Klinische Neurophysiologie 2015; 46(01): 54
DOI: 10.1055/s-0034-1394441
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Medizin ohne Maß?

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Publication Date:
06 March 2015 (online)

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Der Titel ist Programm: Der renommierte Freiburger Medizinethiker Giovanni Maio beschreibt eloquent ein Reihe von Entwicklungen in Medizin und Gesundheitswesen und zeigt auf, welche problematischen Konsequenzen daraus für die Gesellschaft, für einzelne Betroffene, aber eben auch für die im Gesundheitswesen Tätigen resultieren. Aus neurologischer Sicht besonders relevant erscheinen die Kapitel über medizinisches Enhancement (Optimierungsstreben gemäß dem Motto „immer schöner, besser, leistungsfähiger“), über Wert und Bedeutung von Alter (mit allen damit verbundenen Limitationen), über eine neue Sterbekultur („Loslassenkönnen“) und über die Balance zwischen einer Gesundheitspflicht einerseits und einem Maßhalten-Können andererseits. Maio argumentiert dabei immer an der Grenze zwischen einem fatalistischen Annehmen des gesundheitlichen Schicksals (das er ablehnt) und einem medizinisch propagierten Machbarkeitswahn (den er fürchtet).

Maio wünscht sich eine Medizin, die „selbst Rückgrat hat und sich nicht für jedwedes Ziel einer ökonomisierten Leistungsgesellschaft hergibt“; in der Kranke wieder als Hilfsbedürftige betrachtet und nicht aufgrund übersteigerter Forderungen an die individuelle Gesundheitsverantwortung als Schuldig-Gewordene an ihrer eigenen Gesundheit entlarvt werden; die Gesundheit auch im „kreativen Umgang mit seiner eigenen Begrenztheit“ erkennt; die Patientenautonomie nicht nur einfordert, sondern durch Unterstützung und Beratung überhaupt erst ermöglicht; die Alter nicht als „Schwundstufe des Humanums“ abqualifiziert, und die das Sterben als eigenständige Lebensphase anerkennt, ohne die „Machbarkeit“ des Todes durch Angebote der Euthanasie zu befördern. Maio definiert individuelles Leid als das Erleben, dass die eigenen Vorstellungen eines guten Lebens nicht erreicht werden. Wenn Medizin also Leid lindern möchte, sollte sie Angebote schaffen, diese Einstellungen über gelingendes Leben und Sterben zu überdenken. Wer Leid und Sterben zu ‚überwältigen‘ versucht, verhindert gleichzeitig, dass der Patient sie zu ‚bewältigen‘ lernt.

Die Lektüre des Buches trägt zu einer vertieften Nachdenklichkeit über Sinn und Bedeutung von Medizin und zu einer Selbstbesinnung auf das eigene Tun bei. Die Leserschaft soll dadurch befähigt werden, die Entwicklungen im eigenen Arbeitsbereich kritisch zu bewerten und dann konstruktiv zu begleiten.

Gerald Neitzke, Hannover