zu 5-Fache erhöht [3].
Da die Instabilität in vielen Fällen nicht auf eine mechanische Insuffizienz des Sprunggelenks,
also eine Gelenkbeweglichkeit über das normale physiologische Bewegungsausmaß hinaus,
zurückzuführen ist, wird häufig zwischen mechanischer und funktioneller Sprunggelenkinstabilität
unterschieden. Obwohl für die funktionelle Sprunggelenkinstabilität eine einheitliche
Begriffsdefinition bislang fehlt [11] werden darunter meist anhaltende Beschwerden (Funktionseinschränkung, Schmerz, Schwächegefühl)
und eine subjektiv wahrgenommene Instabilität am Sprunggelenk bei wiederholt auftretenden
Verletzungs- oder Umknickepisoden (engl. „giving way“) zusammengefasst. In der vorliegenden
Arbeit wird die funktionelle Sprunggelenkinstabilität verstanden als subjektiv empfundene
Instabilität am Sprunggelenk bei fehlender mechanischer Insuffizienz, welche mit Funktionseinschränkungen
und wiederholt auftretendem Umknicken einhergeht. Da mechanische Insuffizienzen meist
nur operativ behandelt werden können und in vielen Fällen nicht die Ursache der chronischen
Instabilität sind, stellen vor allem Studien zur Identifikation funktioneller Insuffizienzen
und zur Erforschung ihrer Genese einen Schwerpunkt sportmedizinischer Forschungsanstrengungen
dar. Die funktionelle Instabilität wird dabei vor allem mit Beeinträchtigungen des
sensomotorischen Systems in Verbindung gebracht [6], [12].
Evidenz sensomotorischer Defizite
Zur Einschätzung sensomotorischer Defizite bei funktioneller Sprunggelenkinstabilität
liegen zahlreiche Studien vor. [Abb. 1] zeigt das Spektrum der in der Literatur untersuchten Aspekte der sensomotorischen
Kontrolle [12]. Im Folgenden soll die Evidenz hinsichtlich dieser verschiedenen Dimensionen aufgearbeitet
und ihre Relevanz für die Entwicklung einer funktionellen Gelenkinstabilität diskutiert
werden.
Abb. 1 Spektrum sensomotorischer Messungen in Verbindung mit funktioneller Sprunggelenkinstabilität
(modifiziert nach Hertel [12]). ↔ = Einordnung der diagnostischen Verfahren auf dem Kontinuum zwischen der Erfassung
einzelner physiologischer Funktionssysteme (links) und der motorisch-funktionellen
Leistung (rechts).
Aufgrund der in der Literatur häufig synonymen Verwendung der Begriffe „funktionelle“
bzw. „chronische“ Sprunggelenkinstabilität [11] ist eine eindeutige Abgrenzung der verschiedenen Studien und Probandenkollektive
nicht in allen Fällen möglich. Daher wurden in der vorliegenden Literaturübersicht
alle Studien berücksichtigt, deren Stichprobencharakteristika den o. g. Kriterien
einer funktionellen Sprunggelenkinstabilität entsprechen.
Propriozeption
Die Propriozeption gehört zu den am intensivsten beforschten Komponenten der sensomotorischen
Kontrolle bei funktioneller Sprunggelenkinstabilität. Der Gelenkstellungssinn wird
dabei besonders häufig untersucht, zumeist operationalisiert über die aktive oder
passive Reproduktion bestimmter Gelenkstellungen (Winkelreproduktionstests). Daneben
zählen die Kinästhesie, erfasst durch Detektion langsamer passiver Gelenkbewegungen,
und der Kraftsinn, erhoben mittels Kraftreproduktionsaufgaben, zu den analysierten
Dimensionen der Propriozeption.
McKeon und McKeon [13] fassen in einer aktuellen Übersichtsarbeit 10 Studien metaanalytisch zusammen. Hierdurch
konnten moderate Einschränkungen (standardisierte Mittelwertdifferenz = 0,50, 95 %-Konfidenzintervall
0,36–0,64) des Gelenkstellungssinns bei funktioneller Sprunggelenkinstabilität nachgewiesen
werden. Dennoch bestehen aufgrund der Heterogenität der Studienpopulationen und der
niedrigen methodischen Qualität zahlreicher Studien Unsicherheiten bez. der Größe
und klinischen Bedeutsamkeit der Defizite [13], [14].
