Gesundheitswesen 2014; 76(11): 694-695
DOI: 10.1055/s-0034-1395557
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Personalisierte oder Personenzentrierte Medizin?

Ihre Synthese in einer Integrativen und Personalisierten Gesundheitsversorgung
E. Neugebauer
1   Lehrstuhl für Chirurgische Forschung, Institut für Forschung in der Operativen Medizin (IFOM), Fakultät für Gesundheit, Department für Humanmedizin, Universität Witten/Herdecke
,
P. Heusser
2   Gerhard Kienle Lehrstuhl für Medizintheorie, Integrative und Anthroposophische Medizin, Institut für Integrative Medizin, Fakultät für Gesundheit, Department für Humanmedizin, Universität Witten/Herdecke
› Author Affiliations
Further Information

Korrespondenzadresse

Univ.-Prof. Dr. Prof. h.c. Edmund A. M. Neugebauer
IFOM – Institut für Forschung in der Operativen Medizin
Lehrstuhl für Chirurgische Forschung, Fakultät für Gesundheit, Department für Humanmedizin
Universität Witten/Herdecke
Ostmerheimer Straße 200
51109 Köln

Publication History

Publication Date:
02 December 2014 (online)

 

Unter dem Titel des Editorials fand im Oktober 2013 ein 1 ½ tägiges interdisziplinäres Symposium an der Universität Witten/Herdecke (UW/H) statt. Das Symposium diente neben der vertieften Auseinandersetzung mit dem gewählten Forschungsschwerpunkt „Integrative und personalisierte Gesundheitsversorgung (IPGV)“ der Fakultät für Gesundheit [1], vor allem dazu, einen Beitrag zur intensiv geführten Debatte um die Verbesserung unseres Gesundheitssystems zu leisten, in der der Patient gegenwärtig nur noch eine Randerscheinung zu sein scheint.

Individualisierung ist eine wichtige Perspektive für die künftige Entwicklung des Gesundheitssystems, wobei es 2 stark kontrastierende, aber gleichermaßen wichtige Konzepte von Individualisierung in der Medizin gibt, die bisher jedoch noch kaum miteinander in Diskurs gebracht worden sind:

  1. Die „personalisierte“ oder „individualisierte“ Medizin fokussiert auf individuelle genetische und molekulare Marker, um die Gesundheitsversorgung zu verbessern, indem bei Diagnose, Therapie und Prävention die molekularen und biologischen Besonderheiten von Individuen zunehmend berücksichtigt werden können. Personalisierte Medizin wird vor allem von der Industrie und von einigen akademischen Forschungszentren vorangetrieben.

  2. Die „personenzentrierte“ und in diesem Sinn ebenfalls „individualisierte“ Medizin versucht, bei Diagnose, Therapie und Prävention die ganze Person ins Auge zu fassen, d. h. unter Berücksichtigung von physischen, psychologischen, sozialen, spirituellen und anderen Aspekten von Individuen. Sie wird mehrheitlich in psycho-sozialen, komplementären und integrativen Richtungen der Medizin praktiziert und entspricht den häufig artikulierten Bedürfnissen von Patienten nach ganzheitlicheren Formen der Medizin.

Im Gesundheitsforschungsprogamm der Bundesregierung ist personalisierte Medizin ein sog. Aktionsfeld neben anderen, wie der Erforschung von Volkskrankheiten durch den Aufbau von Zentren der Gesundheitsforschung Demenz, (DZNE) Krebszentrum, Diabetes, Herz-Kreislauf, Sepsis oder der Versorgungsforschung. Hier heißt es ganz zu Beginn: „Das Verständnis grundlegender Krankheitsmechanismen wächst, eine auf die individuellen Bedürfnisse und Voraussetzungen zugeschnittene Medizin wird greifbar“. Aus den weiteren Ausführungen inklusive einer Videoeinspielung wird deutlich, dass hier ausschließlich ein Verständnis im Sinne der Version 1 vorliegt [2].

Gefördert wird die kooperative Zusammenarbeit der Akteure entlang der Wertschöpfungskette mit dem Ziel ist, Innovationen zu befördern und die Translation zu beschleunigen, um individualisierte Diagnostik- und Therapieverfahren zügig in die Anwendung zu bringen.

Die unbedingt notwendige „personenzentrierte“ und in diesem Sinn ebenfalls „individualisierte“ Medizin bleibt auf der Strecke. Im Sinne einer humanistischen Bedeutung muss auch der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Menschen als Personen nicht nur durch molekularbiologische Varianten verstanden werden können und wollen, sondern umfassender als Individuen im Gesamtzusammenhang ihrer biologischen, psychologischen, geistigen, sozialen, ökonomischen, kulturellen und spirituellen Dimensionen [1]

Wir brauchen deshalb einen breiten gesellschaftlichen Dialog, an dem sich alle Versicherte, Patienten, Forscher, Ärzte, Pflege und andere Gesundheitsberufe bis hin zu den Unternehmen beteiligen. Die in diesem Heft ausgewählten Beiträge des Symposiums sollen dazu einen Beitrag leisten.

