Die Götter wissen, wo sie treffen müssen, wenn sie dich treffen wollen – so hat Leon
Fleisher vor Jahren schon seine Geschichte resümiert, den dunklen Teil davon. Die
Musiker-Dystonie - für den Laien selten und unbekannt, doch für den Profimusiker oftmals
mit fatalen Folgen verbunden. Was ist das eigentlich?
Leon Fleisher, geboren 1928 in San Francisco, ist 4 Jahre alt, als er mit dem Klavierspielen
beginnt. Mit 16 debütiert er mit den New Yorker Philharmonikern unter Pierre Monteux,
der ihn „den pianistischen Fund des Jahrhunderts“ nennt. 1959 bis 1961 spielt der
Schnabel-Schüler die Beethovenschen Klavierkonzerte mit dem Cleveland Orchestra unter
dem gestrengen George Szell ein. Wunderbar, Referenzaufnahmen, ebenso wie die von
Brahms 2., der Konzerte von Schumann und Grieg …
Fleisher bereitet 1964 eine Tournee nach Russland vor, muss wegen einer kleinen Schnittverletzung
am Daumen genäht werden, und merkt, dass etwas nicht stimmt. Binnen 10 Monaten krümmen
sich der 4. und 5., alias Ring- und kleiner Finger der rechten Hand, versagen beim
Spielen zunehmend ihren Dienst. 1965 ist Schluss: „Szell kam zu mir und sagte, es
geht nicht mehr, du musst zuhause bleiben.“ (Siehe „Film-Doku Two Hands", Info im
Anhang). Was sein Leben seit dem 4. Lebensjahr ausmachte, geht nicht mehr. Fleishers
Ehe geht in die Brüche. Jahre später berichtet er, sich mit Suizidabsichten getragen
zu haben. Und doch rappelt er sich auf, erarbeitet sich das Repertoire für die linke
Hand, dirigiert und arbeitet als Lehrer. Zu seiner Krankheit haben die Ärzte jahrelang
keine Idee. Erst Mitte der 1990er Jahre bekommt sie einen Namen: Fokale Dystonie,
eine Musiker-Dystonie.
(Bild: Fotolia; Fotograf: GeoM.)
Nicht nur Pianisten betroffen
Etwa einer von 100 Profimusikern ist betroffen, schätzt Eckart Altenmüller von der
Hochschule für Musik, Theater und Medien (HMTM) Hannover. Neben Fleisher sind auch
die Pianisten Gary Graffman und Michel Beroff, in frühere Zeiten Robert Schumann und
auch Glenn Gould prominente Opfer. Aber auch Gitarrenund Geigenspieler oder Bläser
kann es treffen, letztere nicht nur in den Fingern, sondern auch als Probleme beim
Ansatz ihres Instruments mit dem Mund - die sogenannte Bläserdystonie. Kennzeichen
aller Dystonien ist der angeborene oder später im Leben eintretende Verlust der freien
Bewegungsfähigkeit einzelner Gliedmaßen oder kompletter Körperregionen. Allerdings
kaschieren selbst aktuelle Reviews mit all ihren Versuchen, die vielen Formen und
Manifestationen von Dystonien, oft nur mühsam das nach wie vor mangelhafte Verständnis
der Ursachen dieser Krankheit, oder womöglich Krankheiten. An die 30 genetische Mutationen
können Risikofaktor sein. Manche Formen sind angeboren, andere manifestieren sich
spät im Leben. Selbst unter den fokalen Dystonien, die nur manche Gliedmaßen und Muskelpartien
betreffen, gibt es enorme Unterschiede. Eine Musiker-Dystonie wird erst durch das
Einstudieren hochrepetitiver, komplexer Bewegungsmuster ausgelöst. Der Lidkrampf (Blepharospasmus)
hingegen quält die Betroffenen ohne jegliches aktives Hinzutun.
Fehlerhafte Verschaltungen im Gehirn
Die Ursache der Erkrankungen steckt immer im Gehirn. Frühere Hypothesen, dass Fehlverarbeitungen
in ganz bestimmten Regionen – im Fokus standen schon Basalganglien, Kleinhirn oder
Cortexregionen. Die Ursache sind, greifen zu kurz. Auch bei der Musiker-Dystonie ist
offenkundig ein ganzes Netzwerk an fehlerhaft schaltenden Hirnregionen schuld an der
paradoxen Blockade einst perfekt beherrschter Bewegungsabläufe.
Die Therapie der Musiker-Dystonie hat in den letzten Jahren Fortschritte gemacht,
Heilung gibt es nicht. Behandlungsoptionen sind:
-
Injektionen mit Botulinumtoxin in die verkrampften Muskelpartien
-
Spezielle Massagetechniken
-
Medikamente wie Trihexyphenidyl, ein Anticholinergikum
-
Hirnchirurgie. Eine Lobotomie in speziellen Regionen des Thalamus, angeboten zumindest
von einer japanischen Forschergruppe. In Deutschland sind einige wenige Patienten
in jüngerer Zeit mit Deep Brain Stimulation über implantierte Elektroden behandelt
worden.
Spezielle Trainingsübungen
Die Gruppe um Altenmüller berichtet jetzt neu von exzeptionellen Erfolgen mit einem
Verfahren, das simple Fingerübungen mit einer speziellen Gehirnstimulation kombiniert
(Siehe das nachfolgende Interview und [
1
]) . Die von einer ganzen Reihe an Gruppen in den letzten Jahren generierte Annahme
lautet: Musiker-Dystonien sind Maladaptationen somatosensorischer und motorischer
Areale in der Großhirnrinde, im Neocortex – eine womöglich unbewusst erlernte Fehlverarbeitung
der Tastreize, die zum Beispiel die Finger eines Pianisten bei jeder Etüde ständig
ins Gehirn funken. Die Folge ist wiederum eine falsche Ansteuerung der gleichen Finger.
Es gibt gewisse Belege für diese These:
Kaum Langzeitdaten vorhanden
1995 fand eine Gruppe um Thomas Elbert, heute an der Universität Konstanz, dass die
Fingerareale im der linken Hand somatosensorischen Cortex bei Geigenspielern umso
größer sind, je später im Leben sie ihre Übungstätigkeit aufgenommen haben [
2
] . Eine Reihe an Studien zeigt Korrelationen zwischen dem Schweregrad einer ähnlichen
Dystonie, dem Schreibkrampf, und dem Grad der Überlappung jener Areale im Cortex,
die just die betroffenen Finger repräsentieren und steuern [
3
]. Beim Gesunden sollten die Areale zumindest nach Meinung mancher Forscher klar separiert
sein. 2005 lieferte eine Gruppe um Victor Candia, der heute an der ETH-Zürich forscht,
Hinweise, dass sich die Fehlrepräsentationen der betroffenen Finger im Gehirn unter
einem speziell entwickelten Training, dem sensorisch-motorischen Retuning, in dem
Maße normalisieren, wie auch die Symptome durch das Training gelindert werden [
4
] . Der Haken aller Studien: Sie umfassen nur geringe Patientenzahlen und oft sind
Langzeitdaten zu Therapieerfolgen – wenn überhaupt erhoben – doch wieder enttäuschend.
Auch der neue Hannoveraner Ansatz muss erst noch Langzeitdaten liefern.
Leon Fleischer, mittlerweile 86, konzertiert hingegen immer noch. Und seit einigen
Jahren auch wieder mit beiden Händen. Botox-Injektionen und eine spezielle Massageform,
Rolfing, haben die Spielfertigkeit in der rechten Hand regeneriert – zumindest ein
gutes Stück weit, wie manch Aufnahme zeigt.
BE