Die wenigen zur Einschätzung kinästhetischer Defizite verfügbaren Untersuchungen kommen
zu widersprüchlichen Ergebnissen. Refshauge et al. [15] konnten eine erhöhte Wahrnehmungsschwelle passiver Gelenkbewegungen bei Patienten
mit funktioneller Sprunggelenkinstabilität nachweisen. Die gleiche Autorengruppe fand
jedoch in 2 anderen Untersuchungen keine Unterschiede zu Personen mit stabilen Gelenken
[16], [17]. Weitere Studien stellten bei Probanden mit einseitiger Instabilität im Seitenvergleich
kinästhetische Defizite am instabilen Sprunggelenk fest [18], [19], während Hubbard und Kaminsky [20] keine Differenzen im Seitenvergleich verifizieren konnten.
Zur Untersuchung des Kraftsinns bei Patienten mit funktioneller Sprunggelenkinstabilität
liegen ebenfalls nur wenige Arbeiten vor [21], [22], [23], [24]. Diese konzentrieren sich auf Kraftreproduktionsaufgaben der Peronealmuskulatur.
Defizite konnten sowohl intraindividuell, also zwischen dem betroffenen und asymptomatischen
Gelenk [21], [22], als auch im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden [23], [24] nachgewiesen werden. Eine aussagekräftige Abschätzung der klinischen Bedeutsamkeit
dieser Ergebnisse ist aufgrund der geringen Datenlage jedoch kaum möglich. Weiterhin
fehlen bislang Untersuchungen an anderen Muskelgruppen des Sprunggelenks.
Posturale Kontrolle
Die am häufigsten untersuchte Zielgröße zur Beurteilung der Funktionsfähigkeit des
sensomotorischen Systems stellt die posturale Kontrolle dar. Der Großteil dieser Studien
misst hierzu die statische Haltungskontrolle im Einbeinstand, in jüngerer Vergangenheit
wurde vermehrt auch die dynamische posturale Kontrolle untersucht. Die Ergebnisse
dieser Forschungsarbeiten wurden in jüngerer Vergangenheit mehrfach metaanalytisch
zusammengefasst [14], [25], [26], [27]. Übereinstimmend wurden bei Personen mit funktioneller Sprunggelenkinstabilität
Beeinträchtigungen der statischen und dynamischen posturalen Kontrolle nachgewiesen,
die berichteten Effektstärken sind als klein bis moderat einzuschätzen (standardisierte
Mittelwertdifferenz 0,3–0,6). Defizite der statischen Haltungskontrolle treten besonders
unter erhöhten sensorischen Anforderungen (geschlossene Augen, instabiler Untergrund)
hervor [14]. Bislang besteht jedoch kein Konsens bez. der Messverfahren mit dem höchsten diagnostischen
Wert zur Identifikation von Defiziten der Haltungskontrolle [25], [28], [29].
Neuromuskuläre Kontrolle
Zur Einschätzung der Schutzfunktion der sprunggelenkstabilisierenden Muskulatur wird
häufig die Reflexaktivität der Mm. peroneus longus und brevis und des M. tibialis
anterior bei unvorhersehbarer Sprunggelenkinversion untersucht. Trotz des Vorliegens
einer beträchtlichen Anzahl an Studien konnte in aktuellen Metaanalysen kein eindeutiger
Nachweis für Defizite in der Reaktionszeit der Peronealmuskulatur erbracht werden
[14], [26].
Eine verminderte willkürliche Aktivierbarkeit der Sprunggelenkmuskulatur – auch als
arthrogene Muskelhemmung (engl. „arthrogenic muscle inhibition“) bezeichnet – bei
funktioneller Sprunggelenkinstabilität konnte in 2 Arbeiten belegt werden [30], [31]. Neben einer eingeschränkten Innervierbarkeit distaler Muskelgruppen (Mm. peronei)
wiesen Sedory et al. [32] auch eine Hemmung proximaler Muskeln (Mm. ischiocrurale) bei Personen mit funktioneller
Sprunggelenkinstabilität nach.