Der Beitrag von Kettner [3] stellt die ethische und kommunikative Bedeutung der „personalisierten Medizin“ heraus. Er zeigt dabei methodische Möglichkeiten auf, wie ethische Wertkonflikte, wie sie mit der Durchsetzung der personalisierten Medizin einhergehen, analysiert werden können. Nicht nachvollziehbar ist danach, wie wenig unternommen wird, um die angeblichen Hauptnutznießer der personalisierten Medizin, die Bürger als potentielle Patienten, zu Wort kommen zu lassen. Mit dem heiklen Thema der Bestimmung von Kriterien für eine ethisch angemessene Priorisierung individualisierter Therapiemaßnahmen und den Herausforderungen bei der Anwendung befasst sich der Beitrag Schleidgen und Marckmann aus dem Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der LMU München [4]

Ein Beitrag von Studierenden zusammen mit einer Patientin [5] macht deutlich, wie der Patient sich selbst erlebt – ängstlich, fremdbestimmt, umgeben von undurchschaubaren Strukturen und an der Fachsprache der Ärzte scheiternd. Das macht ihn passiv und unfähig, die höchst persönlichen Angelegenheiten seiner Gesundheit verantwortungsvoll mit zu gestalten.

Aktuelle Aspekte der personalisierten Medizin aus Sicht einer gesetzlichen Krankenkasse und die Herausforderungen bezogen auf das Versicherungssystem, werden von Schoch und Würdemann von der TK beleuchtet [6]. Dabei wird als die wohl größte Herausforderung die Frage gestellt, ob sich das System der solidarischen Krankenversicherung unter dem Einfluss der personalisierten/stratifizierenden Medizin verändern wird? Aus der Perspektive des Gesundheitssystems wird von Geraedts [7] festgehalten, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine integrative und personenzentrierte und für das System belegter maßen vorteilhafte Gesundheitsversorgung zum Teil geschaffen wurden, deren breitflächige Implementierung jedoch noch ausstehe.

Resümierend bleibt derzeit festzuhalten, dass wir den begonnenen Diskurs fortsetzen müssen, um am Ende zu einer Balance der unterschiedlichen Interessen zum Wohle für die Patienten zu kommen.


#
Zoom Image

Univ.-Prof. Dr. Prof. h.c. Edmund A. M. Neugebauer

Zoom Image

Univ.-Prof. Dr. med. Peter Heusser, MME (UniBe)

  • Literatur

  • 1 Heusser P, Neugebauer E, Berger B et al. Integrative und personalisierte Gesundheitsversorgung – Forderungen für ein zeitgemäßes Gesundheitssystem. Gesundheitswesen 2013; 75: 151-154
  • 2 http://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/aktionsfeld-2-individualisierte-medizin.php
  • 3 Kettner M. Ethische und kommunikative Bedeutung der „personalisierten Medizin“. Gesundheitswesen 2014; 76
  • 4 Schleidgen S, Marckmann G. Kriterien für eine ethisch angemessene Priorisierung individualisierter Therapiemaßnahmen. Gesundheitswesen 2014; 76
  • 5 Engelbrecht C, Schlösser C, Schütt C et al. „Wer bietet Übersetzung an, wenn man mich nicht verstehen kann?“ oder von der Kunst, ein ärztliches Gespräch zu führen. Gesundheitswesen 2014; 76
  • 6 Schoch G, Würdemann E. Herausforderungen einer integrativen und personalisierten Gesundheitsversorgung für die Gesundheitsökonomie und das Versicherungssystem. Gesundheitswesen 2014; 76
  • 7 Geraedts M. Integrative und personenzentrierte Gesundheitsversorgung aus der Perspektive des Gesundheitssystems. Gesundheitswesend 2014; 76

Korrespondenzadresse

Univ.-Prof. Dr. Prof. h.c. Edmund A. M. Neugebauer
IFOM – Institut für Forschung in der Operativen Medizin
Lehrstuhl für Chirurgische Forschung, Fakultät für Gesundheit, Department für Humanmedizin
Universität Witten/Herdecke
Ostmerheimer Straße 200
51109 Köln

  • Literatur

  • 1 Heusser P, Neugebauer E, Berger B et al. Integrative und personalisierte Gesundheitsversorgung – Forderungen für ein zeitgemäßes Gesundheitssystem. Gesundheitswesen 2013; 75: 151-154
  • 2 http://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/aktionsfeld-2-individualisierte-medizin.php
  • 3 Kettner M. Ethische und kommunikative Bedeutung der „personalisierten Medizin“. Gesundheitswesen 2014; 76
  • 4 Schleidgen S, Marckmann G. Kriterien für eine ethisch angemessene Priorisierung individualisierter Therapiemaßnahmen. Gesundheitswesen 2014; 76
  • 5 Engelbrecht C, Schlösser C, Schütt C et al. „Wer bietet Übersetzung an, wenn man mich nicht verstehen kann?“ oder von der Kunst, ein ärztliches Gespräch zu führen. Gesundheitswesen 2014; 76
  • 6 Schoch G, Würdemann E. Herausforderungen einer integrativen und personalisierten Gesundheitsversorgung für die Gesundheitsökonomie und das Versicherungssystem. Gesundheitswesen 2014; 76
  • 7 Geraedts M. Integrative und personenzentrierte Gesundheitsversorgung aus der Perspektive des Gesundheitssystems. Gesundheitswesend 2014; 76

Zoom Image
Zoom Image