Aktuelle Dermatologie 2015; 41(08/09): 323-325
DOI: 10.1055/s-0034-1392777
Eine Klinik im Blickpunkt
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Evidenz, evidenzbasiert und Evidenzbasierte Versorgungsforschung

Evidence, Evidence-Based and Evidence-Based Health Services Research
T. Weberschock
1   Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie, Universitätsklinikum Frankfurt, Frankfurt/Main
2   Arbeitsgruppe EbM Frankfurt, Institut für Allgemeinmedizin, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt/Main
› Author Affiliations
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Korrespondenzadresse

PD Dr. Tobias Weberschock, MSc (Epi)
Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie
Universitätsklinikum Frankfurt
Theodor-Stern-Kai 7
60590 Frankfurt

Publication History

Publication Date:
27 August 2015 (online)

 

Zusammenfassung

Die Nutzung der bestverfügbaren Evidenz im Sinne der Evidenzbasierten Medizin ist längst kein rein ärztliches Thema mehr. Andere Professionen haben diese Prinzipien längst übernommen und es werden Gesundheitssystementscheidungen auf dieser Basis getroffen. Die Evidenzbasierte dermatologische Versorgungsforschung ist damit ein unverzichtbarer Teil dermatologischer Forschung geworden, nicht zuletzt weil übergeordnet die Versorgungsforschung in der Politik und der Forschungslandschaft allgemein an Beachtung gewinnt. Über den aktuellen Stand hinaus ist es daher notwendig, diese weiter in der Dermatologie zu etablieren und gezielt zu fördern.


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Abstract

The use of the best available evidence in the sense of Evidence-Based Medicine is no longer a medical issue only. Other professions adopted the principles long ago and health care decisions are made on this basis. The Evidence-Based Health Services Research is an essential part of dermatological research, not least because Health Services Research is increasingly receiving attention in politics and research. Beyond the current status there is need of establishing and promoting this further within dermatology.


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Begriffe wie „Evidenz“ und „evidenzbasiert“ tauchen heutzutage zunehmend in Publikationen, auf Kongressen und in Fortbildungen auf. Die genaue Unterscheidung und die Bedeutung der Worte scheinen jedoch nicht immer ganz klar. Das gibt Anlass zu Diskussionen und Missverständnissen. Selbst wenn zur Klärung im Duden nachgeschlagen wird, trägt dies nicht unbedingt zum tieferen Verständnis bei. So wird dort unter dem Begriff „Evidenz“ primär die „unmittelbare und vollständige Einsichtigkeit, Deutlichkeit, Gewissheit“ beschrieben, während dies im medizinischen Kontext als „empirisch erbrachter Nachweis der Wirksamkeit eines Präparats“ definiert wird [1]. Dies sind komplett gegenläufige Beschreibungen der Bedeutung des gleichen Wortes und beide treffen die Nutzung der Worte nicht ausreichend, sodass dies zunächst einer Aufklärung bedarf.

Klar wird die Definition der Evidenz und der Evidenzbasierung über die Handlungsmethodik, die den Begriff überhaupt geprägt hat, die Evidenzbasierte Medizin: „Evidenzbasierte Medizin (EbM = beweisgestützte Medizin) ist demnach der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten“ [2] [3]. Während Evidenz in der EbM demnach einfach im Sinne eines Belegs für bestimmte medizinische Sachverhalte verstanden werden kann, bedeutet das Wort evidenzbasiert mehr. Der Begriff bezieht sich auf die gegenwärtig beste verfügbare Evidenz, die möglichst auf Grundlage valider Studien aus der klinischen Forschung zustande gekommen ist. Da zunächst auf Grundlage des Studientyps eine hierarchische Einordnung der Evidenz durch die Oxford Levels of Evidence geschehen ist ([Tab. 1]), wird der EbM auch fälschlicherweise die randomisiert-kontrollierte Studie (RCT) als alleinig gültige Instanz zugeschrieben. Dies ist in der realen Behandlungssituation allerdings nur dann gültig, wenn auch eine adäquate RCT verfügbar ist. Existiert eine solche nicht, werden selbstverständlich auch weniger rigoros durchgeführte Untersuchungen in die Überlegungen im Sinne einer Evidenzhierarchie einbezogen. Schließlich ist es dabei in der konkreten Behandlungssituation immer wieder so, dass man als Ärztin oder Arzt mit dem Expertenwissen in der Evidenzhierarchie den bestverfügbaren Evidenzlevel darstellt.

Tab. 1

Oxford Levels of Evidence 2009 für therapeutische Fragestellungen (www.cebm.net; übersetzt aus dem Englischen).

Level of Evidence

Beschreibung

1a

systematische Übersichtsarbeit oder Meta-Analyse über randomisiert-kontrollierte Studien

1b

einzelne randomisiert-kontrollierte Studie

1c

alle oder keiner[1]

2a

systematische Übersichtsarbeit oder Meta-Analyse über Kohortenstudien

2b

einzelne Kohortenstudie

2c

ökologische Studien/Versorgungsforschung[2]