Kraftfähigkeiten
Die Kraftfähigkeiten der sprunggelenkumgebenden Muskulatur wurden vorwiegend in Sprunggelenkinversion
und -eversion untersucht. Zu den Zielgrößen gehören die isometrische, konzentrische
und exzentrische Maximalkraft sowie das Verhältnis der Kraftwerte von Evertoren zu
Invertoren. Trotz zahlreicher Untersuchungen ist die Datenlage hierzu bislang sehr
uneinheitlich, weshalb das Vorliegen von Kraftdefiziten in der Literatur bis heute
kontrovers diskutiert wird. Arnold et al. [33] fassen in ihrer Metaanalyse 12 Studien zu konzentrischen Kraftfähigkeiten der Mm. peronei
bei funktioneller Sprunggelenkinstabilität zusammen und belegen ein signifikantes
Kraftdefizit von jedoch kleiner Effektstärke (standardisierte Mittelwertdifferenz = 0,22;
95 %-Konfidenzintervall 0,12–0,33). Hiller et al. [14] stellen in ihrer Metaanalyse hingegen signifikante Effekte für die konzentrischen
Kraftfähigkeiten der Invertoren, nicht aber der Evertoren des Sprunggelenks fest.
Nur wenige Studien gehen auf die Kraft der Flexoren und Extensoren des Sprunggelenks
ein. Fox et al. [34] und Gribble et al. [35] konnten Defizite der Plantarflexoren des Sprunggelenks, nicht jedoch der Dorsalextensoren,
bestätigen.
Bewegungsmuster
Studien zur Untersuchung beeinträchtigter Bewegungsmuster bei funktioneller Sprunggelenkinstabilität
beinhalten zumeist kinematische Analysen des Sprunggelenks beim Gehen bzw. bei Sprunglandungen.
So konnten Spaulding et al. [36] während des initialen Fersenkontakts beim Gehen auf ebener Fläche eine erhöhte Plantarflexion
bei instabilen im Vergleich zu gesunden Sprunggelenken belegen. Außerdem wurde eine
erhöhte Inversion des Sprunggelenks kurz vor und während des Fußaufsatzes gezeigt
[37], [38]. Selbiges stellten Delahunt et al. [39] bei Personen mit funktioneller Sprunggelenkinstabilität auch zum Zeitpunkt des Bodenkontakts
bei Sprunglandungen fest. Caulfield und Garrett [40] konnten zudem eine erhöhte Dorsalextension am Sprunggelenk und eine erhöhte Knieflexion
direkt vor und nach einer einbeinigen Sprunglandung nachweisen.
Zusammenfassung
Eine zusammenfassende Darstellung der oben beschriebenen Studienlage ist in [Tab. 1] gegeben. Beeinträchtigungen konnten auf verschiedenen Ebenen des sensomotorischen
Systems festgestellt werden. Dennoch besteht Ungewissheit hinsichtlich der tatsächlichen
Existenz bzw. exakten Lokalisation und des Ausmaßes der Defizite.
Tab. 1 Sensomotorische Defizite bei funktioneller Sprunggelenkinstabilität.