3a

systematische Übersichtsarbeit über Fall-Kontroll-Studien

3b

einzelne Fall-Kontroll-Studie

4

Fallserie

5

Expertenmeinung

1 sogenannte absolute Effekte


2 im herkömmlichen Sinne


Die Prinzipien der Evidenzbasierung und der Evidenzhierarchie sind für viele Bereiche adaptiert worden. Neben der Übernahme durch andere praktisch tätige Professionen, unter anderem als Evidenzbasierte Zahnmedizin oder als Evidenzbasierte Pflege, ist der Bereich der Evidenzbasierten Gesundheitsversorgung und das zugehörige Forschungsgebiet der Versorgungsforschung für alle Professionen im Gesundheitswesen übergeordnet wichtig, da es um Entscheidungen zur Steuerung des Gesundheitssystems geht [3]. Dabei steht, oft medienwirksam, die evidenzbasierte Behandlung individueller Patienten in den praktisch professionsbezogenen Ansätzen kontrovers der evidenzbasierten Versorgung von Gruppen von Patienten oder der Bevölkerung in den Systemansätzen gegenüber. Diese Kontroverse wird teilweise durch eine etwas unterschiedliche Art der Evidenzbasierung erklärbar. Während die klinische Forschung die primäre Evidenzquelle im professionsbezogenen Ansatz ist, beschreibt die Versorgungsforschung als fachübergreifendes Forschungsgebiet die Kranken- und Gesundheitsversorgung und ihre Rahmenbedingungen. Dabei erklärt sie diese kausal und trägt zur Entwicklung neuer und wissenschaftlich fundierter Versorgungskonzepte bei, erforscht diese begleitend und evaluiert die Wirksamkeit von Versorgungsstrukturen und -Prozessen unter Alltagsbedingungen [4]. Die klinische Forschung sucht also vereinfacht die Wirksamkeit unter Idealbedingungen (efficacy) im Kontext des individuellen Patienten, während die Versorgungsforschung die Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen (effectiveness) im Systemkontext untersucht. Neuerdings löst sich die klare Trennung der beiden Forschungsbereiche auf, da erkannt wurde, dass die Konzepte der Evidenzbasierung und der Evidenzhierarchie mit kontrollierten Studien als bester Evidenz auch im Systemforschungsansatz als dann sogenannte Evidenzbasierte Versorgungsforschung hilfreich sind [5].

Die Evidenzbasierte Versorgungsforschung nutzt damit die methodischen Prinzipien der EbM, um ihren beschriebenen Forschungsaufgaben im Gesundheitssystem nachzukommen. Die Herausforderung der Evidenzbasierten Versorgungsforschung besteht bei der Komplexität des Gesundheitssystems darin, über valide Forschung zu glaubhaften Aussagen zu kommen. Neben den beteiligten Patienten und Gesundheitsprofessionen sind die verfügbaren Ressourcen die Parameter, die in das System eingebracht werden. Die erbrachte Gesundheitsleistung und deren Kontext spiegelt sich dann als Versorgungsleistung wider, welche letztlich zu einer Wirkung oder einem Ergebnis führt [4]. All diese Teile können schließlich auf der Ebene der Patienten, der Dienstleister oder der Entscheidungsträger betrachtet und evaluiert werden. Zusätzlich sind internationale Forschungsergebnisse zu diesen Fragestellungen nur mit großem Vorbehalt auf das eigene, deutsche Gesundheitssystem übertragbar, was Entscheidungen auf bester Evidenz weiter erschwert, obwohl dies dringend angebracht wäre.

Die Bundesregierung hat die besondere Bedeutung der Versorgungsforschung im Gesundheitssystem erkannt und fördert diese im Rahmen des am 11. Juni vom Bundestag verabschiedeten Versorgungsstärkungsgesetzes. Im Rahmen des Innovationsfonds werden über 4 Jahre insgesamt 75 Millionen Euro für eine Versorgungsforschung bereitgestellt, die auf einen Erkenntnisgewinn zur Verbesserung der bestehenden Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgerichtet ist [6].

In jüngster Zeit werden hitzig Diskussionen u. a. zum Nutzen des Hautkrebsscreenings, der Anerkennung des UV-bedingten Hautkrebses als Berufskrankheit oder der fraglichen Ersatzregelung für topische Dermatika durch die Apotheke geführt. Daher ist einleuchtend, dass eine gut in der Dermatologie etablierte Evidenzbasierte Versorgungsforschung mit dem Ziel der besten Evidenz zur objektiven Entscheidungsfindung unabdingbar ist. Umso mehr als insbesondere Hauterkrankungen in ihrer Schwere und Beeinträchtigung meist für die Patienten nicht über einfache Maßzahlen wie die Mortalität zu erfassen sind. Vielmehr benötigen diese einen genauen Blick auf deren Einfluss auf das allgemeine Wohlbefinden, die Erwerbsfähigkeit, die patienteneigene Körperwahrnehmung und die Bedeutung der Hauterkrankung im sozialen Umfeld. Das Aufarbeiten patientenrelevanter Endpunkte ist dabei ein zentraler Aspekt sowohl in der klinischen Forschung als auch in der Evidenzbasierten Versorgungsforschung. Diesen aktuellen und zukünftigen Aufgaben haben sich mehrere dermatologische Forschungsstandpunkte in Deutschland angenommen [7]. In diesem Kontext existieren zur Zeit in Deutschland 20 dermatologische Register für Hauterkrankungen zur Schaffung einer Datenbasis und weiteren Forschung, in die jede Hautärztin und jeder Hautarzt passende Patienten aufnehmen kann. Eine Auflistung mit kurzer Aufwandsbeschreibung und Vergütungshinweisen findet sich auf der Homepage der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft e. V. unter dem Stichpunkt „für Ärzte“. Nachwuchswissenschaftler für die dermatologische Versorgungsforschung werden aktuell durch die „Deutsche Stiftung Dermatologie“ mit Stipendien gefördert [8].


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Interessenkonflikt

T. Weberschock hat in den letzten 3 Jahren Forschungsförderungen durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e. V. erhalten, außerdem Honorare für Vorträge der Deutschen Krebsgesellschaft e. V. und für IQWIG- und MDS-Gutachten.


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PD Dr. Tobias Weberschock, MSc (Epi)
Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie
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