Defizit
|
Assessment
|
Datenlage
|
↑↑↑ = Nachweis durch systematische Reviews oder Metaanalysen; ↑↑ = bestätigt durch
konsistente Ergebnisse mehrerer Studien; ↑ = wenige Studien mit jedoch konsistenten
Ergebnissen; ↔ = widersprüchliche Studienlage
|
Propriozeption
|
Gelenkstellungssinn
|
Winkelreproduktionstests (aktiv/passiv)
|
↑↑↑
|
Kinästhesie
|
Erkennung langsamer passiver Gelenkbewegungen
|
↔
|
Kraftsinn
|
Kraftreproduktionsaufgaben
|
↑
|
posturale Kontrolle
|
statisch
|
Posturografie im Einbeinstand
|
↑↑↑
|
dynamisch
|
Star Excursion Balance Test Time to Stabilization Dynamic Postural Stability Index Multiple Hop Test
|
↑↑↑
|
neuromuskuläre Kontrolle
|
Muskelreaktionszeit
|
Muskelaktivität bei plötzlicher Sprunggelenkinversion (Elektromyografie)
|
↔
|
arthrogene Muskelhemmung
|
H-Reflex-Messung
|
↑
|
Muskelkraft
|
Evertoren, Invertoren
|
isometrische, exzentrische und konzentrische Kraftmessungen
|
↔
|
Plantarflexoren, Dorsalextensoren
|
↔
|
Bewegungsmuster
|
Sprunggelenkkinematik
|
kinematische Bewegungsanalyse (u. a. Gang, Laufen, Sprunglandungen)
|
↑↑
|
Diskussion
Freeman und Kollegen [41] brachten die Ätiologie der funktionellen Instabilität des Sprunggelenks erstmals
mit Defiziten der sensomotorischen Kontrolle in Verbindung. Sie berücksichtigten dabei
ausschließlich Feedbackmechanismen und vermuteten die primäre Ursache in einer „Gelenk-Deafferenzierung“
[41], also einem reduzierten afferenten Input von Mechanorezeptoren bedingt durch strukturelle
Schädigung passiver Gelenkstrukturen. Das daraus resultierende „propriozeptive Defizit“
und die damit verbundene Störung der reflektorischen muskulären Gelenkkontrolle wurde
als Ursache wiederholter Instabilitätsmomente und Verletzungsepisoden postuliert [41]. Nachdem Freemans Theorie lange Jahre weitgehend unbestritten blieb, haben neuere
Erkenntnisse zu einer Erweiterung des Ursachenkomplexes geführt.
Die Bedeutung der Propriozeption
Zwar wurden Einschränkungen der Propriozeption im Rahmen aktueller messmethodischer
Möglichkeiten bei funktioneller Sprunggelenkinstabilität dargestellt [12], [13], was eine Beeinträchtigung von Mechanorezeptoren durch Kapsel-Band-Verletzungen
im Sprunggelenk vermuten lässt [12]. Allerdings ist die funktionelle Bedeutung des Verlusts dieser Gelenkafferenzen,
besonders bezogen auf reine Feedbackmechanismen, fraglich [42]. Dies untermauern Arbeiten, die bei lokaler Anästhesie des lateralen Bandapparats
bzw. des gesamten oberen Sprunggelenks keine negativen Effekte auf Muskelreflexaktivitäten
am Sprunggelenk oder die posturale Kontrolle feststellen konnten [43], [44]. Mechanorezeptoren in den Bänderstrukturen sind nur Teil eines Komplexes zahlreicher
Rezeptorpopulationen mit teilweise redundanter Funktionsweise. Eine Kompensation des
Verlusts von Rezeptoren ist daher wahrscheinlich [42]. Demzufolge würde die Schädigung von Gelenksensoren nicht zwingend in einer Beeinträchtigung
von Feedbackmechanismen resultieren, die an der Haltungskontrolle und reflektorischen
Muskelaktivierung beteiligt sind.
Spinale und supraspinale Mechanismen
Vielmehr werden veränderte Gelenkafferenzen als Ursache spinaler und supraspinaler
Reorganisationsprozesse vermutet [12]. Diese Annahme wird durch empirische Befunde gestützt, die bei Patienten mit funktioneller
Sprunggelenkinstabilität eine Hemmung der Alpha-Motoneuronen-Aktivierbarkeit proximaler
[32] und distaler [30], [31] Muskelgruppen der unteren Extremität darstellen. Weiterhin konnten Sefton et al.
[45] prä- und postsynaptische Modulationen spinaler Reflexe darstellen. Diese Ergebnisse
legen somit Adaptationen auf spinaler Ebene nahe.
Die Annahme einer verletzungsbedingten Reorganisation auf supraspinaler Ebene wird
von hier dargestellten Arbeiten gestützt, die Veränderung von Bewegungsmustern und
Muskelaktivierungsmustern bei Personen mit funktioneller Sprunggelenkinstabilität
nachweisen konnten [37], [39], [46]. Weiterhin spricht auch das Vorliegen bilateraler Defizite der sensomotorischen
Kontrolle bei einseitiger Sprunggelenkinstabilität für zentrale Reorganisationen [12], [27], [47]. Vergleichbare Befunde bei Patienten nach Ruptur des vorderen Kreuzbands stützen
ebenfalls die Annahme supraspinaler Adaptationsprozesse infolge einer Bänderverletzung.
So konnten beispielsweise Kapreli et al. [48] bei dieser Patientengruppe den Nachweis von Reorganisationen in mehreren Kortexarealen
erbringen.
Reorganisationsprozesse des sensomotorischen Systems
Gemeinsam sprechen die dargestellten Studienergebnisse für eine Störung multipler
Feedforward- und Feedbackprozesse auf verschiedenen Ebenen des sensomotorischen Systems.
Kapreli und Athanasopoulos [49] entwickelten am Beispiel der vorderen Kreuzbandruptur ein hypothetisches Modell
für verletzungsbedingte Reorganisationsprozesse des zentralen Nervensystems und die
daraus resultierende Genese einer funktionellen Gelenkinstabilität ([Abb. 2]).
Abb. 2 Hypothetische Entstehung der funktionellen Gelenkstabilität durch verletzungsbedingte
Feedback- und Feedforwardmechanismen (modifiziert nach [49]).
Sie postulieren, dass gestörte somatosensorische Informationen des betroffenen Gelenks
Reorganisationsprozesse im ZNS induzieren, welche langfristig zu einer Reduktion der
efferenten Kontrolle der gelenkstabilisierenden Muskulatur führen. Spezifisch verursachen
veränderte Gelenkafferenzen über das fusimotorische System eine Beeinträchtigung der
Muskelspindelaktivität, wodurch die situationsangepasste Stiffness-Regulation und
die Reflexaktivität der Muskulatur eingeschränkt sind. Aufgrund der verminderten Erregbarkeit
des Alpha-Motoneuronenpools der Gelenkmuskulatur, der reduzierten antizipatorischen
und der verzögerten reflektorischen Muskelaktivität verliert die Muskulatur ihre dynamische
Schutzfunktion. Modifizierte Bewegungsmuster und eine verschlechterte posturale Kontrolle
erhöhen zudem die Wahrscheinlichkeit ungünstiger Gelenkbelastungen und Fehlpositionierungen.
Gemeinsam bieten diese Mechanismen einen Erklärungsansatz für die reduzierte Funktionsfähigkeit,
die häufig auftretenden Instabilitätsmomente und die hohen Wiederverletzungsraten.
Schlussfolgerung
Die funktionelle Sprunggelenkinstabilität stellt ein komplexes Beschwerdebild dar,
welches sich in chronischen Veränderungen auf verschiedenen Ebenen des sensomotorischen
Systems manifestiert. Die Untersuchung der zugrunde liegenden Mechanismen und der
Bedeutung dieser bleibenden Reorganisationen für die Entwicklung von Instabilitäten
und wiederholten Verletzungsepisoden stellt eine Herausforderung für zukünftige Forschungsanstrengungen
dar. Aus praktischer Sicht sprechen die hier dargestellten Befunde für eine langfristige,
multimodale Therapie von Sprunggelenkverletzungen. Neben der Verbesserung der Gelenkfunktion
und Schmerzsituation stehen dabei vor allem die Verbesserung der Bewegungsqualität
und aktiven (muskulären) Gelenkstabilisierung im Vordergrund, was letztendlich repetitive
Verletzungsepisoden verhindern soll. Hierbei sind konservative Behandlungskonzepte
operativen Eingriffen vorzuziehen. Vor allem bewegungs- und physiotherapeutischen
Maßnahmen kommt dabei eine große Bedeutung zu. Häufig eingesetzte Therapiekonzepte
beinhalten Balanceübungen auf stabilen und instabilen Unterlagen, oft kombiniert mit
Krafttraining, Sprungübungen oder sportartspezifischen Übungsinhalten. Diese Programme
werden meist als sensomotorisches, propriozeptives oder auch neuromuskuläres Training
bezeichnet und ihre Wirksamkeit in der Rehabilitation von Sportverletzungen ist nachgewiesen
[50]. Für die Behandlung der funktionellen Sprunggelenkinstabilität gilt es, in zukünftigen
Arbeiten die wichtigsten Therapieinhalte und Trainingsmodalitäten (z. B. Dauer, Häufigkeit)
herauszuarbeiten.